Dienstag, 28.07.2020 / 13:29 Uhr

Desaströses Krisenmanagement: Corona in Israel

Von
Oliver Vrankovic

Während Proteste gegen den Premierminister zunehmen und die Zahlen von Neuinfektionen weiter steigen, scheint zeichnet sich die israelische Regierung durch planloses Krisenmanagement aus.

 

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(Proteste gegen Netanjahu in Jerusalem, Bild: Olivier Fitoussi/ Flash90)

 

Als wäre die Lage nicht schon schlimm genug, ächzen Israelis dieser Tage unter einer Hitzewelle: 31 Grad im Schatten morgens um 10 machen Afula ohnehin zu einer no-outside-go area und bis Mittag wird die Temperatur auf 36 Grad im Schatten steigen. Am Busbahnhof patrouillieren zwei Polizisten die Abfahrtsplattformen und ermahnen jede Person, die ihre Maske gelockert hat, zur Einhaltung der Pflicht, Mund und Nase bedeckt zu halten. Und vor Abfahrt des Busses nach Tel Aviv steigen die Ordnungshüter kurz zu, um daran zu erinnern, dass die größte Ansteckungsgefahr in öffentlichen Verkehrsmitteln besteht. 

Wohl wissend, dass die Hauptstadt des Yezrael Tals bis dato glimpflich davongekommen ist, werden die Ermahnungen akzeptiert, wie sonst akzeptiert wird, nach Waffen durchsucht zu werden. 

Seit drei Wochen werden jeden Tag 1000-2000 Israelis positiv getestet. Ca. 32.000 Menschen sind in Israel aktuell infiziert. In Deutschland sind aktuell, bei zehnfacher Einwohnerzahl, ca. 7000 Menschen infiziert. 

In den ultraorthodoxen Gemeinden Bnei Brak, Beit Shemesh, Beitar Illit und Modi'in Illit fallen 1/5 der Tests positiv aus. Obwohl Covid-19 extrem überproportional im ultraorthodoxen Sektor auftritt ist die Ansteckungsgefahr omnipräsent. 

Massive zweite Welle

Seit einiger Zeit schlägt sich die massive zweite Ansteckungswelle auch in der Zahl schwer verlaufender und tödlich verlaufender Fälle nieder. Vier der fünf größten Krankenhäuser Israels melden, dass ihre Corona Stationen an die Kapazitätsgrenze gelangt sind. Das Hadassah in En Kerem ist zu 120% ausgelastet, die Virusabeilung zu 160%. Zur Zeit sind mehr als 3000 israelische Ärzte, Schwestern und Pfleger und andere im Gesundheitswesen Beschäftigte in Quarantäne. Professorin Galia Rahav, die der Abteilung für Infektionskrankheiten in Israels größtem KKH, Tel HaShomer in Ramat Gan, vorsteht, beklagt, dass sie täglich neuen Raum für Patienten und mit vorzeitigen Entlassungen Kapazitäten für Aufnahmen schaffen muss. 

Die Anzahl der Israelis, die finanziellen Schaden genommen haben, ist ungefähr gleich groß wie die Anzahl der Israelis, die keinen finanziellen Schaden nehmen. 

Im dem Altenheim, in dem ich arbeite, wurde die Distanz-, Masken- und Hygienepflicht einem Stresstest unterzogen. 

Wir und die BewohnerInnen müssen uns seit Monaten so verhalten, als ob wir uns unwissentlich infiziert hätten. Falls sich Jemand tatsächlich unwissend infiziert, soll so die Ausbreitung innerhalb des Heims eingedämmt werden. Letzte Woche wurde aus der Antizipation des Eindringens der Seuche ins Heim bittere Wirklichkeit. Eine Mitarbeiterin wurde positiv getestet.

Da Corona für viele BewohnerInnen des Heims einem Todesurteil gleich kommt, wurde aus Sorge Angst. Für den folgenden Tag wurde ein Test für alle BewohnerInnen, MitarbeiterInnen, private BetreuerInnen und zuletzt im Heim Beschäftigte angeordnet. Uns wurde mitgeteilt bis auf Weiteres jeden Kontakt auch außerhalb des Heims zu vermeiden und die Bewohner wurden in ihre Wohneinheiten verbannt, ähnlich den Maßnahmen auf der Höhe der ersten Infektionswelle im Frühjahr. Alle Vorträge und die meisten Mitmachangebote wurden ausgesetzt und der Speisesaal, in dem zuletzt in zwei Schichten zu Mittag gegessen wurde, blieb für die BewohnerInnen ab dem Vormittag geschlossen. Mittag-  und Abendessen wurde in Einweg abgepackt in die Wohneinheiten gebracht. Die Möglichkeit sich unter Einhaltung des Abstandsgebot und der Maskenpflicht im Vorhof mit Angehörigen zu treffen blieb bestehen. 

Der Test letzten Mittwoch fiel bei allen Getesteten negativ aus, morgen werden sie allerdings einem zweiten Test unterzogen. 

Es scheint als haben wir alles soweit richtig gemacht, so anstrengend und nervenaufreibend es auch über die Dauer von mehreren Monaten ist, im Krisenmodus zu arbeiten.

Anderswo wird weit weniger Verantwortungsbewusstsein an den Tag gelegt. 

Historisches Versagen

Das Ausmaß des politischen Versagens in dieser Krise hat eine geschichtsträchtige Dimension. Zu der Gesundheitskrise, die zur -katastrophe zu werden droht kommt die Wirtschaftskrise, mit der eine Erwerbslosenquote von 1/4 einhergeht. Viele Israelis plagen sich inzwischen mit der Sorge, wie sie Essen auf den Tisch bekommen sollen. Die Anzahl der Israelis, die finanziellen Schaden genommen haben, ist ungefähr gleich groß wie die Anzahl der Israelis, die keinen finanziellen Schaden nehmen. 

Die Anwendung von Gewalt gegen die Proteste ist bereits jetzt grenzwertig und in vielen Fällen inakzeptabel.

In täglichen Protesten im ganzen Land wird der Unmut über die Regierung lautstark auf die Straße gebracht. Am Samstag Abend versammelten sich Zehntausend bei der Residenz des Premiers und weitere Tausende bei seiner (inzwischen steuerfinanzierten) Privatresidenz im Nobelort Caesarea und weitere Tausende an Hunderten Kreuzungen im ganzen Land. Die sozialen Netzwerke sind geflutet mit Bildern der energischen und kreativen Proteste und leider auch mit Bildern der, mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Protestierenden vorgehenden, Staatsmacht.

Contenance verloren

Netanyahu und seine Vertrauten haben längst die Contenance verloren. Der Premier wütet auf seinen sozialen Medienkanälen gegen die "Anarchisten" und die Medien, die über die Proteste berichten und Vertraute Netanyahus gehen so weit, das Recht auf Versammlungsfreiheit in Frage zu stellen,  während der Minister für Innere Sicherheit, Amir Ohana, die Polizei zu noch härterem Vorgehen drängt. 

 

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(Bildquelle; Olivier Fitoussi/ Flash90)

Dabei ist die Anwendung von Gewalt gegen die Proteste bereits jetzt grenzwertig und in vielen Fällen inakzeptabel. Nach Meinung vieler Rechtsexperten setzt die Polizei unerlaubt Wasserwerfer ein. Ein besonders schwer verdauliches Bild der letzten Tage zeigt, wie ein Demonstrant von einem Hochdruckstrahl direkt am Kopf getroffen wird. Andere Bilder von Demonstranten, die zusammengekauert versuchen, sich mit ihren Pappeschildern vor den Wasserwerfern zu schützen (und dabei noch eine Israel Fahne hochhalten) sind bereits Ikonen des Protests. 

Wirkungslose Rezepte

Netanyahu bekommt seine Anhänger auch deshalb nicht gegen die "Anarchisten" in Stellung, weil die Krise in seinen Hochburgen in der Peripherie stark zu spüren ist. Selbst sein sonst wirksames Rezept Fake News zu verbreiten, wie z.B. dass ("der Freund des Pädophilen Eppstein") Ehud Barak hinter den Protesten steckt, und Araber und sonstwer, bleibt zur Zeit wirkungslos. Ein paar Hartgesottene konnten dann aber doch gegen die Proteste aufgestachelt werden. Auf einer Demonstration in Jerusalem kreuzten Anhänger der rechtsradikalen Ultra Gruppe La Familia in Straßenkampf Montur auf einer Demo auf, an der Kreuzung Sha'ar HaNegev wurde einem Demonstranten in den Hals gestochen und an einer Kreuzung in Ramat Gan bei mir uns Eck wurden Demonstranten von Unbekannten mit Pfefferspray attackiert. 

Vertrauensverlust

Das Momentum ist klar auf der Seite der Demonstrierenden. Die jungen wütenden Menschen lassen sich weder von Netanyahu noch von Ohana einschüchtern. Die Proteste stehen in einer langen demokratischen Tradition großer Menschenmengen, die ihren Unmut öffentlich äußern. In den letzten Jahren waren Anti-Netanjahu-Kundgebungen größtenteils von ergrauten Sozialliberalen getragen, die sich um ihre Aufbauleistung betrogen sehen. Jetzt werden die Proteste von jungen Menschen geführt, bei denen sich schon vor der Corona Krise viel Wut über die immer autoritärer werdende Netanyahu Amtszeit und der damit verbundenen Beschädigung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, angestaut hat. Doch in ihrem Gefolge finden sich nicht nur Liberale und Linke. Der Vertrauensverlust in die Regierung erfasst immer mehr Menschen. 

Jeden Tage eine andere Regelung

Das Krisenmanagement wird indes immer desaströser. Beispiele? Der parlamentarische Corona Ausschuss hat zum zweiten Mal einen Kabinettsbeschluss, nachdem Fitnessstudios geschlossen werden sollten, überstimmt. Restaurants sollten ursprünglich geschlossen werden, am Wochenende geschlossen werden, nur draußen bedienen usw. Jeden Tag eine andere Regelung. Z.Zt. gilt eine Beschränkung der Zahl der Gäste innen (20) und außen (30). Der Kulturbetrieb, so wird aus dem parlamentarischen Corona Ausschuss vernommen, soll noch vor dem Winter wieder anlaufen.

Um den Auseinandersetzungen mit dem Parlament zu entgehen hat die Regierung ein Gesetz zu dessen Umgehung beschlossen. Dieses soll ein unmittelbares Reagieren auf die Entwicklungen sicher stellen. Dieses Gesetz ist in den Händen der jetzigen Regierung, aus denen Reihen einige Angriffe auf demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien kamen, nicht unbedenklich.

 

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(Bildquelle; Olivier Fitoussi/ Flash90)

Im Zuge der Re-Formierung der Entscheidungswege hat Netanyahu außerdem das Corona-Kabinett (das über Restriktionen entscheidet) auf zehn Minister gestaucht. Minister, weil es sich ausschließlich um Männer handelt. 

Außerdem wurde ein Corona Beauftragter gefunden. Nach Absage des aus dem TV bekannten Professor Barbash wird Ronni Gamzu, Direktor des Ichelov KKH in Tel Aviv dieses Amt antreten. Gamzu soll einen Weg finden die Übertragungsketten zu durchbrechen.

Gleichzeitig entfaltet sich zu allem Überfluss eine Regierungskrise infolge einer nicht mit Corona in Zusammenhang stehenden Auseinandersetzung zwischen den Parteien der Regierung, nachdem die von Gantz geführte Hälfte der Koalition mit der Opposition für ein Verbot der Konversionstherapie gestimmt hat. Die Ultraorthodoxen haben signalisiert, nicht darüber hinwegzusehen und die Chancen für Neuwahlen, die dem Chaos hier noch die Krone aufsetzen würden, stehen nicht schlecht. Zumal Netanyahu hinsichtlich seines Prozess unbedingt das Justizministerium wieder mit einem Vertrauten besetzen möchte. In der Zwischenzeit monieren die Ultraorthodoxen an der geplanten Begrenzung der Einmalzahlungen für Familien herum, die für Familien mit einem Kind 2000 Shekel vorsieht, bei Familien mit drei Kindern 2500 Shekel und ab vier Kinder 3000 Shekel. Die Ultraorthodoxen hätten gerne eine weitergeführte Aufstockung pro Kind. 

Und als sei das nicht schon mehr als genug, braut sich im Norden eine militärische Auseinandersetzung mit der Hezbollah zusammen.