Kiste aus und raus!

Die militanten Filmaktivisten des Kollektivs »Argentinien brennt!« kämpfen an der Seite der Piqueteros. von hilmar poganatz

Elf Stockwerke über der weiten, urbanen Ebene des Millionen-Molochs Buenos Aires funkt der Piratensender verwackelte Bilder von blutigen Straßenschlachten in die geschlossenen Viertel der Wohlhabenden und in die Slums neben der Stadtautobahn. Rund zehn Millionen Menschen erreicht der illegale, aus der Arbeitslosenbewegung der Piqueteros hervorgegangene Fernsehsender mit seinen hautnahen Reportagen von Konfrontationen mit der Polizei, von der Revolte der Besitzlosen und der Arbeiter in den besetzten Fabriken.

Aber noch ist dieser politisch brandgefährliche Piratensender nur ein Traum. Doch bis Ende dieses Jahres will Fernando Krichmar, einer der Köpfe der linken Filmbewegung Cine Insurgente, die Idee Wirklichkeit werden lassen. Bis dahin will die 15 Produzenten umfassende Gruppe Aufständisches Kino, die das Deutschlandradio jüngst als die »gegenwärtig wichtigste politische Filmbewegung Lateinamerikas« bezeichnet hat, einen eigenen Fernsehsender im Gebäude der Mütter der Plaza de Mayo im Zentrum der argentinischen Hauptstadt installieren.

Schon jetzt sorgt Cine Insurgente als Motor der Videobewegung Argentina Arde! (Argentinien brennt!) mit einer Vielzahl an Ausstellungen und Vorführungen seiner kompromisslosen Filme in Argentinien für Aufsehen und trägt zur Mobilisierung der Arbeitslosen und Unzufriedenen bei. Ihr erster Film »La Resistencia« enstand bereits 1995 als Dokumentation einer der ersten großen Straßenblockaden (Piquetes), die der Arbeitslosenbewegung ihren Namen gegeben haben. »Seitdem drehen wir Filme, die innerhalb der Bewegung entstehen und eine andere Sicht als die der Massenmedien vermitteln«, erläutert Krichmar, der die Gruppe als mittelloser Filmstudent mitbegründet hat. Er meint: »Diese Filme sind Waffen.«

Eine gewisse Breitenwirkung erhoffen sich die Film-Rebellen durch die Zusammenarbeit mit den Müttern der Plaza de Mayo, einer auch außerhalb Argentiniens angesehenen humanitären Organisation, die sich zu Zeiten der Militärdiktatur organisierte. Ungesichert ist allerdings die Finanzierung des Senders.

Mit der Filmreihe »Cine Piquetero« haben Krichmar und sein Mitstreiter Fernando Roca eine Tour mit rund 30 Vorführungen durch Frankreich, Spanien, Belgien, Italien gemacht, um finanzielle Unterstützung zu finden und um Kontakte zu dem Piratensender PrimiTivi in Marseille oder zu Clot RTV in Barcelona zu knüpfen. Höhepunkt der Europareise war schließlich ein Auftritt im Rahmen des Forums der Berlinale.

Einen verbindlichen Stil kennt das Videokollektiv nicht. Seine Kurzfilme sind mit der heißen Nadel der Dringlichkeit gestrickt. Doch es wurden auch ein paar längere Dokumentationen und Spielfilme produziert. Eingesetzt werden Interviews genauso wie Archivmaterial, wackelige Bilder mit bewegter Kamera genauso wie Stilelemente des Musikvideos. »Unser Stil ist vollkommen frei«, sagt Krichmar. »Wir versuchen einzig, die Stimme aus dem Off zu vermeiden.« Stattdessen lässt man die Genossen sprechen.

In harten, bewegenden, sehr direkten und kaum geschnittenen VHS-Bildern sieht man z.B. die Erstürmung der Supermärkte im Dezember 2001, die Aktionen verarmter Rentner und den Kampf um die besetzte Textilfabrik Brukman. Bei der Dokumentation von Zusammenstößen mit der Polizei sind die Filmer von Cine Insurgente immer mitten unter den Demonstranten. Sie machen die Schreie von Wut und Verzweiflung hörbar und zeigen ohne Gnade die blutenden Körper der erschossenen Demonstranten. »Wenn wir filmen, begeben wir uns in dieselbe Gefahr wie die Genossen, die den Kampf führen. Eine unserer Helferinnen ist beim Filmen von 17 Gummikugeln der Polizei getroffen worden«, erzählt Krichmar, der auch selbst schon Gummigeschosse zu spüren bekam. In einigen Einstellungen entlarven die Filme, wie Zivilpolizisten auf Piqueteros feuern. Krichmar ist sich sicher: »Die kennen uns schon und zielen direkt auf uns.« Das heißt nicht, dass es einen allgemeinen Staatsterror wie in den Siebzigern gibt, meint er. Dass Krichmar und seine Mitstreiter sich für einen bewaffneten Kampf der Arbeiterklasse einsetzen, ist bekannt. In Berlin schüttelten ihm die Vertreter der argentinischen Botschaft und der Filmakademie trotzdem die Hand. »Weil sie Angst vor uns haben«, meint Krichmar.

Wie aktuell und effektiv die »Waffen« der Videobewegung sein können, zeigt das wieder aufgenommene Gerichtsverfahren gegen zwei argentinische Polizisten, die im vergangenen Sommer zwei Piqueteros getötet haben sollen. Wie die Zeitung Página 12 berichtete, hatte es nach einer großen Straßensperre durch die Arbeitslosen »eine grausame und ausgedehnte Jagd auf Demonstranten« gegeben. Der Tod der Piqueteros sollte daraufhin den angeblich schwer bewaffneten Aufständischen selbst zugeschrieben werden. Doch nicht nur Página 12 trug zur Aufklärung bei. Aufnahmen aus dem auf der Berlinale gezeigten Film »Piquetero Carajo!« konnten den Sachverhalt ebenfalls rekonstruieren helfen, so dass kürzlich sogar Staatspräsident Eduardo Duhalde zugeben musste, der Tod der Demonstranten sei Folge einer »grausamen Menschenjagd« gewesen.

Durch die Einführung der Internetplattform Argentina Arde als Teil des Netzwerks Indymedia (argentina.indymedia.org) Anfang 2002 haben die Aufnahmen der Gruppierung an Relevanz gewonnen. Die alternative Nachrichtenplattform ist laut Página 12 ein »unerwarteter Erfolg« und zieht Tag für Tag rund 5 000 Besucher an. Noch spielen Videos im Netz eine untergeordnete Rolle, aber mit der Zeit soll ein »ein alternatives, kämpferisches audiovisuelles Netzwerk« entstehen, sagt Krichmar. »Man kennt uns, man bucht uns für Vorträge, Korrespondenten sprechen uns an, und wir haben Zugang zu allen Untergrund-Versammlungen.«

Bislang kann das Internet in Lateinamerika allerdings nur von wenigen genutzt werden: »In Argentinien haben nur drei Prozent der Bevölkerung Zugang zum Internet.« Daher kopieren die Aktivisten zunächst weiterhin fleißig VHS-Kassetten. Sie sehen sich in der Tradition der Filmbewegung Cine de la Base (Kino der Basis), die in der Zeit nach 1968 im Untergrund enstand und von dem 1976 von den Militärs ermordeten Raymundo Gleyzer angeführt wurde. Krichmar betont, dass sich Argentiniens junge Filmbewegung stärker mit dem marxistischen Kino Gleyzers identifiziert als mit dem weit einflussreicheren, jedoch politisch durch den Peronismus vereinnahmten Cine Liberación Fernando Solanas (La hora de los hornos/Die Stunde der Feuer). »Ich empfand große Genugtuung, wenn mich die Leute auf den Versammlungen in den Stadtvierteln, wo sich kein Politiker hinwagen darf, mit großer Freude empfingen«, beschrieb die Cine Insurgente-Produzentin Alejandra Guzzo die »Wiederentdeckung des Volks«.

Kino für alle von allen. Und so funktioniert’s: Krichmar erzählt, wie der endgültige Schnitt des Films »El Rostro de la dignidad« (Das Antlitz der Würde) in einer Versammlung von »über 1 000 Genossen« beschlossen wurde. »Wir sagen den Leuten: ›Du hast es gesehen, du hast es erlebt, also lass dir nichts erzählen.« Die Konzerne und die Oligarchie verbreiten ihr eigenes Symbolsystem, das die Leute ruhig stellen soll, damit sie zuhause vor dem Fernseher bleiben.« Deshalb laute der wichtigste Slogan der Videobewegung: »Schalte den Fernseher aus und geh’ auf die Straße!«