Hinter den Texten lauern andere

Über Weblogs. Eine Chronik

Weblogs haben keine Spielregeln, außer den wenigen, die die Software vorgibt. Es gibt keinen Kanon, der festlegt, wie ein Weblog geschrieben werden muss, es gibt keine Kriterien, nach denen man beurteilen könnte, was ein gutes und was ein schlechtes Weblog ist, es gibt keine Vereinbarungen darüber, wie lange ein Weblogbeitrag sein muss, wovon Weblogs sprechen sollten, wie sie keineswegs sprechen sollten, wie oft sie sprechen sollten, zu wem sie sprechen sollten, und wie sie jene behandeln sollten, mit denen sie sprechen. Es gibt noch nicht einmal eine einigermaßen akzeptierte Auskunft darüber, was ein Weblog eigentlich ausmacht. Der jeweils letzte Eintrag (weil man immer nur so gut ist wie das letzte Konzert)? Das Programm, die Idee? Der Fluss zwischen den Einträgen? Der Autor?

Weblogs sind – das ist die durch die Software erzwungene Spielregel – Chroniken. Das Neueste in der Chronik steht auf der Startseite, die Vergangenheit verschwindet im Archiv, in dem sowieso keiner nachschaut. Der Weblogautor strengt sich an, die Chronik fortzuschreiben, er hat immerhin ein Publikum, ein paar oder ein paar Hundert Leute, die jeden Tag vorbeischauen und auch nicht genau wissen, warum.

Deswegen bildet sich der Weblogautor ziemlich bald ein, er habe eine Pflicht, er müsse weitermachen, am besten jeden Tag, ohne dass er wüsste, wohin. Also schreibt er jeden Tag etwas in sein Weblog, und nicht selten stellt er sich die Frage, ob es denn wirklich so viel gibt, über das zu schreiben sich lohnt. Es gibt Tage, an denen nichts geschieht, nichts Nennenswertes, es gibt Tage, an denen er nichts empfindet, nicht das Geringste, es gibt Tage, an denen er mürbe ist, an denen ihm jedes einzelne Wort verbraucht vorkommt, alles zu oft gesagt, zu oft gedacht, völlig überflüssig. Das sind die Tage, an denen der Weblogautor sein Weblog löschen will, und zwar endgültig. Er kann sich nicht leiden dafür, das Stocken ist auch wieder nur eine dieser Posen, von denen es in Weblogs ohnehin viel zu viele gibt, er weiß, in zwei, drei Tagen, wenn der Weblogekel wieder abgeklungen ist, wird er weitermachen. Muss ja.

Weblogs werden mit ziemlich vielem verglichen, mit Journalismus zum Beispiel, weil sie chronikalisch fortgeschrieben werden und über die Welt sprechen und für ein Publikum gedacht sind wie eine Tageszeitung, oder mit Tagebüchern, weil in ihnen täglich ein Ich von sich berichtet. Weil niemand so genau weiß, was ein Weblog eigentlich ist, auch die Weblogautoren nicht, ist es verständlich, dass diese Vergleiche immer wieder fallen. Man muss das Neue ja irgendwo einsortieren, um es einigermaßen verstehen zu können.

Weiter kommt man wahrscheinlich, wenn man, zumindest probehalber, den Weblogs konzediert, dass sie zu den wenigen Formen des Sprechens im Netz gehören, die überhaupt verstanden haben, was das Netz ist. Verstehen, was das Netz ist, heißt verstehen, dass man im Netz ist, dass man nur ein Knoten, ein Link ist. Kein Ziel, sondern eine Passage.

Die meisten Seiten im Netz bemühen sich darum, ein Ziel zu sein, sie kämpfen darum, dass man sie findet und dann bei ihnen bleibt, sie wollen das Ende des Netzes sein und nicht bloß ein Dazwischen, der User soll kommen und nicht mehr weggehen. Der Weblogautor aber schickt die Leute gleich wieder fort, er weiß, dass er nicht mehr ist als ein Knoten unter Knoten, er sagt allen, die bei ihm vorbeikommen, dass sie gleich wieder gehen sollen. Das macht sonst keiner freiwillig, das Fernsehen tut alles, um die Leute am Zappen zu hindern, und jede Zeitung bemüht sich darum, die einzige Zeitung zu sein, eine Jugendbeilage muss her für die Jugend und ein Feuilleton und ein anständiger Sportteil und die beste Wetterinfografik und am besten gleich auch ein Leserclub, der Leserreisen veranstaltet und Leserdiskussionsforen.

All das machen Weblogs nicht, im Gegenteil. Ihre Praxis besteht darin, den Lesern zu sagen, dass Texte löchrig sind, dass es keine abgeschlossenen Texte gibt, dass hinter den Texten andere lauern.