Samstag, 20.07.2019 / 15:14 Uhr

Libyen: Europas Scheitern

Von
Thomas von der Osten-Sacken

In der taz veröffentlichte jüngst Dominic Johnson einen Kommentar zu Europas Libyenpolitik, der es Wort für Wort, Komma für Komma trifft und eigentlich alles sagt, was gesagt werden muss:

Europa liebt extreme Lösungen. Der Kontinent, der im 20. Jahrhundert der Welt die Gaskammer und das Konzentrationslager, das Kolonialreich und den totalitären Staat bescherte, hat für Afrikas Flüchtlingskrise im 21. Jahrhundert eine Antwort anderer, doch im Ergebnis ebenfalls unmenschlicher Art gefunden: aussitzen. Irgendwann liegen die Migranten, die an Libyens Küste auf die Überfahrt warten, alle tot auf dem Grund des Mittelmeers oder in den Trümmern von Tripolis. Die europäische Zusammenarbeit funktioniert. Italien schottet seine Häfen gegen Flüchtlingsboote ab, Frankreich liefert dem libyschen Warlord Haftar Raketen, aus Deutschland kommt die nötige Prise moralische Empörung, mit der man auch ohne Rückgrat aufrecht stehen kann.

Fluchtursachen können gar nicht so schnell beseitigt werden, wie neue entstehen.

Es ist bezeichnend für den desolaten Zustand der europäischen Politik, dass in dieser Situation der einzige Vorstoß auf Regierungsebene zur Rettung von Menschenleben von der Partei Horst Seehofers kommt. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) forderte vor einer Woche „eine gemeinsame humanitäre Initiative von Europa und den Vereinten Nationen zur Rettung der Flüchtlinge auf libyschem Boden“. Hier müsse die neue EU-Kommission vorangehen, ohne auf die Zustimmung aller Mitglieder zu warten.

Ernsthaft aufgenommen wurde das natürlich nicht. Truppen aus Europa senden, um die 6.000 Menschen zu retten, die in libyschen Internierungslagern schutzlos dem Krieg ausgesetzt sind und jetzt von Menschenhändlern beschleunigt in seeuntüchtige Boote getrieben werden? Nein, so was tut Europa nicht. Jedenfalls nicht, wenn es nicht um festsitzende europäische Touristen oder Entwicklungshelfer geht. Bei denen würde man keine Mühe scheuen, um sie zu evakuieren.

Libyen ist Europas Scheitern. Niemand in der EU erhob Einwände, als im Jahr 2011 Sarkozy und Cameron nach gewonnenem Krieg mit einem „Mission Accoomplished“-Triumphalismus dem Land den Rücken kehrten, sobald Gaddafi tot war. Keinen kümmerte es, dass die Kräfte des Volksaufstands gegen die Diktatur zersplittert und die Waffenarsenale unbewacht waren. Bei dem sich abzeichnenden Chaos in Europas unmittelbarer Nachbarschaft fehlte es an jeglicher politischen Weitsicht. Niemand in der EU widersprach, als Italien und Frankreich in den Jahren danach zwei rivalisierende Machtzentren in Libyen förderten und damit den aktuellen Krieg heraufbeschworen. Zehntausende Migranten haben Europas egoistische Schläfrigkeit mit dem Leben bezahlt.

Derweil steckt Europa Millionensummen in von Europäern ausgedachte Programme, um von Europäern gezogene Grenzen zwischen Afrikas Staaten unüberwindbar zu gestalten und Afrikanern die Reisefreiheit zu nehmen. Im Sudan mit seiner laufenden Konterrevolution des Militärs gegen den Anti-Bashir-Volksaufstand sieht man aktuell, was passiert, wenn die Nutznießer solcher Programme stark genug werden, um sich an die Macht zu putschen. Fluchtursachen können gar nicht so schnell beseitigt werden, wie neue entstehen.