Donnerstag, 19.10.2017 / 10:30 Uhr

Zur Lage in Kirkuk

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Gestern hat Mena-Watch mich zur Lage in Kirkuk interviewt:

Mena Watch: Was angesichts deren Übernahme von Kirkuk durch irakische Truppen und schiitische Milizen und auffällt, ist, wie rasant und vor allem auch wie – nicht nur für nahöstliche Verhältnisse – relativ unblutig dieser Vormarsch ausfällt. Wie sind diese Beobachtungen Deiner Meinung nach einzuschätzen?

Thomas von der Osten-Sacken: Natürlich ist es sehr schwierig nach 48 Stunden zu den entsprechenden Schlüssen zu kommen, aber es sieht inzwischen alles danach aus, dass es im Vorfeld Gespräche gegeben hat zwischen irakischer Zentralregierung, vermutlich auch Iranern und Vertretern der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) – also der Partei, die eher in Sulaymaniyah und Kirkuk die Kontrolle ausübt –, dass Kirkuk und diese Gebiete mehr oder weniger geräumt werden. Die USA sprechen jetzt in einem Statement von gestern sogar von der kontrollierten Übergabe, was ich für etwas euphemistisch halte, aber entgegen des ersten Eindrucks von Montagfrüh sieht es so aus dass die Milizen oder die Peshmergas der PUK Kirkuk de facto geräumt haben. Nur andere kleinere Peshmerga-Einheiten und einige bewaffnete Volksverteidigungskräfte, man hat dann sinnloserweise noch Waffen an die Zivilbevölkerung ausgeteilt, haben ein bisschen Widerstand geleistet haben, wobei es dann zu einigen Verletzten und Toten kam. Aber insgesamt sieht es jetzt so aus, dass diese gesamten ‚umstrittenen Gebiete‘ im Nordirak, in die die Kurden zwischen 2003 und 2016 vorgerückt sind und die Kontrolle übernommen haben, innerhalb von anderthalb Tagen mehr oder weniger kampflos geräumt worden sind.

Mena Watch: Einerseits scheint es also so zu sein, dass es einen Deal oder zumindest Vorverhandlungen zwischen Bagdad und der PUK bezüglich der ‚umstrittenen Gebiete‘ gegeben haben dürfte. Andererseits wurden gestern ja aber auch Ankündigungen von Seiten der irakischen Regierung laut – konkret von Vizepräsident Nouri al-Maliki –, dass man gleich bis Erbil weiter vorstoßen und auch dort die irakische Flagge hissen wolle. Wie wahrscheinlich ist das? Oder geht es wirklich nur darum, die Regionen zurückzuerobern, die 2014 während des Kampfes gegen den Islamischen Staat an die Kurden gefallen sind?

Thomas von der Osten-Sacken: Im Moment ist ja die international Sympathie ganz eindeutig auf Seiten des irakischen Premierministers Abadi und der Präsident der Kurdischen Regionalregierung Barzani hat es wirklich verspielt mit seinem Referendum. Man hat ihm da von Seiten der USA, der Europäer und auch der Nachbarländer gesagt: Mach dieses Referendum nicht. Er hat das Referendum trotzdem abgehalten, und es ist – was immer man auch davon hält – im Moment ganz offensichtlich, dass die internationale Sympathie auf Seiten Bagdads liegt. Das heißt, die Zentralregierung muss jetzt versuchen, möglichst verfassungskonform vorzugehen: Was Abadi im Prinzip mit Parlamentsentscheid jetzt offiziell umsetzt – aus Sicht der der Bagdader Regierung – ist, die Verfassung in diesen Gebieten wieder in Kraft zu setzen. Laut irakischer Verfassung sind ja die ursprünglichen drei kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil, Suleymania als Autonomiegebiete Teile des föderalen Irak, wobei der Rest, um den es jetzt geht, also die sogenannten ‚umstrittenen Gebiete‘, nicht zu diesen Autonomieregionen gehört. Jetzt ist es die offizielle Politik, in diesen Gebieten wieder irakische Oberhoheit herzustellen; und auch die Sonderrechte, die die Kurden de facto hatten: Kontrolle über Grenzen und Flughäfen aufzuheben, das unter zentralirakische Kontrolle zu bringen und den Ölverkauf, den die Kurden direkt mit der Türkei abgewickelt haben, zu unterbinden und wieder über Bagdad laufen zu lassen. Das heißt, die De-facto-Eigenstaatlichkeit von Irakisch-Kurdistan soll aufgehoben werden, was aber auch bedeutet, dass die alten Grenzen von 2003 respektiert werden. Es gibt wohl inzwischen auch so eine Art von Abkommen zwischen der Kurdischen Regionalregierung (KRG) und der irakischen Zentralregierung, dass diese Grenzen wieder gelten.

Natürlich ist da jetzt eine unglaubliche Propaganda und Nebelwerferei von allen Seiten im Spiel, aber die irakischen Truppen werden jetzt nicht weitermarschieren, das schätzen auch alle meinen Kollegen von vor Ort so ein. Die Kurdische Regionalregierung ist ohnehin fertig, Barzani steht wie der ganz große Verlierer da und die Frage ist, wie er dieses Debakel politisch überhaupt überleben will. Es gibt jetzt wie gesagt die Hinweise – das hat gestern ein Parlamentarier der oppositionellen Gorran-Bewegung, also des „Change Movements“, veröffentlicht – dass es einen Separat-Deal zwischen der PUK und Bagdad gegeben habe, dass de facto die Region um Kirkuk und Khanaqin zivil unter kurdischer Verwaltung bleibt und nur militärisch vom Irak kontrolliert wird, was heißt, dass kurdische Polizei und die PUK-Funktionäre auf unterer Ebene alle im Amt bleiben. Im Gegenzug zum Verzicht auf die militärische Kontrolle in Kirkuk soll dann der Flughafen von Suleymania wieder aufgemacht werden und Bagdad übernimmt die volle Zahlung von Angestellten in Suleymania und anderen von der PUK kontrollierten Regionen.

Das Problem ist ja, dass eigentlich seit Jahren die Kurdische Regionalregierung bankrott ist: Es werden kaum Gehälter bezahlt, die Zahlungen bewegen sich in der Höhe von 30%. Und es gibt gerüchteweise das Angebot, dass laut irakischer Verfassung der PUK-kontrollierte Teil Irakisch-Kurdistans eine eigene föderale Region wird. Das wären dann Kirkuk, Suleimaniya und die Halabja-Region: Das sind drei Provinzen, die können sich zur föderalen Region erklären, was eine Spaltung Irakisch-Kurdistans in einen Norden und einen Süden bedeuten würde, die ja bei allem Gerede über „die Kurden“ die ganze Zeit de facto existiert. Es gab über die gesamten 90er-Jahre bis 2003 de facto zwei Irakisch-Kurdistans mit den zwei Hauptstädten Erbil, wo die Kurdische Demokratische Partei (KDP) von Barzani saß, und Suleymania, wo die PUK saß. Und diese Referendum sowie die jüngsten innenpolitischen Entwicklungen haben diese Spaltung wieder extrem vergrößert. Ich habe ja schon bei unserem letzten Gespräch ausgeführt, dass letztlich die Menschen im ganzen Gebiet im Süden um Suleymania und Halabja nicht mit diesem Referendum identifiziert haben und das auch nicht als ihr eigenes wahrgenommen haben.

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