23.02.2017
Inland Der türkische Ministerpräsident ­Binali Yıldırım hat in Oberhausen für die Verfassungsreform und die Todesstrafe geworben

Viel Evet, wenig Hayir

In Oberhausen warb der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım am Wochenende um die Zustimmung der Deutschtürken zum Referendum über die Verfassungsreform. Diese soll Präsident Recep Tayyip Erdoğan deutlich mehr Macht geben und die Wiedereinführung der Todesstrafe ermöglichen.

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Die Pressefreiheit ist offensichtlich kein hohes Gut für die türkische AKP-Regierung und ihre Statthalter in Deutschland von der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Dass der Jungle World die Akkreditierung für den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım in der König-Pilsener-Arena in Oberhausen verweigert wurde und auch ein Korrespondenten der Taz und ein Mitarbeiter des Recherchenetzwerks Correctiv die Halle nicht betreten durften, ist dabei noch ein kleineres Problem. 
Die demonstrative Verachtung für die Pressefreiheit ist in Deutschland ärgerlich, in der Türkei ist sie gefährlich: Deniz Yücel, Mitherausgeber und ehemaliger Redakteur der Jungle World und mittlerweile Türkei-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt, sitzt wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Polizeigewahrsam. Das Erdoğan-Regime hat mittlerweile Hunderte von Journalisten und Journalistinnen entweder in die Gefängnisse der Türkei verschleppt oder arbeitslos gemacht, indem es Zeitungen und Sender schließen ließ.
Die Politik der Unterdrückung jeder Opposition soll durch eine Verfassungsreform weiter verschärft werden, über die im April auch fast 1,5 Millionen in Deutschland lebende Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft abstimmen können. Die Verfassungsreform, für die Yıldırım in Oberhausen warb, würde das Ende der Demokratie in der Türkei bedeuten. Wird sie beschlossen, wird Yıldırım sein Amt als Ministerpräsident verlieren, denn es soll mit dem des Präsidenten verschmolzen werden. Das neue, auf Erdoğan zugeschnittene Amt soll über nahezu unbegrenzte Macht verfügen: Der Präsident kann den Plänen zufolge per Dekret Gesetze erlassen und benötigt dafür auch im Nachhinein nicht die Zustimmung des Parlaments. Die Zentralbank und die Justiz verlieren noch stärker an Unabhängigkeit. Die Zusammenlegung von Präsidentschafts- und Parlamentswahl, die erstmals 2019 stattfinden soll, wird Erdoğans AKP stärken. Sollte das Referendum erfolgreich sein, so verkündete Erdoğan, könnte auch bald die Todesstrafe wiedereingeführt werden. Wenn also alles klappt, wie es die Führung in Ankara plant, kann Erdoğan durch eine geänderte Verfassung die Türkei bis 2034 – drei fünfjährige Amtszeit lang – nahezu ohne Einschränkungen regieren.
Genau diese Politik bejubelten die zwischen 8 000 und 10 000 AKP-Anhänger am Samstag in Oberhausen. Yıldırım beschwor in seiner Rede nach Medienangaben die Stärke der Türkei, forderte die türkische Fahnen schwenkenden Zuschauer zu »sehr hohem Selbstbewusstsein« als Türken auf und rief ihnen zu: »Ihr seid nicht alleine. Rund 80 Millionen Türken in eurer Heimat sind mit ihren Gedanken und Gebeten bei euch, euer Präsident und euer Ministerpräsident stehen hinter euch!«
Die Menschen, die Yıldırım zujubelten und Erdoğan die Treue schworen, unterstützen so nicht nur eine Politik, die die demokratische Entwicklung der Türkei für lange Jahre unterbinden dürfte, sondern auch eine Regierung, die in den vergangenen Jahren auf fast allen Feldern versagt hat. Erdoğan ließ den Konflikt mit den Kurden und der PKK eskalieren. In etlichen Regionen der Türkei herrscht Krieg, das Militär geht gegen die eigenen Bürger vor. Die Türkei ist ein zerrissenes Land. Anhänger und Kritiker Erdoğans sehen sichkaum noch als politische Gegner, sondern als Feinde, die sich gegenseitig bekämpfen.

Die Verfassungsreform, für die der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım in Oberhausen warb, würde das Ende der Demokratie in der Türkei bedeuten.

Wird die Todesstrafe tatsächlich wiedereingeführt, ist ein EU-Beitritt der Türkei nicht mehr zu verhandeln. Nur die schmutzige Vereinbarung, den Europäern die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten vom Leib zu halten, sorgt dafür, dass Erdoğans Regime noch ein Gesprächspartner für die EU ist. Wirtschaftlich verschlechtert sich die Lage der Türkei. Die wichtige Tourismusbranche leidet unter ausbleibenden Gästen aus Europa. Die türkische Exportwirtschaft hat es nicht geschafft, auf den internationalen Märkten mit hochwertigen Produkten gegen die Konkurrenz anzutreten. Mit sogenannter weißer Ware und No-Name-Marken ist das Land wirtschaftlich auf Dauer chancenlos. Rating-Agenturen haben die Türkei längst auf Ramschniveau heruntergestuft. Kredite werden damit für Erdoğan teurer.
Doch die, die ihm und Yıldırım in Oberhausen applaudierten, nehmen das offenbar nur aus der Ferne wahr und träumen von einer großen, mächtigen Türkei, obwohl der Versuch längst gescheitert ist, den Status eines Schwellenlandes hinter sich zu lassen. Diese Deutschtürken fühlen sich von Erdoğan ernstgenommen und fabulierten am Tag von Yıldırıms Auftritt ins Mikrophon des Berliner Journalisten Martin Lejeune, die Türken seien die neuen Juden, so schlimm sei es in Deutschland.
Diejenigen, die in Oberhausen gegen den Auftritt Yıldırıms auf die Straße gingen, sahen das anders. Dem »Evet«, dem »Ja« zum Referendum, mit dem die Veranstaltung überschrieben war, setzten sie ihr »Hayir«, »Nein«, entgegen. Ein kurdischer Redner warf Erdo­ğan vor, nach Jahren der Verhandlungen ohne Grund den Krieg gegen die Kurden wiederaufgenommen zu haben. Die 700 Menschen, die gegen Yıldırıms Auftritt protestierten, wurden von einem starken Polizeiaufgebot begleitet. Unruhig wurde es nur kurz, als Anhänger Erdoğans die Gegendemonstranten aus Autos heraus vor der Arena beschimpften. Noch bevor Yıldırım seine Rede beendet hatte, waren die Protestierenden gegangen. Die jenigen unter ihnen, die Verwandte und Freunde in der Türkei haben, dürften das Land angesichts der Entwicklung für Jahre verloren geben. Von Seiten der Politik in Deutschland wird kaum Hilfe zu erwarten sein. Zwar äußerten sich Politiker etlicher Parteien kritisch über den Auftritt Yıldırıms in Oberhausen, aber deutliche Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten und der Opposition in der Türkei blieben aus. Denn zu wichtig ist die Zusammenarbeit mit Erdoğan bei der Abschottung Europas gegen Flüchtlinge, als dass man es sich mit ihm und seinen Vasallen verderben wollte. Ob Imame der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) hierzulande Regimekritiker bespitzeln,  führende Politiker wie Yıldırım indirekt für die Todesstrafe werben oder deutsch-türkische Journalisten wie Deniz Yücel im Knast verschwinden, spielt da nur eine untergeordnete Rolle. Und daran dürfte sich auch kaum etwas ändern. Gerüchten zufolge will auch Erdoğan persönlich in den kommenden Wochen nach Deutschland kommen, um für die Zustimmung zum Referendum zu werben.

23.02.2017
Inland Deniz Yücels Festnahme in der Türkei

#FreeDeniz

Der »Welt«-Korrespondent und »Jungle World«-Mitherausgeber Deniz Yücel ist wegen seiner Berichterstattung in der Türkei verhaftet worden. Ihm droht ein Gerichtsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

von Ivo Bozic
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Am Montag hatte ein türkischer Staatsanwalt darüber zu entscheiden, ob der Journalist Deniz Yücel weitere sieben Tage ohne richterliche Anhörung in Polizeigewahrsam verbringen sollte. Er entschied: Ja, das soll er. Es ist also davon auszugehen, dass Yücel bis zur staatsanwaltschaftlichen Vernehmung und dem anschließenden Haftprüfungstermin am kommenden Dienstag in einer Polizeizelle bleibt. Danach könnte er freigelassen werden – oder in Untersuchungshaft kommen. So oder so könnte ein Verfahren gegen ihn eröffnet werden.
Wer Deniz Yücel kennt – und wir in der Jungle World kennen unseren ehemaligen Redaktionskollegen, unseren Freund und Jungle-Mitherausgeber, selbstverständlich ziemlich gut –, wer also Deniz kennt, der weiß: Der lässt sich nicht so leicht einschüchtern. Da muss schon jemand anderes kommen als so ein Recep Tayyip Erdoğan. Doch genau darum scheint es Erdoğan zu gehen: ihn zu entmutigen.
Deniz Yücel, seit 2015 Türkei-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt, sitzt seit Dienstag voriger Woche in Istanbul in Polizeigewahrsam. Der Vorwurf lautet vermutlich – sicher ist das bisher nicht – Datenmissbrauch und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das ist so hanebüchen, so verrückt, so durchschaubar, dass man gar nicht die dem widersprechenden Fakten anführen mag, weil man sich damit bereits auf diese Wahnvorstellungen einlassen würde. Doch es hilft nichts. Der Wahn ist wohlkalkulierte politische Strategie: Erdoğan will, daran kann es keinen Zweifel geben, die freie Presse in der Türkei vollständig mundtot machen. Etwa 130 Journalisten sitzen bereits in Untersuchungshaft, 150 Medien wurden geschlossen, Hunderte Presseausweise annulliert. Die Pressefreiheit in der Türkei – es steht nicht schlecht um sie, nein, nein: Es gibt sie nicht mehr. Denn wenn die Angst regiert, hat die Freiheit bereits verloren. Eine Reihe von Korrespondenten hat die Türkei schon aus Angst verlassen. Aus berechtigter Angst, wie man sieht. Andere wurden von ihren Redaktionen abgezogen, wie etwa im Fall der New York Times.
Ausländische Journalisten, die in der Türkei unerwünscht sind, werden üblicherweise ausgewiesen. Das ging bei Deniz Yücel nicht, denn er besitzt neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft – und das könnte in der derzeitigen Lage zum Problem für ihn werden. Denn die Türkei behandelt ihn wie die anderen türkischen Journalisten – und wie man weiß, behandelt sie die gar nicht gut. Der Vorteil, den die anderen Kolleginnen und Kollegen nicht haben, ist, dass er eben auch einen deutschen Pass besitzt und sich die Bundesregierung deshalb für ihn einsetzt. Das tut sie, wie man hört, so gut sie kann. »Die Bundeskanzlerin, der Außenminister und das gesamte Auswärtige Amt stehen hinter dem Bemühen, zu verhindern, dass Herr Yücel dauerhaft seine Freiheit verliert«, formulierte Außenamtssprecher Martin Schäfer in schönstem Diplomatengeschwurbel. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) versprach in einem Gespräch mit der Taz: »Herr Yücel kann sich darauf verlassen, dass deutsche Stellen alles tun werden, um ihn konkret zu unterstützen.«
Bei den Vorwürfen gegen unseren Freund und Kollegen geht es offenbar darum, dass er über die linke Hackergruppe Redhack berichtet hat, die im September 2016 fast 60 000 E-Mails des türkischen Energieministers Berat Albayrak, Erdoğans Schwiegersohn, veröffentlicht hatte. In den E-Mails geht es auch um gezielte staatliche Medienmanipulationen. Deniz Yücel schrieb darüber. Das reicht offenbar für die türkische Justiz, um ihm Terrorismus vorzuwerfen. Für sechs türkische Kollegen, die ebenfalls über den Fall berichteten, hat es auch gereicht. Sie wurden am 25. Dezember festgenommen, drei kamen in Untersuchungshaft. Deniz Yücel war seit diesem Tag untergetaucht.
Doch es ist müßig, sich mit den Vorwürfen detailliert zu beschäftigen – nur Deniz Yücels Anwälte müssen das selbstverständlich tun –, denn es ist offensichtlich: Wenn es nicht diese Sache gewesen wäre, dann hätte man den Journalisten etwas anderes angehängt, um sie zum Schweigen zu bringen.
Selbst wenn sich die Bundesregierung und das Auswärtige Amt aus diplomatischen Gründen öffentlich zurückhalten, gibt es bereits große Unterstützung für Deniz. Während der Berlinale solidarisierte sich am Samstagabend Festivalleiter Dieter Kosslick sehr öffentlichkeitswirksam, Deniz Yücels Freunde und Kollegen veranstalteten am Sonntag einen Autokorso durch Berlin. Etwa 80 Autos mit 300 bis 400 Menschen fuhren laut hupend durch die Stadt. Sollte der Haftprüfungstermin am Dienstagnachmittag zu Ungunsten von Deniz ausfallen, soll es noch am gleichen Abend weitere Aktionen in mehreren Städten geben. In den sozialen Netzwerken sammeln sich die Unterstützer unter dem Hashtag #FreeDeniz.
Doch Deniz hat, weil er ein leidenschaftlicher, engagierter Journalist ist, nicht nur Freunde. Auch eine Welle des Hasses und der Schadenfreude schlägt ihm von AKP-Anhängern und AfD-Claqueuren entgegen, die sich vor allem aus Artikeln Yücels aus seiner Zeit bei der Taz und der Jungle World speist. Er hat dort genüsslich und polemisch die Deutschen provoziert – und auch die Antideutschen. Etwa als er zur WM 2006 begrüßte, dass Menschen mit Migrationshintergrund mit Deutschlandfahnen Korso fahren – als gelungene Integration und als Fortschritt, nämlich als Aufweichung des völkischen Nationalismus hin zu einem staatsbürgerlichen. Zum Jungle-internen »Public Viewing« in den Redaktionsräumen brachte er einen Grill und Deutschlandfähnchen mit. Wir hatten großen Spaß, trotz des ganzen Qualms unter der Zimmerdecke. Deniz ist kein Journalist und auch kein Mensch, der anderen nach dem Mund redet, er will in jeder Hinsicht anregen, aufregen. Und das ist genau das, was Leute wie Er­do­ğan, die Ruhe haben möchten, stört.

Welches Wahnsinnsregime kann einen solchen Menschen einsperren?


Auch international findet der Fall Beachtung. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sagte der Luxemburger Wochenzeitung Woxx, er sehe auch die europäischen Staaten in der Pflicht: »Die Türkei ist bekannterweise Mitglied des Europarates. Da gibt es ganz präzise Regeln, die zu befolgen sind. Ich glaube, dass dieser Prozess sehr viele Beobachter in Europa und vielleicht sogar außerhalb Europas finden wird.« Zudem verwies Asselborn auf die Abhängigkeit der Türkei von der EU: »Ohne das Potential der Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union hätte die Türkei in den letzten zehn Jahren nicht diesen Aufschwung genommen. Und der kann ganz abrupt gestoppt werden, wenn die Verbindung zur Europäischen Union abgeschnitten wird. Das muss man sich in der Türkei vor Augen halten.«
Deutlich ist, dass die Angelegenheit für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein Problem werden könnte. Sollte es nicht gelingen, auf diplomatischem Weg eine Möglichkeit zu finden, Deniz Yücel vor einer langen Haft zu bewahren, müsste die Bundesregierung realen Druck aufbauen – und wie man weiß, ist Erdoğan dafür wenig empfänglich. Es müssten dann also recht schwere Geschütze aufgefahren werden. Sollte die Bundesregierung das, aus Rücksicht auf ihren Flüchtlingsdeal mit der Türkei und die guten Geschäftsbeziehungen, nicht tun, dürfte das wiederum keine gute Ausgangslage für Merkels Wahlkampf sein. Die Bundeskanzlerin ist mithin so oder so schon unter Druck. Mal wieder dank Erdoğan.