Kleines Übel, großes Übel

Ob Schröders »Agenda 2010« oder Stoibers »Sanierungsplan für Deutschland«: Der Sozialstaat soll weiter abgebaut werden. Widerstand regt sich kaum. Ein Grund dafür ist der Irakkrieg. von regina stötzel

Was Franka Potente und andere Menschen jederzeit können, gelingt PolitikerInnen vor allem in Kriegszeiten: sich für die Menschenrechte stark zu machen. Wie auch das Völkerrecht müssen die Menschenrechte als Argument wahlweise für oder gegen die Beteiligung an einem Angriffskrieg herhalten.

Und mit dem Krieg, egal ob man mitmacht oder sich heraushält, können wiederum alle »schmerzhaften Reformen« begründet werden, die so oder so bevorstanden. Alles was nicht unmittelbar mit dem Krieg zu tun hat, wird sowieso kaum wahrgenommen. Deshalb sind Kriegszeiten wunderbare Zeiten für PolitikerInnen.

Während man täglich damit rechnen muss, dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder ein Friedenstäubchen ans Jackett heftet und persönlich eine Lichterkette zwischen Berlin und Paris organisiert, ist seine Regierungserklärung vom 14. März schon beinahe wieder in Vergessenheit geraden. Seiner wachsenden Beliebtheit – 30 Prozent würden inzwischen wieder die SPD wählen! – tat die Rede, in der er deutlich machte, dass ihm das Soziale ziemlich schnuppe ist, keinen Abbruch. Gestritten wurde in den vergangenen Wochen hauptsächlich über Themen, die unmittelbar mit dem Irakkrieg zu tun haben.

Um Schröders Pläne zum Abbau des Sozialsystems war es ziemlich ruhig. Schlechte Nachrichten für die Regierung waren etwa die, dass Mitglieder der Rürup-Kommission ein Vorhaben zu früh ausgeplaudert hatten. Oder dass der Finanzminister aus verfassungsrechtlichen Gründen am Arbeitslosengeld »nicht so schnell sparen« könne wie vorgesehen.

Obwohl die ersten Ich-AG bereits gegründet wurden und die Einrichtung der Personalserviceagenturen in Gang kommt, werden die kritischen Stimmen nicht deswegen allmählich etwas zahlreicher. Eine weitaus größere Rolle spielt es, dass sich mit den spärlichen Informationen über den Krieg auf Dauer nicht ganze Zeitungen füllen lassen. Die innenpolitischen Themen kehren auch auf die Titelseiten zurück. Hätte man vor wenigen Tagen noch vermuten können, dass es kein Problem für die Regierung sein werde, ihre »Agenda 2010« schnell abzusegnen, ist es jetzt wieder spannender geworden.

Ein »großes Übel« sei die »Agenda 2010«, sagt Marion Knappe, die Pressesprecherin des DGB, aber die Menschen in Deutschland machten sich zur Zeit mehr Sorgen wegen des Krieges, sodass die Kürzungen bei den sozialen Leistungen für sie derzeit das »kleinere Übel« bedeuteten. Knappe gab sich jedoch optimistisch, dass über Gespräche in den Ministerien noch Einfluss genommen werden könne. »Wir arbeiten dran«, erklärte sie. So einfach werde die Regierung ihre Ziele nicht erreichen.

Etwas anderer Meinung ist Christine Hänsgen vom Arbeitslosenverband Deutschland. Sie sieht ein deutliches Bestreben der Bundesregierung, ihre Pläne »im Schnellverfahren durchzupeitschen«. Der Irakkrieg komme dabei gerade recht, um »von den eigenen Problemen abzulenken«.

Inzwischen wurden Schröders Pläne schon übertroffen vom »Sanierungsplan für Deutschland« des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber und den noch weiter gehenden Vorschlägen, wie das Sozialsystem zu entsorgen sei, des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt. Stoibers Forderungen lösten in der Union eine heftige Kontroverse aus. Horst Seehofer drohte sogar mit dem Rücktritt von seinem Amt als stellvertretender Vorsitzender der CSU.

Die Unterschiede zwischen Schröders »Agenda 2010« und Stoibers »Sanierungsplan für Deutschland« sind graduelle, nicht grundsätzliche. Die Rhetorik gleicht sich. Zwar wird Europa beschworen, aber Deutschland soll in Europa wieder an die Spitze gelangen. Alle sollen mehr »Verantwortung« übernehmen und mehr »Leistung« bringen. Wenn Schröder von den »Arbeitswilligen« spricht, denen er einen Arbeitsplatz geben will, so fallen alle anderen in die Kategorie der Menschen, denen Stoiber einen »Missbrauch der gesellschaftlichen Solidarität« vorwirft. Wenn Schröder mehr »Spielräume« und »Kreativität« bei der Gestaltung von Tarifverträgen fordert, heißt es bei Stoiber: »Die Tarifbindung wird verkürzt.« Und hier wie da soll alles »flexibler« und damit »moderner« werden.

Völlig einig ist man sich bei der geplanten Steuerreform, im Bestreben, die Lohnnebenkosten zu senken, bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, bei der zeitlichen Einschränkung des Bezugs von Arbeitslosengeld, bei der Stärkung des Mittelstands und der Entlastung der Kommunen.

Die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen sollen eingeschränkt, Tarifverträge bei Bedarf gekündigt und die Sozialauswahl beim Kündigungsschutz soll neu verhandelt werden. Dass nach Ansicht der SPD weiterhin die Zahnbehandlungen im Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten sein sollen, nach Ansicht der CSU stattdessen das Krankengeld, ist schon ein großer Dissens. Stoibers Forderung nach der Abschaffung des Scheinselbstständigengesetzes wirkt im Zeitalter der Ich-AG allenfalls wie ein freundschaftlicher Seitenhieb auf die Regierung.

Der größte Unterschied zwischen den beiden Programmen liegt wohl in Stoibers Vorschlag, die Sozialhilfe »für Arbeitsfähige« auf 75 Prozent des gegenwärtigen Niveaus zu senken und den Zuverdienst geringfügig attraktiver zu machen. Das nennt er »aktivierende Sozialhilfe« und könnte damit den Titel für das Unwort des Jahres 2003 nach Bayern holen. Gegen diese Vorschlag gab es heftige Proteste von CDU-Politikern aus den östlichen Bundesländern.

Doch selbst die Idee, die Staatskasse durch Einsparungen bei den Ärmsten der Gesellschaft zu füllen, ist qualitativ vergleichbar mit Schröders Agenda. Denn die Kürzung der Sozialhilfe ist nichts, was nicht auch die Sozialdemokraten mit ihrer Rhetorik vorbereitet und akzeptabel gemacht hätten. Längst schon sind alle »Tabus« gebrochen, wie diejenigen, die nach einem »modernen« Sozialstaat schreien, die Grundlage eines Sozialstaats nennen.

Dass erst die Forderungen Dieter Hundts, der etwa Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf ein halbes Jahr beschränken will, den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer zu der Äußerung veranlassten, dies sei »eine bodenlose Unverschämtheit«, ist bezeichnend. Denn diese Aussage trifft auch auf Schröders Agenda zu. Relevante linke Gegenentwürfe gibt es derzeit nicht. An dieser Tatsache wird auch das für April angekündigte Papier der PDS nichts ändern.

Schröders Pläne werden wohl im Großen und Ganzen verwirklicht werden. Was einige Linke in der SPD, Grüne und GewerkschafterInnen an Korrekturen an den Gesetzesvorlagen erreichen könnten, dürfte die Union mit ihrer Mehrheit im Bundesrat wieder rückgängig machen. So lange sich kein ernst zu nehmender Protest formiert, wird der »gegenseitige Unterbietungswettbewerb in Sachen sozialer Sicherheit«, wie Michael Sommer es nennt, weitergehen, ebenso wie die von der FDP betriebene Denunziation der Gewerkschaften.

Edmund Stoiber zeigt in seinem Sanierungsplan – zu dem es seiner Ansicht nach »keine Alternative« gebe –, dass er dieses Anliegen keinesfalls vergessen hat. Der Meister der Euphemismen fordert darin »eine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfrechts, die wieder ein Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei Tarifverhandlungen schafft«.

Immerhin hätten schon mehr Menschen die gegenwärtigen Pläne wahrgenommen als das Hartz-Papier, meint Christine Hänsgen. »Jetzt hilft nur noch der Volkszorn – oder viele werden in absoluter Verarmung versinken.« Aber bis 500 000 Menschen gegen den Abbau des Sozialstaats demonstrieren, muss noch viel passieren. Das Ende des Krieges im Irak allein reicht da nicht aus.