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Die britische BBC startet das Web-Projekt Ican. User finden dort eine Anleitung
zum Bürgerprotest. von stefan kindler

In Wembley gibt es keine Kinos. Das senkt den Lebensstandard der Bewohner, meint Athos Athanasiou. »Wir brauchen ein Kino in Wembley, damit es wieder der lebhafte Ort wird, der es einmal war.« Athos Athanasiou hat beschlossen, eine Kampagne zu starten, damit die Ansiedlung eines Kinos in das aktuelle kommunale Stadtplanungsverfahren aufgenommen wird.

Auch Trevor Smith hat eine Kampagne gestartet. »Der Lärm klingt wie ein Jumbojet, der im Garten geparkt wird«, beschreibt er die Geräuschbelästigung durch eine neue Anlage der ExxonMobile-Raffinerie in Fawley, Hampshire. Für ihn und seine Nachbarn soll es möglich werden, »wieder zu schlafen oder unsere Gärten zu genießen«. Beide Kampagnen werden vom britischen Sender BBC organisatorisch unterstützt.

Ican heißt das neue Web-Projekt der BBC, das seit Anfang des Monats offiziell online ist. »Es soll den Menschen als Startpunkt in die Zivilgesellschaft dienen und sie in Verbindung mit anderen bringen, die ihre Anliegen teilen«, fasst Ican-Projektleiter Martin Vogel das Ziel des Projektes zusammen. Ican bietet den Usern mehr als andere offene Publikationsplattformen mit angeschlossenen Diskussionsforen. Die Entwickler des Projekts haben den Anspruch, ein komplexes und engagiertes Beispiel sozialer Software zu schaffen, das den gesamten Prozess individueller politischer Aktivierung unterstützt.

Motiviert wurde das Projekt durch eine Untersuchung der BBC, die aufgrund der geringen Beteiligung an den letzten nationalen Wahlen in Großbritannien durchgeführt wurde. Nicht allgemeine Politikverdrossenheit, so die Studie, sondern die Unzufriedenheit mit den Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der nationalen Politik hielt die Briten von den Wahlurnen fern. Dennoch seien die Briten an Politik interessiert, vor allem punktuell an bestimmten Themen, die sie in ihrem lokalen Umfeld betreffen. Was ihnen allerdings fehle, sei das Wissen, wie sie aktiv in die politischen Prozesse eingreifen können. So soll Ican ein Aktivierungsportal für »Graswurzel-Initiativen« sein, wie es die BBC selbst ausdrückt, vor allem lokal ausgerichtet und an einer »Ein-Themen«-Politik orientiert. »Es ist an Menschen gerichtet, die ein Anliegen haben, das sie betrifft, die aber nicht wissen, was sie tun können«, sagt Martin Vogel.

»Find info; find people; take action.« So stellen sich die Ican-Entwickler den Prozess politischer Aktivierung auf lokaler Ebene vor. Bei jedem dieser Schritte bietet Ican umfangreiche Unterstützung. Über einen Index können Dutzende von Themenseiten aufgerufen werden. Das Spektrum der Themen ist äußerst vielfältig und reicht vom Umweltschutz über soziale Fragen bis zur Straßen- und Drogenkriminalität. Ican-Kampagnen und Organisationen werden vorgestellt, die BBC-Archive oder das Web können nach bestimmten Themen durchsucht werden, und von Nutzern geschriebene Artikel zu den Themen sind aufrufbar. Herzstück des Web-Projektes sind die lokalen Seiten von Ican. Hier wird über lokale Organisationen und Kampagnen der jeweiligen Region informiert. Es gibt ein Forum, in dem die Ican-Nutzer Nachrichten austauschen, Veranstaltungen ankündigen und ihre Fachkentnisse anbieten können. Selbst bei der Initiierung von Kampagnen unterstützt Ican seine User. »Wie vermeide ich Verleumdungsklagen? Behandelt die Medien wie Kinder! Wie organisiert man Demonstrationen« sind Ratgeber-Themen. Viele Texte sind von BBC-Mitarbeitern geschrieben, sie sollen aber mit der Zeit durch Beiträge der Nutzer ergänzt werden. Ziel ist, dass der Inhalt hauptsächlich durch die User gestaltet wird.

Die BBC will nicht nur eine Plattform für politischen Aktivismus bieten, sondern das Projekt auch als Themenlieferanten für die eigene Berichterstattung nutzen. Fünf so genannte Ican-Reporter sollen in unterschiedlichen Regionen des Landes die Entwicklung von Kampagnen beobachten und in den lokalen Radio- und Fernsehprogrammen über sie berichten. So hofft die BBC, eine bessere Verbindung zur politischen Basis in den Regionen zu knüpfen. Eine Aneignung der Medien durch politische Bewegungen ist dies allerdings nicht. Die Entscheidungen über Auswahl und Darstellung in der Berichterstattung werden weiterhin in den Redaktionen getroffen. »Wie sie es von der BBC erwarten, berichten wir selbstverständlich ausgeglichen und unparteiisch. Aber je mehr interessante Kampagnen wir bekommen, umso besser«, schreibt die Ican-Reporterin Emma Gilliam.

Die lokale Ausrichtung des Web-Projektes wird allerdings auh mit Skepsis betrachtet. »Das Thema der Woche: Bodenschwellen zur Verkehrsberuhigung. Wir werden niemals irgendetwas Wichtiges mit irgendwem diskutieren«, kritisiert die schon kurz nach dem Start des BBC-Projektes entstandene Websatire »Ican’t« den Lokalbezug. »Wenn schon so ein engagiertes Projekt, warum nicht in einem erweiterten Rahmen?«, ist der Tenor der Kritik. Tatsächlich wurden von Nutzern schon bald nach dem Start der Webseite Kampagnen gestartet, die in einem nationalen Kontext stehen. So wird auf Ican gegen die Einführung von Identitätskarten mobilisiert, eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung gefordert und eine Kampagne zur höheren Besteuerung von abgasintensiven Off-Road-Fahrzeugen wurde initiiert.

Auch die Macher haben zumindest ihre Startseite bereits einmal in einen Kontext gestellt, der über das Lokale hinausgeht. Als während des Besuchs des amerikanischen Präsidenten George W. Bush in London mit zahlreichen Demonstrationen zu rechnen war, drehte sich auch auf der Startseite vieles um dieses Thema. »Für oder gegen Bush« war ein Artikel betitelt, der zu Online-Ratgebern führte, die über die Rechte von Protestierenden informierten. Das Thema der Woche »Funktioniert Protest?« ging der Frage nach, ob die Proteste gegen Bush auch noch Wirkung tun, wenn die Fernsehkameras abgezogen sind.

Eine Einmischung von Nutzern in nationale Themen birgt für die BBC aber auch Gefahren. Zwar weist der Sender ausdrücklich darauf hin, dass er lediglich die Infrastruktur für die politischen Aktivitäten der Nutzer bereitstellt, und distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Kampagnen. Sollten sich aber wirkungsvolle, polarisierende Kampagnen entwickeln, könnten sie auch für die BBC ungemütlich werden. Ähnlich den öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland, ist die BBC von der jeweiligen Medienpolitik abhängig und steht wegen ihres Online-Engagements in der Kritik. Private Medienkonzerne sehen die Online-Angebote der BBC als gebührenfinanzierte Konkurrenz zu ihren eigenen Angeboten. Dabei ist ihre Lobbyarbeit gegen die BBC durchaus erfolgreich. »Ein Teil des Nachrichtenservice der BBC wird auch vom privaten Sektor geleistet, es wäre also nicht unbedingt notwendig, dass die BBC einen ähnlichen Service anbietet«, sagte Natalie Kirby, eine Sprecherin der Konservativen Partei. Ican könnte in dieser Hinsicht ein kluger Schachzug der BBC sein, sich deutlich von privaten Nachrichtenangeboten im Web abzugrenzen. Es könnte aber auch die Koalition von privaten Medienkonzernen und Politikern gegen die BBC stärken, sollte die BBC zu sehr mit umstrittenen Kampagnen identifiziert werden. Eine Kampagne gegen die BBC läuft bereits auf Ican. Unter »Cut the Crap« sucht ein Nutzer Unterstützung gegen die BBC. Hauptvorwurf: »Die BBC hat eine riesige Summe Gebührengeld für lächerliche, aufgeblasene und sich wiederholende Online-Initiativen ausgegeben.«

Link: http://www.bbc.co.uk/dna/ican/