Das Soccerloch stopfen

Könnte man mit guten Fußballbüchern Weltmeisterschaften gewinnen, kämen die Titelträger aus
den USA und hießen Andrei S. Markovits und Steven L. Hellerman. von dietrich schulze-marmeling

Ostern 2000 besuchte ich das erste Mal in meinem Leben die USA, genauer Kaliforniens akademische Hochburg Berkeley und das benachbarte San Francisco. Auf dem Campus der University of California entdeckte ich ein gigantisches Footballstadion, dessen Fassungsvermögen von den meisten Bundesligastadien nicht erreicht wird, eine großzügige Baseballarena sowie eine hochtechnisierte Basketballhalle, in der über 5 000 Zuschauer Platz finden können. Vor der Mensa verkauften kräftige junge Männer Dauerkarten für die Spiele des Universitätsteams »Golden Bears«, dessen Merchandisingartikel im Universitätsshop feil geboten wurden.

Welche enorme Rolle der Sport im universitären Leben der USA spielt, war offensichtlich. Nur von Soccer war auf dem Campus weit und breit nichts zu sehen. Außerhalb des Campus entdeckte ich nur einen einzigen Merchandisingartikel, der mit Soccer zu tun hatte. In einem Kaufhaus in San Francisco konnte man Mia Hamm, Ikone des US-Frauenfußballs, als Barbie-Puppe erwerben – plus Tor und Miniball. Männersoccer begegnete mir lediglich im von vielen Hispanos bevölkerten Mission District. Da speiste ich in einem mexikanischen Restaurant, das einem Soccermuseum glich. Die Wände waren mit Mannschaftsfotos und Autogrammen übersät, von der Decke baumelten Trikots und Wimpel, u.a. vom FC St. Pauli und FC Bayern München.

»Im Abseits – Fußball in der amerikanischen Sportkultur« lautet der Titel eines Buches, dessen Autoren Andrei S. Markovits und Steven L. Hellerman heißen und das vor einigen Monaten in der Hamburger Edition erschienen ist. In Wahrheit ist das Buch allerdings weit mehr als nur eine Abhandlung über den »amerikanischen Sonderweg« in Sachen Soccer, für Markovits/Hellerman seit »mehr als einem Jahrhundert ein Hauptmerkmal der amerikanischen Kultur«. Auf über 400 Seiten von extrem dichtem Inhalt gewähren die Autoren auch einen tiefen Einblick in die Geschichte und Kultur der so genannten »Großen Dreieinhalb«: Baseball, Basketball, American Football und zur Hälfte Eishockey.

Andrei S. Markovits ist für eine solche Analyse der ideale Autor, denn er ist in beiden Welten bewandert. Geboren 1948 in Temesvar/ Rumänien, Oberschule in Wien, Studium der Betriebswirtschaft und Politologie an der Columbia Universitry in New York und heute Professor in Ann Arbor und Harvard. Sein Vater, Ludwig Markovits, dem er das Buch widmet, war sein Leben lang Anhänger von MTK Budapest und Austria Wien, die über eine große Anhängerschaft beim assimilierten Judentum in den beiden Metropolen des so genannten Donaufußballs verfügten. Dass der US-Bürger Markovits ein ausgewiesener Soccerfan ist, dürfte somit kein Zufall sein. Unter den amerikanischen Soccerpionieren befanden sich zahlreiche Juden wie etwa der aus Deutschland emigrierte Gus Manning, nicht ganz schuldlos an der Gründung des FC Bayern und nach dem Zweiten Weltkrieg der erste US-Amerikaner im Exekutivkomitee der Fifa.

Für Markovits und Hellerman sind die USA in Sachen Soccer ein Sonderfall in der industrialisierten Welt, wobei sie Analogien mit dem Schicksal der Sozialdemokratie in der »Neuen Welt« strapazieren. Hier stützen sie sich auf einen 1906 erschienenen Klassiker des Soziologen Werner Sombart mit dem Titel: »Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus?« Wie die Sozialdemokratie sei auch Soccer ein europäisches Phänomen geblieben. Eine sozialistische Bewegung konnte sich in den USA nicht etablieren, weil das, wofür sie in Europa kämpfte, nämlich die bürgerlichen Rechte, hier bereits verwirklicht war. Die Millionen Europäer, die zwischen 1870 und 1920 in die USA immigrierten, seien sehr darauf bedacht gewesen, Amerikaner zu werden und sich mit der neuen Kultur zu identifizieren. Dem Soccer erging es auf der anderen Seite des Atlantiks nicht besser als dem Sozialismus. Die Pioniere des US-Soccer sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass der amerikanische »Sportraum« bereits besetzt war. Durch frühere britische Importe wie Cricket und Rugby, die dann zu Baseball und American Football amerikanisiert wurden. 1876 wurde mit der National League of Professional Baseball die erste professionelle Sportliga der Welt gegründet.

Soccer blieb hingegen das Spiel der »Kolonialisten«. Markovits/Hellermann: »Jede Sportart, die zuerst in den Sportraum eines Landes eintrat, und zwar in der Schlüsselperiode zwischen 1870 und 1930, den entscheidenen Jahrzehnten für die Ausbreitung der Industrialisierung und die Entwicklung moderner Massengesellschaften, zieht daraus bis zum heutigen Tag einen entscheidenen Vorteil.« Die Autoren verwenden hier den Begriff der »hegemonialen Sportkultur«, mit dem sie nicht primär sportliche Erfolge meinen, sondern solche Phänomene, wie sie in Brasilien zu beobachten sind: »Der Abflug der Mannschaft vom Flughafen Rio de Janeiro wird am Fernsehen übertagen. Die Trainingsstunden aus dem WM-Lager werden live nach Brasilien gesendet, und über tausend Journalisten berichten über jede Bewegung der Manschaft auf dem Spielfeld und darüber.« Einer derartigen öffentlichen Wertschätzung erfreuen sich in den USA die »Großen Dreieinhalb«, nicht indes Soccer. Dass der US-Soccer mittlerweile über 18 Millionen Aktive zählt und in den achtziger und neunziger Jahren einen enormen Aufstieg als Jugendsport erfuhr – 1997 spielten mehr Jugendliche organisiert Fußball als Baseball und Football –, macht das Spiel nicht automatisch zu einem Bestandteil der »hegemonialen Sportkultur«.

Soccer entwickelte sich viemehr nur dort zu einem Profi- und Zuschauersport, wo sich die Industriearbeiterschaft des Spiels annahm, und hier waren die USA die große Ausnahme.

Zum Schluss bieten die Autoren zwei Szenarien an – ein optimistisches und ein pessimistisches. Das optimistische Szenario sieht den Aufstieg des Soccer zum etablierten fünften Mannschaftsspiel im amerikanischen Sportraum etwa auf dem Niveau des Eishockeys, vielleicht sogar noch näher dran an den »Großen Drei«. Im pessimistischen Szenario bleibt Soccer in der amerikanischen Sportkultur und im amerikanischen Alltagsleben marginalisiert. Die Autoren führen für beide Szenarien überzeugende Argumente ins Feld.

»Im Abseits – Fußball in der amerikanischen Sportkultur« ist der stärkste landesspezifische Beitrag zur Sozialhistorie und Soziologie von Soccer, der mir jemals untergekommen ist. 1998 erklärte die United States Soccer Federation (USSSF) in ihrem Jahrbuch: »Die Mission des Fußballs in Amerika ist sehr einfach und klar: den Fußball in all seinen Erscheinungsformen in den Vereinigten Staaten zu einer bedeutenden Sportart zu machen und die Fifa-Weltmeisterschaft (der Männer) im Jahr 2010 zu gewinnen.« So etwas nennen Markovits und Hellerman einen »amerikanischen Machbarkeitsoptimismus«. Könnte man Weltmeisterschaften mit guten Fußballbüchern gewinnen, müsste sich die Konkurrenz schon gewaltig strecken, um den Amerikanern den Titel noch streitig zu machen.

Andrei S. Markovits / Steven L. Hellerman: Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur. Aus dem Amerikanischen von Werner Roller und Heile Schlatterer. Hamburger Edition, Hamburg 2002, 416 S., 35 Euro