Politik und Verbrechen

In diesen Tagen nimmt der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit auf. Von Stephen Rehmke

Der erste Deckel einer Strafakte über internationale Verbrechen dürfte von Moreno Ocampo vermutlich in dieser Woche aufgeschlagen werden. Der Argentinier ist der erste Chefankläger des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs. Am 16. Juni begann seine Tätigkeit für die nächsten neun Jahre.

Die Grundlagen dafür wurden vor mehr als einem Jahr geschaffen. Am 11. April 2002 wurde die nötige 60. Ratifikationsurkunde für den International Criminal Court (ICC) bei der Uno in New York hinterlegt. Das vor fünf Jahren in Rom verabschiedete Statut des Gerichtshofs konnte damit in Kraft treten. Gleichwohl dauerte es noch ein gutes Jahr, bis Ocampo und die 18 Richterinnen und Richter, darunter der Deutsche Hans-Peter Kaul, in ihr Amt gewählt werden konnten.

Die Vorgeschichte des Internationalen Strafgerichtshofs ist noch länger. Bereits 1946 entschied sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen unter dem Eindruck des gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher geführten Nürnberger Prozesses, die Grundsätze jenes Strafverfahrens als »Nürnberger Prinzipien« festzuhalten. Sie sollten in ein internationales Strafgesetzbuch einfließen, das nach Möglichkeit auch von einem internationalen Strafgericht angewandt werden sollte.

Aber erst ein halbes Jahrhundert später begann die so genannte Staatengemeinschaft, die Idee eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs aufzugreifen und ein entsprechendes Statut auszuarbeiten. Am 12. Juli 1998 verabschiedeten 120 Staaten das »Statut von Rom«, welches in der Folge 139 Staaten unterzeichneten. Doch nur 89 ratifizierten bisher den multilateralen Vertrag. Alle übrigen, darunter bevölkerungs- und einflussreiche Nationen wie Russland, die Volksrepublik China, Indien und die USA, lehnen den Beitritt ab.

Insbesondere die USA steuern dem Wirken des Internationalen Strafgerichtshofs mit einer Entschiedenheit entgegen, die mit dem Erlass des American Servicemembers‘ Protection Act vom August 2002 deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Er verbietet nicht nur den US-amerikanischen Behörden, mit dem ICC zusammenzuarbeiten, sondern ermächtigt den Präsidenten »alle nötigen«, also auch militärische Maßnahmen zu ergreifen, um US-amerikanische Staatsbedienstete aus dem Gewahrsam des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag zu befreien.

Zuvor hatte die US-Administration schon versucht, den Wirkungsradius des Strafgerichtshofs auf andere Weise zu beschränken. Als vor einem Jahr das Mandat der im ehemaligen Jugoslawien stationierten multinationalen Truppe Sfor vom Weltsicherheitsrat verlängert werden musste, drohte die Regierung der USA, mit Hilfe ihres Vetorechts die Verlängerung ebenso zu verhindern wie die Verlängerung aller weiteren in der Folgezeit auslaufenden Mandate der UN-Friedensmissionen. Es sei denn, US-Soldaten würden durch eine Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta dauerhaft vor einer Strafverfolgung durch den ICC verschont.

Es entbrannte ein heftiger Streit unter den beteiligten Staaten, insbesondere zwischen den USA und der von Frankreich und Deutschland geführten Mehrheit der EU-Staaten. Die USA konnten schließlich ihr Vorhaben vor allem mit der Unterstützung Großbritanniens durchsetzen. Der Weltsicherheitsrat verabschiedete am 12. Juli 2002 die Resolution 1422, nach der der Internationale Strafgerichtshof zunächst für ein Jahr daran gehindert ist, Ermittlungen gegen Nichtvertragsstaaten wegen solcher Handlungen aufzunehmen, die mit einer von der Uno autorisierten so genannten Friedensmission in Verbindung stehen.In der vergangenen Woche wurde die Immunität der Blauhelmsoldaten verlängert.

Vorsorglich begannen die USA außerdem, mit möglichst vielen Staaten bilaterale Verträge abzuschließen, die jede Überstellung US-amerikanischer Staatsangehöriger an den ICC auf Dauer verhindern sollen. Bislang haben 22 Staaten derartige Immunitätsabkommen für US-Amerikaner unterzeichnet, darunter Afghanistan, El Salvador, Indien, Israel und Rumänien, aber auch Mauretanien, Mikronesien und Palau.

Auf der anderen Seite etablierten sich mit den deutschen Völkerrechtlern gerade jene als glühende Verfechter der neuen internationalen Strafgerichtsbarkeit, die jahrzehntelang versuchten, dem Nürnberger Prozess die völkerrechtliche Legitimität abzusprechen.

Unter den EU-Staaten und darüber hinaus ist Deutschland die ideell und finanziell treibende Kraft hinter dem Internationalen Strafgerichtshof. Nicht ohne sich davon etwas zu versprechen. In den Vorverhandlungen um die Ausgestaltung des Internationalen Strafgerichtshofs signalisierte Deutschland immer wieder deutlich, dass es gerne den einflussreichen Posten des Chefanklägers von einem Deutschen besetzt sähe.

Doch dieser Wunsch fiel wohl zunächst einmal einer strategischen Entscheidung der ICC-Mitgliedsstaaten zum Opfer, die die USA doch noch dabei haben wollten. Mit Ocampo tritt ein Jurist das Amt des Anklägers an, von dem die USA nicht befürchten sollen, er würde seine Befugnisse aus politischer Motivation gegen sie missbrauchen. Der Argentinier diente der American Development Bank, der Weltbank und der Uno als Berater in der Bekämpfung der Korruption in Südamerika, zudem dozierte er als Gastprofessor an mehreren US-amerikanischen Universitäten.

Der Begeisterung der Deutschen für die internationale Strafgerichtsbarkeit wird das keinen Abbruch tun. Können sie doch mit der Etablierung des Weltstrafgerichtshofs ernsthaft hoffen, dass das Verfahren von Nürnberg alsbald als das erste unter vielen internationalen Strafverfahren in Vergessenheit gerät und dass in Zukunft Anklagen auch von einem deutschen »Weltstaatsanwalt« vertreten werden.