Montag, 29.06.2020 / 22:07 Uhr

Eine Welt voller Rassismen

Von
Oliver M. Piecha

Der neue Antirassismus kennt vor allem falsche Opfer. Kann es denn sein, dass Opfer von Rassismus nur interessant sind, wenn die Täter „weiß“ sind? Ist der neue Antirassismus tatsächlich so rassistisch?

 

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Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gehört zu den Empörten; der zum Foltertod des Amerikaners George Floyd führende „rassistische und faschistische Ansatz“ habe ihn wie alle zutiefst betroffen gemacht, wie er über Twitter mitteilte. Floyds Tod sei Ausdruck einer „ungerechten Ordnung“, gegen die „wir überall in der Welt sind“. Der iranische Außenminister Javad Zarif stand nicht zurück, er nutzte den Hastag #WorldAgainstRacism um die ganze Welt zum Krieg gegen Rassismus aufzufordern. Sein Chef, Revolutionsführer ali Khamenei, nutzte den Twitterhasttag #BlackLivesMatter bereits 2014 um auf die Verbindung zwischen amerikanischer Polizeigewalt und dem Gazastreifen hinzuweisen. Soviel Antirassismus war selten im Nahen Osten. Sind doch die hochoffiziell Empörten selbst Vertreter rassistisch agierender Staaten und kommen aus Gesellschaften, in denen Rassismus immer noch ganz unschuldig als etwas ziemlich selbstverständliches gilt.

Können keine Rassisten sein

Nur interessiert das fast niemanden. In der Welt des neuen Antirassismus, zumal nach der intersektionellen Lehre, geht es seltsamerweise immer nur um „Weiße“. Und da Erdogan wie Khamenei in der Diktion der Anhänger dieser Lehre nicht „weiß“ sind, sondern als „POCs“ zu gelten haben, können sie per Definition natürlich keine Rassisten sein. Kurden, Armenier oder andere christliche Minderheiten könnten möglicherweise einen etwas anderen Eindruck etwa von der Türkei haben, oder auch die Handvoll farbiger afrikanischer Studenten, die sich im türkisch besetzten Teil Zyperns zu einer kleinen Demonstration versammelt hatten, um auf den Rassismus aufmerksam zu machen, dem sie dort täglich begegnen. Oder die Hazara im Iran, die Angehörigen einer schiitischen Minderheit aus Afghanistan, von denen über zwei Millionen im Iran als Flüchtlinge leben. Anfang Juni verbrannten mindestens drei Hazara in ihrem Wagen , nachdem iranische Polizisten mutmaßlich auf sie geschossen hatten. Ein junger Hazara taumelte brennend aus dem Wrack und flehte um Wasser. Das ist die iranische Variante von „I can’t breath.“

AfghanLivesMatter?

Dass diese Geschichte weltweit allerdings mehr als ein paar iranische und afghanische Aktivisten interessiert hätte, ist nicht bekannt. Anfang Mai sollen iranische Grenzwachen 45 Hazara gezwungen haben, in einen reißenden Bergfluss zu springen. Danach war die Rede von bis zu 45 Toten. Nur, wen interessiert das? Wen interessiert der Hashtag AfghanLivesMatter? Wohin sind die guten, besorgten, demonstrierenden Menschen plötzlich entschwunden?

 

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(Quelle: Twitter)

Die Hazara werden als ethnische und religiöse Minderheit in Afghanistan diskriminiert und sind besonders durch die Taliban gefährdet. Für die Islamische Republik Iran sind die schiitischen Flüchtlinge dabei ein politischer Glücksfall, man versteht sich als ihre Schutzmacht und kann sie vielfältig nutzen; Hazara stellen so einen Großteil der unter iranischem Befehl in Syrien eingesetzten schiitischen Milizionäre, sie waren das Kanonenfutter des Krieges. Als Belohnung für ihren Einsatz winkt ihnen immerhin ein legaler Aufenthaltsstatus für den Iran. Flüchtlinge sind so verletzbar wie erpressbar.

Notorisch im Nahen Osten ist vor allen das Rassismusproblem im Libanon

Entgegen der offiziell propagierten religiösen Verbundenheit gibt es vielfach Belege über die rassistischen Diskriminierungen, denen Hazara in ihrem Alltag im Iran ausgesetzt sind. Sie werden ausgebeutet, und sind weitgehend recht- und schutzlos. Oft sind sie durch ihr körperliches, „asiatisch“ wirkendes Erscheinungsbild und ihren Dialekt erkennbar. So hat wohl jedes Land und jede Gesellschaft ihr Rassismusproblem – nur das der Rassismus in nichtweißen Gesellschaften oft noch ein bißchen unverholener daherkommt als in vielen Ländern des Westens, wo es eben doch für weite Teile der Gesellschaft nicht mehr zum Guten Ton gehört, offen und bewusst rassistisch zu sein.

Palästinenser ohne Staatsbürgerschaft

Notorisch im Nahen Osten ist vor allen das Rassismusproblem im Libanon; das hat sicherlich auch damit zu tun, dass in der relativ freien libanesischen Öffentlichkeit seit Jahren zumindest über Rassismus gesprochen wird. Rassismus im Libanon erstreckt sich von den Palästinensern über dunkelhäutige Libanesen, bis hin zu den asiatischen und afrikanischen weiblichen Hausangestellten. Palästinenser im Libanon sind Menschen, deren Großeltern im Zweifel bereits dort geboren wurden, die aber niemals eine Chance haben werden, die libanesische Staatsangehörigkeit zu erlangen, und die zahlreichen Behinderungen unterliegen, für beliebte Studienfächer und Berufe gelten für sie etwa Quoten. Kann man sich so etwas in Europa vorstellen? Bei den Hausangestellten kommt es immer wieder zu brutalen Mißhandlungsfällen, mitunter werden sie sklavenähnlich gehalten, bekommen ihren Pass weggenommen, auch Tötungsdelikte kommen immer wieder vor.

Die Traditionen der Sklaverei sind ein so wichtiges wie weitgehend verdrängtes Problem vieler islamisch geprägter Gesellschaften.

Die harmlosere Variante des libanesischen Rassismus offenbart sich in „lustigen“ YouTube Videos, bei denen Migranten am Straßenrand aus vorbeifahrenden Autos nassgespritzt werden. Ein kleines soziales Experiment der libanesischen Antirassismus-Aktivisten von KAFA zeigte, dass nicht wenige Libanesen bereit waren, sich im Supermarkt für eine spezielle Seife interessieren zu lassen, die den starken Körpergeruch von schwarzen Hausangestellten überdecken sollte. Ach so, ja, der Libanon ist sicherlich ein ziemlich „diverses“, vielfältiges Land. Nennen wir es doch multikulturell.

Rassismus kein exklusives Phänomen „weißer“ Gesellschaften

Rassismus ist kein exklusives Phänomen „weißer“ Gesellschaften; weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit. Es gibt aber ein regelrecht manisches Interesse, Rassismus alleine auf den Westen zu beziehen. Was wissen wir von dem überseeischen, auf Sklavenhandel gegründeten Reich, das die Sultane von Muscat auf Sansibar errichtet haben? Bis heute werden dunkelhäutige Omanis, die nach der Unabhängigkeit Tansanias zurück in den Oman gingen, diskriminiert. Im Irak gibt es eine mehrere hunderttausend Menschen umfassende dunkelhäutige Minderheit von Nachkommen afrikanischer Sklaven. Auch sie fordern immer wieder ihre Rechte ein, und versuchen ihre arabisch-afrikanischen Traditionen zu pflegen, sehen sich aber teilweise von massiver Gewalt bedroht.

Um reale Menschen und ihr Schicksal, ihre Lebensbedingungen und ihre Würde geht es gar nicht.

Die Traditionen der Sklaverei sind ein so wichtiges wie weitgehend verdrängtes Problem vieler islamisch geprägter Gesellschaften. Daran hat nicht zuletzt der sogenannte Kalifatsstaat erinnert, der die Institution der Sklaverei unter Berufung auf den Islam stolz wiedereingeführt hat. Was wissen wir von dem Privatreich, das der arabische Sklavenhändler Tipu Tipp im Ostafrika des 19. Jahrhunderts gegen die Europäer zu behaupten suchte? Was ist mit der heutigen Antisklavereibewegung in Mauretanien, dem Rassismus gegen dunkelhäutige Afrikaner in Ägypten und den Mahgrebstaaten?

Gesichtsfeldverengung

Die Welt ist nur unter Verlust strikt in Gut und Böse einzuteilen, Historie, die man nicht für den billigen Effekt gegen den Westen, die Aufklärung, und die „Weißen“ nutzen kann, wird ausgeblendet: Eine einzige Gesichtsfeldverengung. Der Kampf gegen „Rassismus“ droht dabei zu einem reinen Platzhalter zu verkommen. Warum sind manche Opfer so viel mehr wert als andere und warum werden manche Geschichten nicht erzählt? In dem Standardwerk „Geschichte der arabischen Welt“, herausgegeben von Ulrich Haarmann, werden zwar immer wieder Sklaven erwähnt, die die arabischen Herrscher etwa in Kriegen einsetzten. Aber es findet sich kein Kapitel, nicht einmal ein Absatz über die herausragende Bedeutung des Sklavenhandels für arabische Gesellschaften. In Albert Houranis populärer „Geschichte der Arabischen Völker“ beschäftigt sich eine von sechshundert Seiten mit Sklaverei. Man kann Islamwissenschaften oder Arabistik studieren, ohne mit dem Thema in Berührung zu kommen. Man stelle sich das einmal für einen Studenten der Amerikanistik vor.

Das Schluchzen des weißen Mannes

Rassismus, Sklaverei, alles Böse der Welt – eine exklusive weiße Angelegenheit. So gesehen ist der neue Antirassismus und die intersektionelle Priesterschaft mit ihren Nebenkulten Critical Whiteness und Postcolonialism auch wieder nur ein Aufguß des alten Eurozentrismus. Wenn denn das Wohlergehen dieser Welt schon nicht mehr „the white man‘s burden“ sein darf, wie das Rudyard Kipling einmal so schön gedichtet hat, dann muß die ganze Welt ersatzweise vom weißen Wehklagen widerhallen –Pascal Bruckner hat über diese Haltung anhand des damals modischen „tiers-mondisme“ in den achtziger Jahren vom „Schluchzen des weißen Mannes“ gesprochen. Es bleibt dabei immer dieser hässliche Verdacht: Um reale Menschen und ihr Schicksal, ihre Lebensbedingungen und ihre Würde geht es gar nicht, das alles dient nur als Projektionsfläche.

Die ägyptische Aktivistin Sarah Hegazy, verhaftet und gefoltert wegen des Schwenkens einer Regenbogenfahne, hat sich Mitte Juni umgebracht. In einem Text von 2017 schreibt sie über ihre Erfahrungen mit der Staatsgewalt Ägyptens: „Wer anders ist, wer kein männlicher sunnitisch-muslimischer Heterosexueller ist, der das herrschende Regime unterstützt, gilt als verfolgt, unantastbar oder tot.“ Es ist eine Welt, die ganz ohne den notorischen weißen Mann auskommt, und in der sein kaffeebraunes Pendant um keinen Deut besser ist.

Eine böse Welt da draußen

Es ist eine böse Welt voller Rassisten da draußen. Und sie ist vielleicht noch viel böser noch etwas weiter da draußen, wo – um es im intersektionalen Jargon zu sagen – „POCs“ (people of colour) dann „BPOCs“ (black people of colour) drangsalieren , denn der Hautfarbenrassismus ist keineswegs beschränkt auf „Weiße“: Dann steht Hellbraun gegen Dunkelbraun. Bloß dass das wieder keinen mehr interessiert.

Es verschwindet im ideologischen Dunst einer westlichen Nabelschau, welche reale oder imaginierte Hautfarbe die Protagonisten dieses Diskurses um Selbstmandatierung denn nun auch immer haben mögen; in der Regel sind sie jedenfalls ziemlich privilegiert, akademisch ausgebildet, haben Zugang zu Medien, Universitäten und Fördergeldern und betreiben ein gut laufendes Geschäftsmodell. Man möchte fast hoffen, dass sie jenseits von Twitter, Vortragspodien und Seminarräumen nie mit dieser häßlichen Welt da draußen einmal unabsichtlich in Kontakt geraten, wo Minderheiten gegen Minderheiten stehen, der Beduinen mit langer Ahnenreihe auf den wurzellosen Städter herabblickt, dessen Großvater hier ja erst vor 100 Jahren hängengeblieben ist, oder der Kurde sich erstmal als Arier outet um dann einen Witz über Araber zu reißen.

Es ist eine wirklich bunte Welt, aber sie kommt in der monochromen Fixierung auf den Westen gar nicht vor. Alle hassen sich hier gegenseitig und ziehen übereinander her, und das mit einer offensichtlichen Lust und Laune, mit einer Selbstverständlichkeit, die in jedem moralinsauren westlichen Gemüt nur Entsetzen hervorrufen kann. Zu dieser Welt voller gegenseitiger Abneigung gehört allerdings auch, dass sie einen Teil ihrer Bösartigkeit wieder verliert, denn da, wo es normal ist, daß irgendwie jeder rassistisch ist, und seine Vorurteile gegenüber der benachbarten Minderheit pflegt, bekommt das Ganze dann auch schnell den Zug einer leicht schrulligen Tradition. Jedenfalls bis zum nächsten Pogrom. Und wenn man nicht derjenige ganz unten auf der Leiter ist. Aber klar, das ist eine reale Welt fern der behutsamen Sprachpfleger aller geistigen ZDFs, die schon die Kleinsten anleiten möchten in Zukunft „Menschen auf Color“ zu sagen.


Beitrag gekürzt zuerst erschienen auf Mena-Watch