Da schaut das Auge der Geschichte

Christoph Stölzl sollte die Berliner CDU erneuern. Da er an Frank Steffel scheiterte, kann er sich nun wieder der Historie zuwenden. von joachim rohloff

Als der Erste Weltkrieg begann, schrieb Karl Kraus von der »großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen«. Wenig später kam die Oktoberrevolution, es kamen die Wirren der zwanziger Jahre, dann der Faschismus und der Zweite Weltkrieg, an dessen Ende die Rote Armee das halbe Europa erobert hatte, es kamen der Kalte Krieg und schließlich der Untergang des Kommunismus und die deutsche Wiedervereinigung. Und als endlich alles gut geworden war, geschah etwas, womit niemand rechnete.

Zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer kehrte der Kommunismus wieder, ausgerechnet in Berlin. Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen wurde abgewählt, ein schwuler Sozialdemokrat usurpierte sein Amt und beteiligte die PDS an der Macht. Die Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts sollten auf schändliche Weise missachtet und die Opfer der Gewaltherrschaft zwischen Wladiwostok und Pankow verhöhnt werden.

Da erhob sich Christoph Stölzl, trat vor und sprach: »An diesem scheinbar großen Tag der Sozialdemokratie, den wir noch gekannt haben, als er ganz klein angefangen hat mit Wortbruch und Wankelmut, an diesem Tag, den wir einmal wiedersehen werden, wenn er wieder ganz klein ist, wonach fragen wir heute? Wir fragen nicht nach den Winkelzügen der Tagespolitik. Wir fragen nicht nach der menschlich-allzumenschlichen Dialektik von Ethik und Ehrgeiz, von Leichtsinn und Versorgungsdenken bei den Akteuren. Uns ist es heute wie gestern gleichgültig, ob die Spielmacher aus Damen- oder Herrenschuhen trinken, wenn sie einmal über die Stränge schlagen. Wir fragen nicht einmal nach Namen, weil das Auge der Geschichte, das auf Berlin blickt, in anderen Dimensionen misst als aufgeregte Zeitungsleser.«

Ebenso wie die Völker der Welt scheint auch das Auge der Geschichte seit fünfzig Jahren nichts Besseres zu tun zu haben, als nach Berlin zu schauen, und an jenem Tag beobachtete es den ersten großen Auftritt eines neuen politischen Talents. Nach dem Sturz Diepgens, über den zu sagen, niemand hätte sein Amt schlechter verwalten können, als er es zehn Jahre lang tat, das Mindeste ist und an dessen Lebenslauf sich studieren lässt, was es bedeutet, wenn ein Politiker sagt, er scheue sich nicht, Verantwortung zu übernehmen, und nach der Wahlniederlage seines Erben Frank Steffel, der dasselbe ganz anders machen wollte oder etwas ganz anderes genauso, suchte die Berliner CDU einen Erneuerer.

Sie fand den Intellektuellen und »Quereinsteiger« Stölzl, den ehemaligen Kultursenator und Leiter des Kohlschen historischen Museums und des Feuilletons der Welt, der eben erst der Partei beigetreten war und deshalb kein Mann des Apparats sein konnte, keine Dotterblüte aus dem Sumpf.

Er wurde also zum Landesvorsitzenden gewählt, doch was sollte er tun? Den Bürgern erzählen, die CDU habe zur Genüge bewiesen, dass sie sich auf Misswirtschaft und Korruption bestens verstehe, und sie sei deshalb auch am besten geeignet, deren Folgen zu mildern und schließlich zu beseitigen? Es gelte nun, noch sparsamer zu sein als der amtierende Senat und vor allem an den richtigen Stellen zu sparen und nicht an den falschen? Stölzl kam ihnen mit der erbärmlichen Propagandaschmonzette vom Kommunismus, der wieder auferstehe, weil die SPD und die PDS eine Koalition bildeten.

Ein Jahr brauchten seine neuen politischen Freunde, denen er, wenn man der Welt glaubt, ein »Leuchtturm« war, um ihn wieder fortzuekeln. In der vergangenen Woche kündigte Stölzl an, er werde auf dem Parteitag am 24. Mai nicht noch einmal zur Verfügung stehen. Seine Begründung lautet, der künftige Landesvorsitzende müsse im Jahr 2006 zugleich der Kandidat seiner Partei für das Amt des Regierenden Bürgermeisters sein, und das wolle er nicht mit sich machen.

Sein Nachfolger wird Joachim Zeller werden, der Bürgermeister des Bezirks Mitte, der sich vorgedrängelt hat und nun, da der Ruf an ihn ergeht, die Verantwortung schweren Herzens übernimmt. Wenn aber das Auge der Geschichte zu erkennen glaubt, Stölzl habe seine historische Mission erfüllt, den Fraktionsvorsitzenden Steffel vom Amt des Parteivorsitzenden fern zu halten, so irrt es sich. Vielmehr halten die meisten Kommentatoren den Rückzug des entnervten Stölzl für das Ergebnis der Machtintrigen Steffels. Manche sprechen sogar von einem Putsch.

»Prominente Wirtschaftsvertreter«, nämlich die Unternehmer Hartwig Piepenbrock (»Reinigung, Wachschutz, Wartung von Maschinen, Verwaltung, Catering sowie Verpackungs- und Pyrotechnik«) und Klaus Krone (»Geschäftsanbahnung, Marktpositionierung, Strategieentwicklung und Umsetzung«) forderten Steffel nun zum Rücktritt auf. Er habe alle wichtigen Parteiposten mit seinen »Gefolgsleuten« besetzt und trotz Stölzls Widerspruch seinen Freund Kai Wegner zum Generalsekretär bestimmt. Gegen Zeller, der als Steffels »Strohmann« gilt, haben die beiden Industriekapitäne aber seltsamerweise nichts einzuwenden.

Zur Rettung der Berliner CDU braucht es, da sind sich alle Beteiligten außer Steffels Leuten einig, einen zweiten Richard von Weizsäcker. Dass Stölzl ein solcher Mann nicht war, kann ihm niemand übel nehmen. Er wird, so heißt es, demnächst einen Posten in der Konrad-Adenauer-Stiftung übernehmen und dort wieder seinem historischen Beruf nachkommen. »Die große Erzählung von der Stadt Berlin hat ein einziges Thema«, wird man ihn dann wieder sagen hören. »Es heißt: Freiheit. Es ist der Pulsschlag der Freiheit, es sind ihre Atemzüge, die Berlin machen. Kampfplatz der Freiheit gewesen zu sein, stellvertretend für Deutschland, das ist der Ehrentitel unserer Stadt.«

Das Publikum der Seminare und Symposien wird er daran erinnern, dass »die deutsche Revolution binnen Wochen die Totenstarre des Sozialismus aufbrach« und dass er es war, der sich zwölf Jahre später dessen Wiederkunft mutig entgegenstemmte. Und das Auge der Geschichte wird ihm dabei zublinzeln.