Im Prozess gegen den Attentäter von Halle kritisieren Zeugen die Polizei

Das Trauma nach der Tat

Im Prozess gegen den Attentäter von Halle werfen mehrere Zeugen der Polizei Versäumnisse bei den Ermittlungen vor und kritisieren den gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus und Rassismus.

Im Prozess gegen den geständigen Attentäter von Halle kamen im September die Überlebenden zu Wort. In bewegenden Statements berichteten sie vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandes­gerichts Naumburg, wie der Anschlag ihre Leben verändert hat. Viele von ­ihnen nehmen auch als Nebenkläger am Verfahren teil.

Kevin S. hat das Attentat vom 9. Oktober 2019 nicht überlebt. Der Angeklagte erschoss ihn im »Kiez-Döner«. Zuvor hatte er erfolglos versucht, in die örtliche Synagoge einzudringen, und die 40jährige Jana L. getötet. Nach dem Angriff auf die Gäste in dem Imbisslokal verletzte der Attentäter weitere Personen.

»Eine Zukunft in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen.« Christina F., Überlebende des Anschlags auf die Synagoge in Halle

Karsten L., der Vater von Kevin S., tritt als Nebenkläger auf. Am 15. September sagte er als Zeuge aus. Sein Sohn habe wenige Tage vor dem Anschlag eine Lehre als Maler begonnen und viel Freude an seiner neuen Tätigkeit gehabt. Sein ganzes Leben lang habe er mit körperlichen und geistigen Einschränkungen gekämpft, die Ausbildung sei ein großer Schritt für ihn gewesen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Eine besondere Leidenschaft habe S. für Fußball und den Halleschen FC gehegt. Unter Tränen berichtete L. von den Stunden nach der Tat, in denen die Mutter von S. und er vergeblich versucht hätten, ihren Sohn zu erreichen. Schließlich habe ein Bekannter ihm ein Video von der Tat geschickt, auf dem die Ermordung seines Sohnes zu sehen gewesen sei. Er und die Mutter seien auf umfangreiche therapeutische Hilfe angewiesen.

İsmet Tekin, der Besitzer des Imbisslokals, sagte am selben Tag aus. Er stand dabei noch unter dem Eindruck der Aussage von L. Für die Tat habe er keine Worte, so Tekin, ganz gleich, welche Sprache er bemühe. Der Schmerz einer Mutter oder eines Vaters, die ihr Kind verloren haben, sei nicht in ­Worte zu fassen.

Unter den bisherigen Zeugen waren Synagogenbesucher, Überlebende aus dem Dönerlokal, Personen, die dem Attentäter auf der Straße begegnet waren, und Polizisten, die sich einen Schusswechsel mit ihm geliefert hatten. Auch ein Paar aus dem kleinen Ort Wiedersdorf im Saalekreis sagte aus. Der Angeklagte hatte versucht, sie zur ­Herausgabe eines Fluchtautos zu zwingen, und die beiden dabei angeschossen. Viele Überlebende berichteten von starken psychischen Belastungen und langfristigen Folgen der Traumatisierung durch das Attentat. Bei mehreren Betroffenen wurde eine posttrauma­tische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Viele erzählten von Schlafproblemen und Angstzuständen.

Von den jüdischen Überlebenden wies unter anderem die Rabbinerin Rebecca B. darauf hin, dass man die Bedeutung intergenerationaler Traumata bedenken müsse, um die Tragweite des Attentats für die Nachfahren von Shoah-Überlebenden zu verstehen. Sie berichtete von ihrer Großmutter, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte. Nur vor dem Hintergrund von deren Geschichte könne man ihr eigenes Trauma verstehen: In den Erfahrungen von Kindern, Enkeln und Ur­enkeln der Shoah-Überlebenden zeigten sich deren Erinnerungen und Traumata auch heutzutage noch.

In ihren Zeugenaussagen konnten die Nebenkläger nicht nur über ihr persönliches Erleben berichten. Sie verwiesen auch immer wieder auf den ­gesellschaftlichen Kontext der Tat. Dabei äußerten sie auch Kritik am Verhalten, an Versäumnissen bei den Ermittlungen nach dem Attentat sowie am gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus und Rassismus.

So zeigten sich mehrere Besucherinnen und Besucher der Synagoge irritiert über den Umgang der Polizei mit den traumatisierten Überlebenden unmittelbar nach der Tat. Während sie auf ihre Evakuierung warteten, habe es keinerlei Information und Kommunikation seitens der Polizei darüber gegeben, was passiert sei und wie es weitergehe. Mehrere Überlebende erzählten von ihrem Eindruck, von der Polizei wie Verdächtige behandelt worden zu sein. Karen E. beschrieb, wie sie sich mehrfach hätten ausweisen müssen und ihre Taschen vor den Augen der Presse kontrolliert worden ­seien: »Da habe ich mich eigentlich als Objekt gefühlt.«

Nebenklägerin Christina F. berichtete von mehreren Situationen, in denen sich das Unwissen und Desinteresse der Polizeibeamten in Hinblick auf das Judentum offenbart habe. Ihre Vernehmung beschrieb sie als »angsterfüllend«, ihr sei überhaupt kein Sicherheitsgefühl vermittelt worden. Sie habe kein Vertrauen in deutsche Autoritäten und lebe hier in Angst. »So kann kein Mensch leben. Eine Zukunft in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen.«

Das Paar aus Wiedersdorf schilderte, wie die Polizei ihm bei seinem Notruf zunächst keinen Glauben geschenkt habe. Obwohl die beiden angeschossen worden seien, sei ihnen gesagt worden, sie sollten nach dem Attentäter Ausschau halten. Kurz darauf sei noch vor der Polizei ein Reporter bei ihnen gewesen.

Auch Versäumnisse der Polizei nach der Tat kamen mehrfach zur Sprache. So kritisierte etwa die Zeugin Naomi H. scharf, dass die Ermittler sich keine Imageboards angesehen, die Online-Spiele des Angeklagten nicht ausprobiert und die Parallelen zwischen diesem und ähnlichen Attentaten – etwa in Christchurch, El Paso und München – ebenso wenig untersucht hätten wie die Ideologie, die das Fundament der Tat bildete. Die Zeugin Karen E. sagte, dass ein Kollektiv aus Künstlern und Wissenschaftlern im Rahmen des ­Online-Projekts »Global White Supremacist Terror: Halle« mehr über die Online-Vernetzung des Angeklagten herausgefunden habe als die Polizei.

Die Nebenkläger thematisierten auch den gesellschaftlichen Kontext des Attentats. So kritisierte etwa Naomi H. die gesellschaftliche Debatte über das Attentat und das mediale Narrativ von der »guten Tür« aus »guter deutscher Eiche«, die sie gerettet habe: »Dieses Bedürfnis, den einen guten Deutschen zu finden, der es geschafft hat, das Leben von Juden zu retten, hat hier nichts zu suchen. Lieber würde ich ­sehen, wie deutsche Regierungsstrukturen und die deutsche Gesellschaft radikal durchdenken, wie sie ihre Minderheiten schützen können.« Mehrfach forderten Nebenkläger, Antisemitismus und Rassismus müssten endlich ernst genommen werden.

Trotz der traumatischen Erlebnisse und der Kritik am Umgang von Politik und Gesellschaft mit dem Attentat ­sahen viele Nebenkläger auch Positives. Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle, berichtete, wie wichtig für ihn die vielen ­Solidaritätsbekundungen gewesen seien. Er fühle sich seit dem 9. Oktober wesentlich mehr in Deutschland zu Hause, weil er gesehen habe, dass die absolute Mehrheit der Menschen ­geeint sei gegen Hass, Mord und Nazis. Der Imbissbetreiber İsmet Tekin rich­tete sich zum Ende seiner Aussage an den Angeklagten: »Sie haben auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt und ich lebe. Doch entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und Liebe. Wir werden nicht weggehen, wir werden nicht aufgeben, wir werden standhalten.« Die Todesopfer Kevin S. und Jana L. würden nicht vergessen.