Ali im Rosenholz

Die Frage sollte nicht lauten: Spitzelte Günter Wallraff für die Stasi? Sondern: Warum ist das nicht völlig gleichgültig? von jan süselbeck

Es ist so weit. Auch eine einstweilige Verfügung gegen den Springer-Verlag konnte ihm zuletzt nicht mehr helfen. Für Bild ist der Autor Günter Wallraff nun endgültig ein »Stasi-Spitzel«. Er soll nach Angaben der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Marianne Birthler, der ehemaligen DDR »nachrichtendienstlich relevante Informationen« übermittelt haben.

Wallraff habe die Bayer AG ausspioniert und Forschungen westdeutscher Wissenschaftler bespitzelt, triumphiert Bild außerdem. Er soll laut der elektronischen Datenbank der Stasi (Sira) am 24. Mai 1968 als IM der DDR-Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) erfasst worden sein, und zwar – Tusch! – »als A-Quelle, die andere Personen abschöpfte«.

In der »Rosenholz-Datei« der HVA wurde Wallraff als »IM Wagner« geführt. Das ist eine obskure Kartei, die die CIA laut Spiegel nach der Wende »erbeutet« haben soll. Die Akte Wallraff, ein nur aus einigen Papierschnipseln bestehendes Dokument, habe es gleichwohl »in sich«, warnt das Hamburger Nachrichtenmagazin.

Im Interview mit der FAZ verteidigt sich Wallraff, die Vorwürfe seien »absoluter Schwachsinn«. »Zwischen 1968 und 1971 hatte ich Archive der DDR genutzt, es ging hauptsächlich um NS-Täter. Und jetzt kommen plötzlich Karteikärtchen und Akteneintragungen, die nichts mit mir zu tun haben und in denen ich mich nicht wiedererkenne. Das heißt, diese Karteikärtchen und diese Akten versuchen sich jetzt des Menschen zu bemächtigen.«

Dass Wallraff bei früheren Reisen in die DDR hier und da einen Kaffee mit irgendwelchen IMs getrunken haben könnte, ist an sich eine Nachricht, die keinen müden Hund hinter dem Ofen hervorlocken würde. Doch der Bild-Leser darf sich nun über die unsagbaren Verbrechen entrüsten, die da zu Tage treten: »Als Schleicher überquert Wallraff problemlos die Fronten. Der DDR-Ministerrat befiehlt noch kurz vor dem Mauerfall, ihn beim Grenzübertritt ›bevorzugt‹ zu behandeln. Der Zwangsumtausch wird ihm erlassen.«

Dank der Gauck-Behörde weiß der mündige Bürger der Berliner Republik heute, dass in der DDR jeder zweite mit der Stasi klüngelte. Die besondere moralische Empörung, die hierzulande aufwallt, wenn einem prominenten BRD-Bürger die Existenz einer persönlichen IM-Akte nachgewiesen wird, ist Teil der seit 1989 virulenten Trivialisierung ungeahndeter nationalsozialistischer Verbrechen durch ihren Vergleich mit den Untaten der Stasi. Noch die Shoah soll so vor dem »Auschwitz in den Seelen« (Jürgen Fuchs) verblassen, das die DDR auf dem Gewissen habe.

Doch gegenüber der Totalüberwachung, der sich heute jeder gläserne Otto Normalverbraucher via Datenspuren seiner Kreditkarten, Telefon, Handy, Internet und öffentlichen Kameras bereitwillig unterzieht, sind die ehemaligen Spitzelsysteme der DDR ein echter Lacher.

Bild aber möchte es Wallraff endlich zurückzahlen, dass er sich einst als »Untergrundkommunist« (Bild, 23. Juli 1977) bei ihr »eingeschlichen« hatte. Wallraffs Undercover-Recherche bei der Bild-Zeitung markierte damals seinen endgültigen Durchbruch als Stunt-Journalist der ersten Stunde. Als Redakteur »Hans Esser« arbeitete er für das Springer-Blatt, um die schmutzigen Methoden des Hauses in seinem Bestseller »Der Aufmacher« zu schildern.

1987 enthüllte der konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza anlässlich der Verleihung des »Karl-Kraus-Preises« an Wallraff allerdings, dass »Der Aufmacher« nicht etwa aus der Feder des »weltberühmten Schriftstellers« (Fritz J. Raddatz) stamme, sondern von seinem Ghostwriter Gremliza: »Nicht anders verhält es sich mit dem größten Teil des zweiten Bild-Buchs und einem kleineren des dritten; die anderen Bücher, Aufsätze, Rezensionen und Reden haben andere geschrieben.«

Wallraff wurde trotz dieser Arbeitsmethoden und eines Werkes, dessen »literarischer Wert Müll und dessen politischer eine Pleite bedeutet« (Gremliza) zu Deutschlands bekanntestem Enthüllungsautor. Der 1942 in Burscheid geborene Kölner hielt fortan an seiner gewinnbringenden Masche fest, als verdeckter Ermittler Reportagen über alles und jeden herauszubringen, von McDonald’s über die Metallindustrie bis hin zur Seelsorgestunde beim Pfarrer an der nächsten Ecke.

Tatsächlich war weniger bezeichnend, was Wallraff in seinen Büchern »enthüllte« – war es doch nichts Neues, dass Bild mit Rufmord Geld verdient oder dass die meisten deutschen Spießbürger Rassisten sind –, als vielmehr der reißende Absatz, den er mit seinen Büchern verzeichnen konnte. Wallraffs rein moralische Empörung machte soziale Missstände für den Mittelstand konsumierbar. Er gab denjenigen, »der herausgefunden hat, daß nass wird, wer einen Eimer Wasser übern Kopf kriegt, und dafür das Urheberrecht auf die Relativitätstheorie beansprucht«. (Gremliza)

Vor allem sein Buch »Ganz unten«, für das er 1983 in der Verkleidung eines türkischen Gastarbeiters umherlief, um sich Hinz und Kunz als »Ali« vorzustellen, verkaufte sich über vier Millionen Mal. Wallraff rührte das öffentliche Gewissen auf eine nichtssagende Weise, die noch heute den FAZ-Kommentator Volker Zastrow zu der ehrfürchtigen Verbeugung veranlasst: »Worauf Wallraff den Finger legte, war oft wirklich eine Wunde. Und insoweit darf man Wallraff, der heute vom Ruhm vergangener Tage zehrt, zugute halten, daß er den Blick auf Dinge gelenkt hat, die mancher gerne übersähe.« Doch, ach: »Wallraff hatte sich dem Klassenkampf verschrieben, ganz offen. Was das bedeutet, konnte man wissen.«

Ja, was bedeutet es denn? Wallraff ist mit Wolf Biermann befreundet und gewährte dem 1976 in die BRD ausgewiesenen DDR-Barden, der heute auch schon mal für die CSU singt, tapfer Obdach. »Als dann mein Freund Wolf Biermann ausgebürgert wurde und bei mir einzog«, klagt Wallraff heute der FAZ sein Leid, »da wurde rückwirkend von der Abwehr der DDR ein Bericht verfaßt, in dem es heißt, Wallraff ist ein Anhänger der katholischen Soziallehre, Wallraff läßt sich nicht vom marxistisch-leninistischen Standpunkt beeindrucken, hat wirre anarchistische Vorstellungen.«

Wer schon damals mit einem jaulenden Nationallyriker wie Biermann um die Ecken zog, mit dem war wohl tatsächlich kein sozialistischer Staat mehr zu machen. Hätte Wallraff als IM wenigstens etwas wirklich Brisantes über die Rüstungsindustrie der BRD herausgefunden und nicht nur über die allseits bekannten Zustände in der nächsten McDonald’s-Küche, wäre es vielleicht wert, sich heute noch einmal einen Moment mit ihm zu beschäftigen.

Wallraff selbst hält sich für den Fels, an dem die BRD noch zerschellen wird: »Wenn mir jetzt, der ich mir wegen dieser Kontakte nichts vorzuwerfen habe, eine solche Lawine entgegenschlägt, wie erst dann, wenn das gesamte Rosenholz- und Sira-Material mal an die Öffentlichkeit kommt? Ich hoffe, daß die Republik das aushält und nicht aus den Fugen knallt.«

Die Aufregung um einen drittklassigen Enthüllungsjournalisten, der noch nicht einmal dazu in der Lage war, seine Bücher selber zu schreiben, wird dieses Land leider so schnell nicht untergehen lassen.