DJ Tanith über Subkultur

»Die Tanzfläche ist ein Ort der Katharsis«

Seit den späten 80er Jahren ist DJ Tanith eine zentrale Figur des Berliner Nachtlebens. Regelmäßig legte er im »Tresor« und »Walfisch« auf. Mit der Jungle World sprach DJ Tanith über Techno und Hedonismus vor und während Covid-19.
Interview Von

DJ Tanith, 58, gehört seit den späten achtziger Jahren zu den zentralen Figuren des Berliner Nachtlebens. Er legte im »Ufo« auf, einem der ersten Clubs in Westberlin, in denen noch vor der Wende elektronische Musik gespielt wurde, sowie regelmäßig im »Tresor« und im »Walfisch«, einem der ersten After-Hour-Läden, in denen bis weit in den nächsten Tag getanzt wurde. Bei der Love Parade 1994 schmückte die Außenhülle eines ausgemustertern sowjetischen Panzers seinen Lastwagen. Taniths Kennzeichen war, dass er stets Camouflage-Kleidung trug. In seinen Augen wurzelt Techno im Ethos des Punk, eine Berliner Underground-Haltung, die gut gealtert ist. Zuletzt spielte er regelmäßig mit seinem Kollegen Wolle XDP im »Suicide« in Friedrichshain. Außerdem macht er die Radiosendung »TNT« auf Flux FM.

Vor einigen Jahren ist Tanith mit seiner Familie nach Berlin-Karow, an den Stadtrand, gezogen. Vor dem Interview spricht er über Elektrofahr­räder (Tanith hat sich gerade ein neues gekauft). Seit er nicht mehr mit Platten auflegt, fährt er am liebsten mit dem Rad zu seinen Gigs. Wir setzen uns vor das Reihenhaus, in dem er wohnt. Taniths Haare sind grau, er trägt wieder einmal eine kurze Camouflage-Hose und dazu ein T-Shirt der Dark-Wave-Band Bauhaus. Es ist ein Spätsommerabend, rasch wird es dunkel, ein paar Mal krabbeln Igel vorbei, einmal zeigt sich auch ein Fuchs. »Wir kennen uns«, sagt Tanith, als dieser fast auf Streichelnähe herankommt.

 

Tanith, seit über 30 Jahren legen Sie auf. Seit März sind alle Clubs geschlossen, ein Ende ist nicht abzusehen. Wovon leben Sie jetzt eigentlich?

Grundsätzlich brauche ich nicht viel Geld. Ich lebe zur Miete, meine Frau und ich haben Kinder. Das war’s. Das meiste, was ich brauche, habe ich mir im Laufe der Jahre schon gekauft. Dann hatte ich etwas gespart. Und ich habe kurz vor dem Ausbruch der Pandemie etwas geerbt. Eigentlich sollte das eine Sicherheit bleiben, aber gut: Jetzt geht es halt für das Überleben in unsicheren Zeiten drauf.


Und Sie sind in der Zwangspause?

Ehrlich gesagt: Zu Beginn fand ich das gar nicht schlecht, dass mal Ruhe ist. Ich bin seit über 30 Jahren dabei. Da ist man manchmal wirklich ausgepowert. Ich habe den Aufstieg und Fall von Rave in den neunziger Jahren gesehen, habe beobachtet, wie in den vergangenen Jahren diese Business-Techno-Welt immer größer und mächtiger geworden ist. Wo ich nicht so richtig drin bin und das auch nicht will. Da dachte ich, dass es vielleicht ein ganz guter Augenblick für ein Sabbatical wäre.


Coronaferien, wie die Kinder sagen.

Genau! Ich hatte gerade angefangen, ein Haus zu bauen, die Geburt meiner Tochter stand bevor. Da wollte ich eh nicht jedes Wochenende unterwegs sein. Für mich war das zunächst ein Glücksfall, dass das ganze Nachtleben stillgelegt wurde.

»Man kann nicht erwarten, dass im Club auf Abstandsregeln geachtet wird. Das wäre eine theoretische Feier.«

Nun gehen die Coronaferien schon ganz schön lange. Und sie bedrohen eine ganze Kultur.

Ja, ich habe da Glück. Die meisten meiner Freunde und Kollegen sind in einer sehr viel schlechteren Situation als ich. Für viele ist eine Welt zusammengebrochen. Die stehen jetzt vor dem Nichts. Zuerst wurde uns ja versprochen: »Jedem wird geholfen! Niemand wird alleingelassen!« Sehr viele Leute haben sich darauf verlassen. Und dann stellte sich heraus, dass das alles hohle Versprechen waren. Hier in Berlin ging es noch mit den 5 000 Euro, die man zur Deckung der Lebenshaltungskosten bekommen konnte. Aber woanders – da landete man direkt bei Hartz IV. Alle Branchen werden gerettet, die Kultur nicht.


Greifen die Hilfen für Soloselbständige nicht für DJs?

Das funktioniert doch alles nicht. Ich hätte zum Beispiel gar kein Anrecht auf das Geld, weil meine Frau arbeitet. Ich lebe in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft. Aber warum muss meine Frau mich finanzieren, wenn der Staat mir untersagt, meinen Beruf auszuüben? Fast alle Künstler, die ich kenne, leben in Bedarfsgemeinschaften. Die Hilfen für Soloselbständige bringen denen gar nichts. Die arbeiten zu Hause, das heißt der Bürokostenzuschuss fällt weg – die kriegen einfach nichts.


Dazu kommt, dass man ein Netzwerk wie das der Clubs nicht über einen langen Zeitraum ausschalten kann, ohne dass es kaputtgeht.

Ja. Das ist alles sehr eigenartig. Ich sehe Kollegen, die spielen in der Schweiz, in Italien, in Litauen, in Lettland, sogar in Frankreich! Obwohl die Zahlen dort viel höher sind als in Deutschland. Überall sind Clubs offen oder es gibt zumindest Veranstaltungen. Mit Auflagen, selbstverständlich. Aber bei uns geht es nicht. Das verstehe ich nicht. Die Debatte über diese Fragen ist bei uns immer noch auf dem Stand des Frühjahrs. Aber die Wissenschaft ist längst weiter – es werden nur keine Konsequenzen gezogen. Im Vergleich mit einer Reise im Flugzeug ist das Risiko, sich in einem Club anzustecken, sehr gering. In den ersten Wochen der Pandemie waren wir im Schock, klar, alles wurde dichtgemacht, alle sagten: »Erst mal schauen, wie es weitergeht.« Jetzt könnte es weitergehen. Tut es aber nicht. Das ist alles von Ängsten getrieben. Und Angst ist nie ein guter Berater.


Was machen denn die Clubs in anderen Ländern?

In Frankreich muss die Veranstaltung draußen stattfinden, und es gibt eine Maskenpflicht. In der Schweiz sind tatsächlich Clubs offen, aber die Zahl der Leute ist begrenzt.


Das ist ein Widerspruch, oder? Die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pan­demie appellieren an die Vernunft. Und Clubs sind per definitionem Orte der Unvernunft.

Tja …


Wie geht das zusammen?

Draußen in der Natur hätte das alles funktioniert. Die Festivals hätten nicht abgesagt werden müssen. Mir kommt es so vor, als wenn das alles nur ein Vorwand ist, so ein neues Biedermeier durchzusetzen. Wo alles verboten ist, was mit menschlicher Nähe zu tun hat.


Jetzt mal grundsätzlich: Was treibt die Leute eigentlich nachts raus? Warum gehen Leute in Clubs?

Zum einen für das boy meets girl-Spiel. Vor allem ist das Nachtleben aber ein Freiraum, eine Gegenwelt. Du sitzt unter der Woche zu Hause, arbeitest. Schaust vielleicht abends eine Serie. Aber irgendwann willst du unter Leute. Man kann nicht alle menschlichen Kontakte digitalisieren. Du willst irgendwann andere Menschen um dich haben. Dann gehst du aus.


Aber dafür bräuchte man keine Clubs. Da könnte man auch in eine Kneipe gehen.

Andere Leute gehen in ihre Kneipen oder ins Kino. Aber im Fall von Techno, würde ich sagen, kommt eben ein besonderes kulturelles Interesse dazu.


Kulturelles Interesse?

Es ist nicht so, dass Techno eine Kultur ist, wo alle die ganze Zeit Drogen nehmen. Und drei Tage lang feiern gehen. Das gibt es. Aber das ist nur ein Teil. Es gibt auch Leute, die gehen sonntagnachmittags ganz gepflegt zum Raven und treffen ihre Freunde. Und gehen am selben Tag nach Hause, weil sie montags wieder arbeiten müssen.


Ich bin meistens ausgegangen, um Unfug zu treiben.

Im Idealfall ist Ausgehen nicht zielgerichtet. Man geht hin und schaut, was passiert. Auszubrechen ist wichtig. Wir leben doch in einer Welt, die sehr strukturiert ist. Davon muss man sich ab und zu befreien. Im Nachtleben geht es um diesen Kontrollverlust – der allerdings im geregelten Rahmen stattfindet. Darum geht es ja. Wer in einen Club geht, weiß, wie er oder sie sich zu verhalten hat. Man tritt dem anderen auf der Tanzfläche nicht auf den Fuß. Selbst im Darkroom herrschen Regeln. Die sind halt selbstgemacht.


Ist das so?

Jede Nacht ist anders. Ich spiele auch jede Nacht andere Musik. Die Leute sind anders, die Stimmung ist anders. Man ist immer in einem bestimmten Moment mit bestimmten Leuten in einem bestimmten Raum. Aber da reguliert es sich meistens selbst.


Und was ändert so ein Virus an dieser Situation?

Das ist schwer zu sagen. Natürlich gibt es Leute, die sagen: Das Virus gibt’s ja gar nicht. Interessiert mich nicht. Ich denke aber, dass die meisten Leute sich anders verhalten werden als früher. Wir verhalten uns ja auch im Supermarkt anders als vor der Pandemie. Aber das werden wir erst sehen, wenn es weitergeht.


Ist die Tanzfläche eigentlich ein politischer Ort?

Nein. Überhaupt nicht. Die Tanzfläche ist ein Ort der Katharsis. Da möchte ich, dass die Leute anders runtergehen, als sie raufgekommen sind. Da hat Politik nichts verloren. Festivals und Clubs können natürlich politisch sein, in der Auswahl der Gäste und des Bookings.


Aber man muss doch Abstand halten, um niemandem auf den Fuß zu treten, wie Sie gerade gesagt haben. Niemand sollte sich belästigt fühlen. Gleichzeitig will man aber Nähe, ist eng aufeinander. Das sind in Zeiten von Corona doch politische Fragen.

Das mit dem Abstandhalten auf der Tanzfläche kannst du nach vier Stunden vergessen. Nicht mal notwendigerweise, weil Leute Drogen genommen haben. Tanzen hat doch damit zu tun, dass man sich fallen lässt. Nicht nachdenkt. Da kann man nicht erwarten, dass auf Abstandsregeln geachtet wird. Das wäre eine theoretische Feier. Das ist dann eher die Aufgabe des Clubs, auf diese Dinge zu achten. Das muss auch gehen. Nicht, dass man die Leute in Käfige steckt, solche Ideen gibt es ja auch, Raver-Käfighaltung. Für Clubs dürfte es am praktikabelsten sein, gute Belüftungsanlagen einzubauen. Keine Umluft, die ja die Aerosole nur herumwirbelt, sondern Abluft. Dass die Luft schnell herausgesaugt wird. Das muss möglich sein.


Vielleicht sollten Raver wieder Gasmasken tragen.

Auch eine Idee! Hier schau mal. (Tanith nimmt einen sehr tiefen Zug aus seiner E-Zigarette, setzt seine Mund-Nasen-Maske auf und pustet Dampf aus, der unter dem Mund-Nasen-Schutz hervorkommt.) So richtig überzeugen mich Masken nicht.


Das sind ja Prozesse der Verfeinerung, der Zivilisierung, die Sie da schildern. Dass man selbst im Kon­trollverlust noch die Kontrolle behalten kann. Wie lässt man sich eigentlich gemeinsam fallen? Wie steuern Sie das als DJ?

Das ist eine sehr archaische Sache. Da ist der Beat. Wahrscheinlich ist es so auch irgendwann entstanden. Irgendjemand haut auf einen Holzstamm. Bumm, bumm, bumm. So ist es im Prinzip noch immer. Der Rhythmus nimmt die Leute mit.


Wie schnell ist das?

Meine Lieblingsgeschwindigkeit sind 140 Beats pro Minute.


Ganz schön schnell.

Ja, aber ein gutes Renntempo. Wenn ich jogge, komme ich auf 140. Wer tanzt und gut dabei ist, dem geht es genauso. Das erste, was ein Kind hört, ist der Herzschlag der Mutter. Ein Beat. Wir sind da nicht so viel anders als die Urmenschen. Wir haben das nur umfassend durchtechnisiert.


Aber das sind alles erst mal äußere Umstände. Wo kommen Sie ins Spiel?

Ich muss die Menge lesen. Das sind ja keine Einzelpersonen, auch wenn das oft gesagt wird, dass die alleine tanzen. Stimmt nicht. Die tanzen zusammen. Ich schaue die an und versuche zu verstehen, was sie wollen. Ich muss mit denen Verbindung aufnehmen, versuchen, mit ihnen eins zu werden.


Wie geht das?

Früher habe ich dafür Ecstasy genommen. Ich wollte da sein, wo die auch sind. Das hat super funktioniert. Aber jetzt mache ich das wirklich lange genug, dass ich weiß, wie die Menge sich verhält. Was in einer Nacht geht – und was nicht. Das ist aber nicht nur eine Kommunikation zwischen mir und dem Publikum, auch im Publikum selbst gibt es das. Alle sind in solchen Situati­onen miteinander verbunden.


Deshalb ist auch jede Nacht anders?

Genau. Andere Leute bewegen sich anders. Bringen andere Blockaden mit, die sie dann loslassen. Tanzen anders.


Wie geht das? Sieht man dann die Jungs in der Ecke, die es härter wollen, und sieht zu, dass man die nicht verliert?

Die stehen immer vorne.

Aber schauen Sie auf die verschiedenen Grüppchen?

Das ist keine bewusste Sache. Ich habe in einem Laden angefangen aufzulegen, in den passten 50 Leute rein. Mein Ziel war, die auf die Tanzfläche zu kriegen. Und dort zu behalten. Egal wie. Das habe ich dann auch geschafft. Mit der Zeit wurden das dann immer größere Clubs, größere Tanzflächen, mehr Menschen. Je größer es ist, desto schwieriger. Man muss sich auf etwas konzentrieren. Nicht eine Person. Ich schaue zum Beispiel gerne in die Leute hinein und stelle meinen Blick unscharf, um ein Gefühl für die Bewegung der crowd zu bekommen. Was löst ein Stück aus? Dann probiert man ein anderes Stück und merkt wieder, wie die Reaktion ist. So schafft man sich die Parameter des Abends.


In den neunziger Jahren war das Ausgehen eine sehr städtische Angelegenheit. Elektronische Musik war ein Sound der Keller, der verlassenen Fabrikgebäude. Das ist heute nicht mehr so. Festivals auf dem Land sind genauso wichtig geworden. Was hat das aus Ihrer Sicht verändert?

Wenn ich damals aus dem »Tresor« rausgekommen bin und Berlin sah, da hatte ich mehrmals das Gefühl, jetzt könnte auch eine Atombombe fallen. Das war keine Schreckensvorstellung, eher die Freude an der postapokalyptischen Überwältigung. Das ist natürlich nicht so, wenn du auf einen Rave in die Natur fährst. Das ist ja viel hippiemäßiger. Was auch mit der Logistik zu tun hast. In den Club bringst du ja nur dich selbst mit. Wenn du auf ein Festival fährst, dann hat man einen Wohn­wagen oder ein Zelt, Essen, Trinken, ein Camp mit den eigenen Leuten. Das ist wie so ein Stammestreffen.


Hat sich das Publikum über die Jahre verändert?

Ich sehe ganz stark, dass sich zuletzt, bevor die Pandemie kam, das Alter der Leute verändert hat. Da waren auf einmal Alte und Junge. Bausparvertrag abbezahlt, Scheidung durch, ich geh wieder feiern! Die sind wieder da. Und mischen sich mit jungen Leuten, die ihren Techno nicht so zivilisiert haben wollen. Seit zwei Jahren gibt es ein starkes Bedürfnis, die Sau rauszulassen. Da ist jetzt weniger Zivilisation und Kultur dabei. Und das ist ein globales Phänomen. Ich kam da schon ins Grübeln: Hat sich die Pandemie da schon angekündigt? Es muss im Augenblick wieder kompromisslose, dreckige Musik sein, die ganz weit weg ist von dieser Feuilleton-Techno-Welt, die vorher sehr dominant war. Mir passt das natürlich ganz gut. Techno ist keine Musik, die deinen Eltern gefallen sollte. Techno muss kathartisch sein.


Sollte Techno keine Kultur sein, aus Ihrer Sicht? Das ist doch eine große Entwicklung der ver­gangenen Jahre gewesen, dass diese Musik eine solche Anerkennung bekommen hat; dass der Berliner Kultursenator Klaus Lederer damit kokettiert hat, das »Berghain« zu kennen; dass Geld geflossen ist – was ja auch wirtschaftliche Aspekte hatte: Techno in Berlin war wichtig fürs Stadtmarketing.

Es ist ein zweischneidiges Schwert. Ich kann beide Seiten verstehen. Es gibt ja Leute, die sagen: Techno in Berlin muss Weltkulturerbe sein. Das finde ich Quatsch. So zu tun, als bewegte ein Laden wie das »SO36« sich auf der gleichen Ebene wie die Deutsche Oper, das ist falsch. Auf der anderen Seite ist es mir ein bisschen egal, woher die Hilfen kommen. Hauptsache, sie kommen. Dafür kann man sich dann auch Kultur nennen. Wenn’s der Sache dient.


Was passiert eigentlich, wenn es keinen Impfstoff gibt? Wenn die Clubs nicht wieder aufmachen dürfen? Wohin dann mit dem Hedonismus? Wird das wie in den USA zur Zeit der Prohibition?

Da sind wir doch schon. Nimm diese Raves in der Berliner Hasenheide, die von der Polizei aufgelöst wurden: Tanzen ist quasi illegal. Da ist der Schritt zur Pro­hibition nicht weit. Jetzt im Sommer ging das noch gut. Da sind die Leute halt in die Wälder nach Brandenburg gefahren und haben dort gefeiert. Aber wenn der Winter kommt, dann wird es spannend.
Heutzutage lacht man ja über die Prohibition, darüber, wie man glauben konnte, Alkohol lasse sich verbieten. Damals stellte sich das anders dar. Der Wunsch nach Prohibition war eng mit der Bewegung für das Frauenwahlrecht verbunden, es waren vor allem Frauen, die sich gegen den Alkohol engagierten, da stand ein Glaube an die Vernunft dahinter.
Die wollten nicht von ihren besoffenen Männern verprügelt werden. Tja. Aber die Macht der Vernunft steht halt manchmal auf verlorenem Posten. Es wäre schön, wenn die Welt einfacher wäre. Es heißt doch immer: Die Welt ist komplex. Ich würde vor allem sagen: Der Mensch ist komplex.


Wie gehen wir damit um?

Ich habe hier einen Nachbarsjungen, der möchte so gerne vernünftig sein. Und dann haut er doch immer den Blumentopf kaputt. So ist das bei Älteren auch. Es gibt Energien, und die müssen kanalisiert werden. Besser, man geht tanzen, würde ich sagen. Ich kann mich noch gut an all die Hooligans erinnern, die sich prügeln wollten. Dann haben sie Ecstasy genommen und es kam etwas Besseres dabei heraus.


Was passiert, wenn all das ausfällt?

Dann sind diese Demonstrationen gegen die Pandemiemaßnahmen erst der Anfang. Wenn man den Leuten die Kultur nimmt, dann kommt Kulturlosigkeit heraus. Ich bin ja sehr dafür, dass über die Maßnahmen diskutiert wird. Aber diese Verrückten finde ich doch erschreckend. Im Augenblick ist das ja ziemlich harmlos. Aber wenn noch ein Winter kommt, wo alle aufeinanderhocken: Das kann sich zuspitzen.


Landet man nicht in einer Art übler Dialektik, wenn die Subkultur Hilfe vom Staat braucht?

Das ist keine Dialektik. Die Subkultur hat ja wunderbar funktioniert. Und nun sagt der Staat: Die Subkultur ist ein potentieller Krankheitsüberträger. Was ich so nicht akzeptieren kann. Der Staat hat über seine Maßnahmen die Subkultur stillgestellt. Wir haben aber nichts falsch gemacht. Ich würde das als Selbstverständlichkeit sehen, da kompensiert zu werden. Branchen, die wirtschaftlich gesund sind, wie es immer heißt, haben in dieser Situation Anspruch auf Kurzarbeit. So bleibt die Struktur erhalten, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Krise vorbei ist. Wir bekommen nichts.