Sonntag, 22.12.2019 / 14:59 Uhr

Die Türkei nach der Spaltung der AKP

Von
Murat Yörük

Mit der Spaltung der AKP bröckelt Erdoğans Macht. Doch die Abtrünnigen sind alte Parteikader der islamischen Bewegung. Die künftige Entwicklung der Türkei ist ungewiss.  

 

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(Istanbul, Bilder: Thomas v. der Osten-Sacken)

 

Auf die Spaltung der AKP reagiert die türkische Opposition in diesen Tagen ganz ungehalten mit offener Schadenfreude. Dabei gibt es im Türkischen für dieses Gefühl kein eigenes Wort. Es lässt sich umständlich mit „Başkasının zararına sevinme“ übersetzen, was ins Deutsche wiederum übersetzt wortwörtlich so viel wie „Sich über den Schaden Anderer freuen“ bedeutet. Dabei ist die Schadenfreude nicht wirklich die rühmlichste Freude.

Und dennoch: Was könnte es heute wohl Schöneres geben als dabei zuzusehen, wie sich die AKP selbst zerlegt? Was könnte es auch Schöneres geben als Zeuge zu werden, wie ausgerechnet diejenigen, die für so viel Unrecht stehen sich nun untereinander zerfleischen und sich spalten?

Schadenfreude liegt darum nicht fern, sollte aber auch nicht die letzte Freude sein, die einem noch übrig bleibt. Denn noch immer ist ungeklärt, wie man die AKP und Erdoğan loswird. Entsprechend zeugen die höhnischen Reaktionen auf die Spaltung der AKP zunächst von der eigenen Ohnmacht und Passivität der Opposition. Man hat keine wirkliche Lösung und weiß auch nicht wirklich, wie man den politischen Gegner bezwingen soll.

Dennoch gibt es einen Grund zu leiser Hoffnung. Mit der Spaltung der AKP hätte man vor einigen Jahren nicht gerechnet. Gerade die Parteigänger der AKP leben davon, dass sie sich der höheren Sache verpflichtet fühlen, und ihr ganzes Tun – im Jargon der Islamisten gesprochen – der Dava (Sache) unterordnen, auch wenn sie untereinander zerstritten sind. Die Dava schweißt schließlich die Bande zusammen. Es wird entsprechend zusammengehalten und für die Dava gekämpft. Der Austritt aus der Partei wird folglich mit dem Verrat an der Sache gleichstellt. Im Regelfall tritt die Partei darum nach außen geschlossen auf und demonstriert machtvoll, wie ernst ihr die Dava ist. Wer der Dava sich nicht mehr verpflichtet fühlt, soll besser schweigen als zu gehen. Das käme dann der Spaltung der Umma gleich.

Skepsis ist angebracht

Es gibt darum allen Grund dazu, Skepsis zu bewahren und der Spaltung der AKP misstrauisch zu begegnen. Die prominenten Abtrünnigen sind schließlich keine unbekannten Namen, sondern altgediente Führungskader der AKP. Sowohl der ehemalige Außenminister und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, als auch der ehemalige Außen- und Wirtschaftsminister Ali Babacan und der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül sind jahrelang Recep Tayyip Erdoğans treueste Weggefährten gewesen. Sie tragen folglich eine Mitschuld am Unrecht der vergangenen Jahre. Es wäre daher zu einfach, einzig Erdoğan an den Pranger zu stellen, und so zu tun, als ginge alles auf das Schuldkonto des Reis (Führers).

Es fällt schließlich auf die islamistische Bewegung zurück, wenn Erdoğans Misere zur Misere der Bewegung wird.

Entsprechend unterschlagen die Abtrünnigen in ihren bisherigen Statements die eigenen Verstrickungen in die desolate Lage von heute. Selbstkritik steht nicht hoch im Kurs. Daran wird sich sehr wahrscheinlich in den kommenden Monaten auch nicht viel ändern. Im Jargon der türkischen Islamisten gesprochen, praktizieren sie bislang das, was man im Türkischen „ayıpları  örtmek“ bezeichnet. Zu Deutsch: Die Schandtaten verschleiern.

 

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Hoffnung macht darum allein die Tatsache, dass die islamistische Bewegung mit noch offenem Ausgang sich spaltet und dies dazu führen wird, dass Erdoğans Herrschaft eher bröckelt. Die Spaltung der AKP hat darum auch den Vorteil, dass die Islamisten vom Blockdenken Abstand nehmen müssen. Wer an Fronten operiert, schweißt gerne das Volk zusammen. Fällt der Führer, und finden die Massen nicht zusammen, sondern spalten sich in verschiedene Parteien, müssen sie koalieren und Kompromisse eingehen.

Anfang…

Dabei fing alles so gut an. Erdoğan und seine Weggefährten betraten die politische Bühne im August 2001 nach der Spaltung der Millî-Görüş-Bewegung mit der Gründung der AKP und einten die türkische Rechte. Konservative und Nationalisten gingen mit den Islamisten um Erdoğan in der neugegründeten AKP auf. Die AKP konnte sich in den Folgejahren – wohlgemerkt für türkische Verhältnisse – als eine Mitte-Rechts-Partei etablieren. Jahrelang gewann die AKP Wahlen auch allein aus dem Umstand, dass sie keine politische Konkurrenz befürchten musste.

…und Ende der AKP  

Inzwischen läuft es aber nicht mehr so, wie die AKP sich gerne sieht. Die Wirklichkeit ist längst ein Hohn auf den Parteinamen: Von Gerechtigkeit und Aufschwung ist nichts zu erkennen. Längst ist aus der AKP eine Ein-Mann-Partei geworden und an die Stelle der säkularen Republik ist Erdoğans Angstrepublik getreten. Inzwischen ziehen sich auch Erdoğans treueste Gewährmänner verbittert zurück und beklagen, dass die AKP ihrem eigenen Gründungsmanifest nicht mehr gerecht werde.  

Wenn aus der AKP nun zwei neue Parteien hervorgehen, so hat das allerdings auch damit zu tun, dass die Altkader die Niederlage der Dava befürchten. Es fällt schließlich auf die islamistische Bewegung zurück, wenn Erdoğans Misere zur Misere der Bewegung wird. Das will man wohl mit ganzer Kraft verhindern und Haltung bewahren. Die Probleme des Landes sind schließlich ungelöst und täglich kommen neue dazu. Erdoğans Offiziere und Matrosen verlassen allmählich das sinkende Schiff.

 

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Die AKP hat für die drängenden Probleme des Landes keine Lösungen mehr im Angebot und der Wähler spürt dies und äußert seine Unzufriedenheit inzwischen auch in Wahlen. Die Spaltung der AKP hatte sich darum bereits im Frühjahr dieses Jahres abgezeichnet, als die AKP viele Großstädte und Kommunen an die Opposition verlor. Insbesondere die verlorene Oberbürgermeisterwahl in Istanbul vom Juni 2019 muss der letzte ausschlaggebende Schlag gewesen sein, sodass nun die einstige Führungsetage der AKP sich auf eine Post-AKP-Ära vorbereitet.

Eine Post-Erdoğan-Ära wird immer wahrscheinlicher. Die Frage ist bloß: Wird sie eine Ära der Revisionen oder der Restaurationen sein?

Am stärksten spürt die andauernde Wirtschaftskrise das Stammklientel der AKP, das von Wahlgeschenken lebt und nun feststellen muss, dass die Spenden der AKP für das einfache Volk ausbleiben. Die islamisch-konservative Mittelschicht fühlt sich ökonomisch wie politisch in Stich gelassen, in Glaubensfragen nicht mehr vertreten und erkennt keinen Ausweg mehr aus der persönlichen Misere. Arbeitslosigkeit, Privatverschuldung und Konsumeinbußen beklagt diese Mittelschicht, und ist dennoch nicht bereit, zur säkularen Opposition zu wechseln. Das trifft auch auf die konservativen Kurden zu, die der AKP den Rücken kehren, und dennoch weder die CHP (Republikanische Volkspartei) noch die HDP (Demokratische Partei der Völker) wählen würden. Diese enttäuschten AKP-Wähler wollen die neuen Parteien nun einsammeln.

Doch die Wirtschaftskrise ist längst um die Staats- und Verfassungskrise erweitert. Der gescheiterte Putschversuch vom Juli 2016 und dann das Verfassungsreferendum vom April 2017 läuteten eine neue Erdoğan-Ära ein. Die Transformation der Republik in ein auf Erdoğan maßgeschneidertes autoritäres Präsidialsystem hat die AKP wie alle anderen Parteien im Parlament überflüssig gemacht. Die einstige Regierungspartei ist auf dem Weg zur Staatspartei inzwischen zu einem vollständigen Anhängsel von Erdoğan geworden. Schon deshalb reagieren Erdoğans einstige Weggefährten so verschnupft. Sie werden als Altgediente schlicht nicht mehr gebraucht.

Die Zukunft der Post-Erdogan Türkei

Nachdem die AKP spätestens 2014 zu einer Ein-Mann-Partei wurde, stellte innerhalb der AKP niemand die Machtfrage, obwohl sich der Niedergang abzeichnete. Erdoğan scheint zunehmend in seiner mystischen Rolle als Märtyrer für die eigene Sache aufzugehen. Vermutlich warteten Ahmet Davutoğlu, Ali Babacan und Abdullah Gül nur darauf, dass Erdoğans Durchmarsch in einer politischen Sackgasse endet.

Darum sind folgende Fragen in naher Zukunft dringend zu klären: Wie wird man so jemanden wie Recep Tayyip Erdoğan los? Was wird von ihm bleiben, wenn man ihn loswird? Das sind Fragen, die sich in der Türkei noch keiner öffentlich zu fragen traut. Spätestens seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 taucht aber immer wieder der Topos einer „AKP ohne Erdoğan“ auf.

Jetzt dürfte auch für die Abtrünnigen diese Zeit gekommen sein. Die AKP spaltet sich nun. Aber werden die einstigen Weggefährten von Erdoğan dessen Erbe antreten oder abtreten? Die Antwort auf diese Frage dürfte wohl die Zukunft der Türkei entscheidend bestimmen. Eine Post-Erdoğan-Ära wird immer wahrscheinlicher. Die Frage ist bloß: Wird sie eine Ära der Revisionen oder der Restaurationen sein?

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch