Der Kreml gibt sich friedlich

In der Irakfrage will sich Russland als Friedensmacht profilieren. Die eigenen Kompetenzen zur demokratischen Krisenbewältigung sieht die Regierung durch das Referendum in Tschetschenien bewiesen. von ute weinmann, moskau

Selten verfügt Russland über die Gelegenheit, sich Anerkennung als friedliebende Nation zu verschaffen. Die Gunst der Stunde ist dem Angriff der USA und Großbritanniens auf den Irak zu verdanken, dem sich Russland in der Uno so sehr entgegengestellt hat. Außenminister Igor Iwanow warnte am Freitag erneut vor der »ernstesten humanitären Katastrophe der letzten Jahre«.

Doch äußert Moskau seine Unzufriedenheit mit dem bisherigen Verlauf der Ereignisse mitnichten aufgrund abstrakter Menschenliebe. Vielmehr dringen die USA in eine traditionell russische Interessenssphäre ein. Das Regime Saddam Husseins galt im arabischen Raum als treuer geostrategischer Verbündeter der Sowjetunion und blieb auch nach deren Zerfall ein wichtiger Partner Russlands.

Dessen ökonomische Interessen im Irak liegen in erster Linie in der Ölförderung, die durch Großkonzerne wie Lukoil und Rosneft gewahrt werden. Das Land ist aber auch ein sicherer Absatzmarkt unter anderem für Energietechnik. Bis zum Kriegsbeginn liefen die gemeinsamen Geschäfte erfreulich, doch nun bleiben russische Unternehmen vorerst auf ihren Waren sitzen. Von einer US-dominierten irakischen Nachkriegregierung erwartet die russische Ölwirtschaft keine Zugeständnisse. »Die Amerikaner sind nicht mit der Absicht in den Krieg gezogen, mit irgendjemandem zu teilen«, fürchtet Nikolai Tokarew von der staatlichen Ölfirma Zarubezhneft. Darüber hinaus kommt der Irak gegenüber Russland bereits auf ein Schuldenvolumen von etwa acht Milliarden Dollar, und es ist nicht sicher, ob eine neu eingesetzte Regierung die Schulden des alten Regimes anerkennen wird.

Allerdings geht die Freundschaft zu Saddam Hussein nicht so weit, dass sich Moskau etwa zu einer aktiven Unterstützung des bedrängten Irak hinreißen lassen würde. Präsident Wladimir Putin setzt weiter auf einen proamerikanischen außenpolitischen Kurs, der seine deutlichste Manifestation in der Beteiligung an der Antiterrorkoalition gefunden hat. Dabei kollidieren die russischen und die US-amerikanischen Interessen nicht nur im arabischen Raum, sondern sogar auf ehemals sowjetischem Gebiet, was den Kreml letztlich wesentlich mehr verärgert. Die USA machten im vergangenen Herbst deutlich, dass sie nicht gewillt sind, Georgien gänzlich dem Einfluss Russlands zu überlassen, was Putin wiederum zu einer strikteren Haltung in der Irakfrage veranlasst haben mag.

Washington sah sich zum Gegenschlag veranlasst und beschuldigte Moskau in der vergangenen Woche, das Uno-Waffenembargo gegenüber dem Irak unterlaufen zu haben. Diverse russische Rüstungsbetriebe, darunter ein Betrieb in Tula, der Panzerabwehrgeschosse herstellt, sollen ihre Erzeugnisse an den Irak geliefert haben, was sie jedoch vehement bestreiten. In den vergangenen Jahren wurden von US-amerikanischer Seite mehrmals ähnliche Vorwürfe gegenüber russischen Unternehmen erhoben, doch dieses Mal richten sie sich erstmals gegen die russische Führung. Außenminister Igor Iwanow reagierte mit dem Hinweis, dass in keinem der bisherigen Fälle bewiesen werden konnte, dass die Vorwürfe von Substanz seien. Nach Angaben der russischen Tageszeitung Kommersant will jedoch ein Mitarbeiter eines der beschuldigten Betriebe nicht ausschließen, dass dem Embargo unterliegende Technik eventuell über Dritte doch in den Irak gelangt sein könnte.

Die Verstimmungen fanden nur wenige Tage später ihre Fortsetzung nach einer Äußerung des US-Botschafters in Moskau, der Hilfe bei der Evakuierung noch in Bagdad verbliebener Mitarbeiter der russischen Botschaft in Aussicht stellte, gleichzeitig jedoch betonte, er hielte es für bedenklich, dass nicht sämtliche Mitarbeiter bereits abgezogen wurden. Das russische Außenministerium sah darin eine »versteckte Drohung«.

Die Querelen auf internationaler Ebene sind innenpolitisch nützlich für den Kreml, der durch seine vermeintlich antiamerikanische Haltung eindeutig Punkte sammeln kann. Die Besucher von Protestkundgebungen, die sich eigentlich gegen die antisoziale Politik der Regierung und in erster Linie gegen die geplante Erhöhung von Strom- und Wohnnebenkosten richten sollten, packen gerne die Gelegenheit beim Schopf, um ihrem Unmut gegen die USA Gehör zu verschaffen und, wie am vergangenen Samstag in Moskau geschehen, spontan vor die amerikanische Botschaft zu ziehen. Beliebtes Mittel zur Visualisierung bei Antikriegsveranstaltungen ist im Übrigen das Verbrennen von US-Fahnen. Aber gelegentlich geht es auch ohne.

Verbal auf den Punkt gebracht hat die russische Friedensmission der soeben wieder gewählte Vorsitzende des Zentralen Wahlausschusses, Alexander Weschnjakow. Er erklärte unmittelbar nach dem überragenden Moskauer Wahlsieg in Tschetschenien, dass Russland im Gegensatz zu den USA es nicht nötig habe, Kriege zu führen, sondern durch eine Volksabstimmung zu einer friedlichen Regelung andauernder Konflikte gelange. Angesichts der blutigen Politik des Kremls in den vergangenen zwölf Jahren in der kleinen Kaukasusrepublik stellt sich die Frage, ob Weschnjakow ein besonders dreister Propagandist ist oder unter vollständigem Realitätsverlust leidet.

Die russischen Machtorgane haben an Eigenlob ob des aus Sicht des Kreml gelungenen Referendums nicht gespart. Allerdings offenbart die Abstimmung vor allem ein eigenwilliges Verständnis von demokratischen Spielregeln. Das vom Kreml inszenierte Schauspiel (Jungle World, 12/03) endete mit einer Zustimmung von 95 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent. Abgestimmt wurde über eine neue tschetschenische Verfassung, deren Inhalt jedoch nur eine marginale Rolle spielt. Entscheidend war allein der Artikel, der festschreibt, dass Tschetschenien nun unwiderruflich ein Bestandteil der Russischen Föderation ist.

An der Rechtmäßigkeit des Referendums darf hingegen gezweifelt werden. Nach Beobachtungen von Mitarbeitern verschiedener Menschenrechtsorganisationen, darunter Memorial und die Moskauer Helsinki-Gruppe, waren am Tag des Referendums in den von ihnen besuchten Wahllokalen nur wenige Menschen erschienen. Etliche Menschen kamen offenbar mit diversen Pässen von Verwandten zur Wahl oder gaben gleich mehrmals ihre Stimme ab. Dies war ohne Probleme möglich, nicht einmal die Meldeadresse wurde überprüft. In den Flüchtlingslagern wurde zum Teil eine 200prozentige Wahlbeteiligung festgestellt.

Trotz zeitweiliger Reduzierung der bereits traditionellen »Säuberungen« durch die russischen Einheiten war die Atmosphäre extrem angespannt. Einige Wahllokale standen in der Nacht vor dem Referendum unter Beschuss, in der Heimatregion des Warlords Schamil Basajew kamen auf einen Wahlberechtigten etwa fünf Angehörige der russischen Armee, die für »Sicherheit und Ordnung« während der Abstimmung sorgen sollten. Entsprechend hoch fiel dort die Wahlbeteiligung aus, die Bevölkerung verstand sehr wohl die implizite Drohung.

Nächstes Planziel sind die Präsidentschaftswahlen im Dezember und die Parlamentswahlen im Frühjahr 2004. Der derzeitige Moskauer Statthalter Achmed Kadyrow sieht sich bereits als Sieger, der Kreml hingegen will sich noch nicht auf einen Kandidaten festlegen.

Die von dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maskhadow geführte Fraktion der Separatisten scheint unterdessen den Konflikt zwischen Russland und den USA nutzen zu wollen. Überraschend erklärte Maskhadows Gesandter Achmed Zakajew am Freitag seine Unterstützung für die Irakpolitik der USA, da eine Militäroperation der einzige Weg zur Entwaffnung Saddam Husseins sei.