Partei im Tiefflug

Das Lustigste, was die SPD zu bieten hat, ist ihre Parteilinke. Am vorigen Samstag traf sie sich zur Herbsttagung. Olaf Scholz und Franz Müntefering durften auch kommen. von sonja vogel

Andrea Nahles wird das Gefühl nicht los, die SPD sitze in einem Zug, der immer schneller und schneller werde, dessen Heizer immer weiter nachlegten, während die Waggons einer nach dem anderen unbemerkt verloren gingen. Und die Parteiführung reagiere darauf mit dem Spruch: »Wir legen die Ohren an und machen weiter wie bisher.«

In ihrer Eröffnungsrede auf der Herbsttagung des Forums Demokratische Linke 21 im Berliner Willy-Brandt-Haus bezeichnet Nahles die Regierung als »konzeptlos, perspektivlos und instinktlos«. Die Politik der Sozialreformen sei ein »Frontalangriff der konservativen Seite«, sagt sie an den Gastredner und Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, gerichtet. Der sitzt da und kauert vor einem knappen Dutzend Kameras.

Während Nahles in ihrer roten Bluse ein abgelutschtes Einmaleins der »sozialen Gerechtigkeit« herunterleiert, das bei der Bildungsfreiheit anfängt und bei der Bürgerversicherung endet, lächelt der Generalsekretär süffisant und setzt sich zurecht. Das Plenum applaudiert.

Doch Nahles’ Rede hört sich letztlich wie eine lange Bitte an Scholz an; Lob und Tadel wechseln sich wie im Grundschulzeugnis ab, die Rede ist rhetorisch gelagert zwischen Provokation und Unterwürfigkeit. Abschließend appelliert sie an seine Verantwortung als »Parteistimme in Regierung und Parlament«, der die Zukunft der SPD unterliege.

Der Schlamassel, in dem die SPD steckt, ist offensichtlich. Es gibt Wahlniederlagen, wo man hinsieht, die SPD, so sagt auch Nahles, sei geschwächt, »in Gemeinden, Ländern und im Bund«. Und im nächsten Jahr stehen 13 Wahlen an. Außerdem kommt die Partei auch bei den eigenen Mitgliedern nicht mehr besonders gut an. Seit Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 1999 auch den Parteivorsitz übernahm, verließen internen Schätzungen zufolge 100 000 Mitglieder die SPD. Allein in diesem Jahr sollen es knapp 40 000 gewesen sein.

Es ist also kein Wunder, dass auch die SPD-Linke ins Schwitzen gerät. Nachdem der konservative Seeheimer Kreis von den sechs Abweichlern, die der Gesundheitsreform im Bundestag ihre Zustimmung verweigert hatten, einen Mandatsverzicht gefordert hatte, mahnte die ehemalige Juso-Vorsitzende Nahles vor der Tagung: »Jetzt geht es um die Substanz.« (Siehe Kommentar auf dieser Seite)

Mit Olaf Scholz hatte man medienwirksam den umstrittensten Vertreter der sozialdemokratischen Regierungspolitik zur Debatte eingeladen. Scholz hatte vor kurzem bei der Parteilinken für große Verärgerung gesorgt, indem er den Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« in Frage gestellt hatte. Doch Schröder unterstützt Scholz, er soll auch nach dem Parteitag Mitte November das Amt des Generalsekretärs behalten.

Als Scholz langsam ans Rednerpult geht, um zu einer Erwiderung anzusetzen, wird fleißig an den Fernsehkameras gedreht und gewerkelt. Unter dem Titel »Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – Orientierung für Politik oder alles zum alten Eisen« gibt er zunächst einige Höflichkeitsformeln an die lauschenden Gastgeber zurück. Dann beginnt er, die Krise der Partei in ihren Kontext einzuordnen: »drei Jahre wirtschaftlicher Stagnation und zu später Reformen«. Scholz sagt: »Wir erleben heute, was es bedeutet, dass dies in der Kohl-Ära nicht vernünftig in Angriff genommen wurde.«

Das Plenum ist mucksmäuschenstill, kein Zwischenruf ertönt, kein entrüstetes Lachen unterbricht den Generalsekretär. Nun müsse unter eigener Verantwortung alles nachgeholt werden, mahnt Scholz, und das ginge nun mal »nicht unbemerkt«. Da grummelt der Saal doch.

Für Scholz sei das größte Problem die »von den Medien erzeugte« resignative Stimmung in Deutschland. Mit der Behauptung, die SPD sei nicht im Stande, den Reformprozess durchzuhalten, wollten »welche von links und von rechts« versuchen, der Partei zu schaden. Dass dies mit augenscheinlichem Erfolg geschieht, macht Scholz sichtlich wütend.

Die Kritiker bittet er um mehr Geduld, man müsse gerade jetzt zusammenstehen. Denn natürlich, so räumt er ein, würde es »hart« werden. Ende des Jahres aber sei die Agenda 2010 unter Dach und Fach. »Und wenn wir es vollbracht haben, werden alle sehr beeindruckt sein.« In einer hinteren Reihe raunt es: »Ja, das glaub’ ich allerdings auch.«

Von den darauffolgenden Rednern wird Scholz vorgeworfen, Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich auf »eine ungewisse Zeit nach den Schweinereien« vertagen zu wollen, lediglich »Pseudoreformen« zu propagieren und dabei vollkommen an der Realität vorbei zu handeln. Einig aber ist man sich, dass die Debatte um die Agenda 2010 nicht noch mal aufkommen dürfe. Trotz des großen Unmuts.

In der Mittagspause steigt sogar nochmal die Spannung, der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering wird erwartet. In kleinen Grüppchen unterhalten sich die Parteilinken über die »seltsame Atmosphäre« der Tagung, wobei die einen enttäuscht sind ob der fehlenden »Rebellion«, die anderen sich darüber hingegen sehr erleichtert zeigen. Überhaupt ist der Umgang sehr familiär, man redet über alles – solange es nicht brenzlig ist. Und Scholz schließlich gehört zur Familie, da muss man vorsichtig sein. »Der Scholz hat nichts dazugelernt«, sagt mürrisch ein Genosse, und sein Gesprächspartner antwortet: »War klar. Aber mit Münte knallt’s.«

Als Müntefering dann von Bodyguards begleitet die Treppe herunterkommt, wartet schon eine Unmenge von Journalisten im Vorraum, allein das Fernsehen wurde vorsichtshalber zu seinem Auftritt nicht zugelassen. Müntefering lässt sich Zeit, er gibt keine Interviews, plauscht lediglich unverbindlich mit dem Verbündeten Olaf Scholz, während Andrea Nahles fast ohne Unterlass Kommentare und Einschätzungen zu Protokoll gibt.

Doch hinter dem Titel der Rede Münteferings, »Reformen – Aktionismus oder Fortschrittsperspektive«, ist kein Zündstoff versteckt. Es knallt kein bisschen. Der Saal leert sich, zurück bleiben um die 100 Zuhörer. Müntefering gibt sich auffallend locker. »Wir wissen doch, dass das alles in die falsche Richtung gehen kann«, sagt er, »aber wir wissen auch, dass es weitergeht«. Hört es jemand?

Der Vortrag ist alles andere als anregend und bekommt durch seine vielen Anekdoten auch nicht mehr Substanz, wirkt lediglich einschläfernder. Das sollte er wohl auch. Im Interview mit dem Spiegel charakterisierte sich Müntefering kürzlich treffend selbst: »Das Originelle an mir ist, dass ich ganz und gar nicht originell bin.«

Schließlich redet sich der Fraktionsvorsitzende doch noch in Rage, legt mit kleinen Rechenbeispielen dar, wie die soziale Unausgeglichenheit der Gesundheitsreform etwa durch das Hochsetzen der Beitragsbemessungsgrenze kompensiert werde. Tröstlich für die nun doch wieder erwachten Zuhörer endet er nach eineinhalb Stunden mit der neuesten sozialdemokratischen Erkenntnis: Sozialpolitik sei zwar »wichtig, aber nicht spielentscheidend«.

Es gibt kurze, heftige Widerworte, und als Nahles abschließend aufgeregt lamentiert, bringt sie den Zustand ihrer Partei, der Linken in der SPD und ihres Forums auf den Punkt: »Der Charakter vom Dilemma ist, dass es ein Dilemma ist.«