»Kollektivrechte müssen her«

hector díaz-polanco und consuelo sánchez arbeiten im anthropologischen Institut Ciesas
(Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropologia Social) und geben
die in Mexiko-Stadt erscheinende linke Zeitschrift Memoria heraus

In Ihrem Buch »Vielfältiges Mexiko: Die Debatte über die Autonomie« unterscheiden Sie zwei Wege, die unterdrückte Bevölkerungsgruppen gehen, um zu ihrem Recht zu kommen: die Autonomie und den Separatismus. Wofür hat sich die zapatistische Bewegung entschieden?

Díaz-Polanco: Der EZLN und mit ihm die gesamte indigene Bewegung Mexikos geht den Weg der Autonomie. Sie weisen den Separatismus zurück und suchen die Lösung ihrer Probleme innerhalb des mexikanischen Nationalstaates.

Trägt das Konzept der Autonomie nicht immer auch konservative Elemente in sich. Zum Beispiel durch den positiven Bezug auf die »usos y costumbres«, auf die traditionellen Gebräuche und Sitten?

Sánchez: Der Begriff der Autonomie, wie ihn indigene Vertreter mit Delegierten der mexikanischen Regierung in den Verhandlungen von San Andres formuliert haben, bezog sich nicht auf die »usos y costumbres«. Ihr Ziel war die Transformation des mexikanischen Staates, um den Indigenen eine politische Teilnahme im Land zu garantieren. Sie forderten ihre eigenen lokalen Regierungen, eine Repräsentation in den legislativen Organen und die Erfüllung notwendiger Bedingungen, um ihr soziales, kulturelles und ökonomisches Leben adäquat entfalten zu können.

Erst nach den Verhandlungen von San Andres kam der Diskurs über die »Gebräuche und Sitten« auf. Dann hieß es, die Forderung nach Autonomie bedeute, dass die Indigenen nur zurück wollten zu ihrem Prinzip der »usos y costumbres«. Doch darum ging es nie. Insbesondere die indigenen Frauen haben die Rolle der »usos y costumbres« scharf kritisiert. Indigene fordern, dass ihre indigene Identität respektiert wird. Wenn die »Gebräuche und Sitten« aber die Freiheit des oder der Einzelnen angreifen, werden sie hinterfragt. Das betrifft die Rolle der Frauen, aber auch religiöse oder politische Handlungsfreiheit.

Díaz-Polanco: Wenn mit den »usos y costumbres« ein Bündel unveränderlicher heiliger Gewohnheiten verbunden wird, widerspricht das dem Gedanken der Autonomie. Wenn sie aber die Basis für neue Beziehungen nach außen darstellen, sind sie Teil der Autonomie. Es gibt zwei Modelle. Eines, das konservierend, also auch konservativ ist, das die Autonomie über einen statischen traditionellen Status quo konstruieren will. Und ein anderes, in dem ethnische Identität und Tradition zur Basis gehören, auf der Autonomie entwickelt wird. Diese Grundlagen werden ständig reflektiert und durch den Kontakt mit anderen Bereichen der Gesellschaft modifiziert. Sonst endet die Autonomie im Rekurs auf die Vergangenheit.

Autonomie steht für Sie also nicht im Widerspruch zum Konzept der französischen Revolution?

Sánchez: Nein. Im Rahmen des Rechts auf Selbstbestimmung soll die indigene Bevölkerung innerhalb des staatlichen Systems ihre Entscheidung treffen. Das aber setzt einen anderen Staat voraus, der tatsächlich pluralistisch ist. Bisher wird der mexikanische Staat von der mestizischen Mehrheit bestimmt, die aber nur eine von über 50 Ethnien des Landes ist.

Díaz-Polanco: Es gibt zwei historisch bedeutsame Traditionen: die der französischen Revolution, die auf die Einheit des Staates und ein politisches Subjekt mit gleichen Rechten setzt. Und es gibt eine, die aus der deutschen Geschichte und der Romantik kommt, die das Spezifische, das Eigene jedes kulturellen Systems hervorhebt. Autonomie sucht die Harmonisierung dieser beiden Traditionen. Auf der einen Seiten müssen bürgerliche Rechte für alle Bürger des Staates existieren, festgelegt als Basisrechte in der Verfassung. Doch genauso müssen Rechte für Kollektive festgeschrieben werden, die eine eigene soziokulturelle Einheit sind.

Stehen sich so nicht Bevölkerungsgruppen aus vermeintlich ethnischen Gründen feindlich gegenüber? Beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien.

Sánchez: Europa hat eine völlig andere Geschichte als Lateinamerika. In Europa sind viele Eigenschaften der dominanten Gesellschaften denen der untergeordneten sehr ähnlich. Hier ist das nicht so. Die Kosmovision der indigenen Bevölkerung und ihr Lebensstil sind vollkommen anders als in der dominanten mestizischen Gesellschaft. Deshalb kann man die Probleme nicht mit denen in Europa vergleichen.

interview: wolf-dieter vogel