Wem Michael Moore zu platt ist

Judith Butler kritisiert die Außenpolitik der USA und greift dabei auf die Ausführungen von Emmanuel Lévinas zurück. von lars distelhorst

Neben der Queer-Forschung hat sich Judith Butler in den letzten Jahren verstärkt mit aktuellen politischen Themen beschäftigt. Mit dem gerade in den USA veröffentlichten Buch »Precarious Life – The Powers of Mourning and Violence« setzt sie diese Beschäftigung fort. Es enthält vier bereits in Zeitschriften erschienene Artikel sowie einen bisher unveröffentlichten Aufsatz. Vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Außenpolitik und des Kriegs gegen den Irak beschäftigt sich Judith Butler mit drei thematischen Feldern: Guantánamo, Israel und politische Ethik.

Dem Phänomen Guantánamo nähert Butler sich mit Foucault. Das ist bei ihrer Vorliebe für diesen Philosophen nicht weiter verwunderlich, interessant ist aber, dass sie in diesem Zusammenhang das erste Mal auf dessen Thesen zur Gouvernementalität eingeht. Nach Foucault bildet die Gouvernementalität eine Art Gegenstück zur Souveränität. Während letztgenannte primär auf den Besitz des Territoriums und die Erhaltung der Macht des Souveräns konzentriert ist, liegt das Hauptaugenmerk der Gouvernementalität auf der Regulierung der Bevölkerung, also darauf, sich um deren Gesundheit, Geburtenrate, Sexualverhalten usw. zu kümmern.

Butler nimmt nun die von Foucault weitgehend offen gelassene Frage, wie sich diese beiden Formen der Macht zueinander verhalten, wieder auf. Im Hinblick auf die Inhaftierungspraxis auf Guantánamo kommt sie zu der These, dass die Souveränität nicht verschwunden sei, sie bilde vielmehr einen kleinen, jedoch wichtigen Teil innerhalb der Gouvernementalität. Butler zufolge ist das Gesetz in Guantánamo aufgehoben, die Gefangenen werden durch die Regierungspropaganda zu Killermaschinen stilisiert. Im weitesten Sinne gelten sie kaum noch als menschlich. Die medienwirksame Aufregung um die inhaftierten »Terroristen« greift dabei auch auf Menschen über, die in keiner Weise des Terrorismus verdächtig sind, und sie erfasst schließlich alle, die irgendwie arabisch aussehen. Dabei gehe es der Administration um nichts weniger als um die unilaterale Festschreibung dessen, was heute als menschlich zu gelten hat. Guantánamo sei der Ort, an den diejenigen kommen, die den Test nicht bestanden haben, und der gleichzeitig als Drohung für jene fungiert, die von den Normen des Menschlichen abweichen. Dabei ist, wie Butler meint, heute auch die Genfer Konvention keine Instanz mehr, an die man appellieren könnte, denn gerade sie forciert durch ihre Bezugnahme auf Nationalstaaten die Rede von den irregulären Kämpfern, auf die letztlich gar kein Gesetz zutrifft. Butlers Kritik ist inzwischen zumindest teilweise überholt – im Juni 2004 entschied das Oberste Gericht, dass die Inhaftierten vor US-amerikanischen Gerichten klagen dürfen.

In ihrem Kapitel zum Diskurs über Israel mischt sie sich in eine Debatte ein, die sich an einem Ausspruch des Präsidenten der Harvard-Universität, Lawrence Summers, entzündet hat. Ihm zufolge ist Kritik an Israel heutzutage entweder von antisemitischen Effekten geprägt oder sie ist sogar in ihrer Intention antisemitisch. Judith Butler, selbst Jüdin, die sich, wie sie schreibt, dem Staat Israel verbunden fühlt, sieht darin primär den Versuch, unerwünschten Standpunkten den Riegel der Zensur vorzuschieben. Antisemitische Botschaften in Äußerungen zu hören, die Kritik an der israelischen Politik üben, jedoch keine antisemitischen Ziele verfolgen, setzt Butler zufolge etwas voraus. Die Zuhörerschaft muss die eigentliche Botschaft überhören und sich auf eine angeblich unter der Oberfläche verborgene Mitteilung konzentrieren, die dann als antisemitisch bezeichnet wird. Allerdings werde eine solche Audienz durch Aussprüche wie die des Universitätspräsidenten erst produziert. Es werde eine Norm etabliert, wie Kritik geäußert werden darf, und gleich noch eine weitere, wie sie gehört werden muss. Nach Butler hat eine solch strategische Verwendung des Antisemitismusvorwurfs die fatale Konsequenz, ihn ausgerechnet dort zu schwächen, wo er angebracht wäre.

Den Hauptteil des Buches machen Butlers Überlegungen zur ethischen Dimension des Politischen aus. Das politische Klima in den USA ist, sagt Butler, geprägt von Antiintellektualismus und der wachsenden Akzeptanz von Zensur in den Medien. In diesem Zusammenhang gelte es die Frage zu stellen, wie überhaupt der Rahmen, innerhalb dessen Wahrnehmung funktioniert, zustande kommt und von welchen Ausschlüssen er geprägt ist. Sie legt dar, wie im Umgang mit dem Verlust von Menschenleben durch Krieg und Terrorismus – wessen Leben betrauert werden darf und wessen Leben dem stillen Vergessen anheim gegeben wird – Hierarchien konstruiert werden. So wiegt der Tod eines US-amerikanischen Soldaten in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wesentlich schwerer als der eines Irakers. Es entspricht der Norm, um die »eigenen« Soldaten zu trauern, während ein Betrauern der Opfer auf irakischer Seite bestenfalls als groteskes Verhalten gilt. Das definierende Merkmal für legitime Trauer ist Butler zufolge die Ähnlichkeit des Betrauerten mit dem Trauernden bzw. mit der amerikanischen Kultur. Menschen, die aus der Definition des Menschlichen herausfallen, werden in ihrer Verletzlichkeit und in ihrem Schmerz kaum wahrgenommen.

Dieser von ihr so vehement kritisierten Politik der USA stellt sie eine Ethik der Gewaltlosigkeit gegenüber. Der Mensch, so argumentiert Butler mit dem Philosophen Emmanuel Lévinas, kommt erst infolge des Angesprochenwerdens durch einen anderen Menschen zu seiner Existenz. Damit ist er nichts weniger als ein autonomes Wesen, sondern in seinem Innersten geprägt durch seine Verbundenheit mit den Anderen. Der Andere aber ist verletzlich und bietet sich in seiner Verletzlichkeit dar. Die ethische Fragestellung spielt sich nach Butler in diesem zwischenmenschlichen Spannungsfeld ab. Angesichts der Verletzlichkeit des Anderen überkommt uns die Lust zu töten, während wir gleichzeitig unter dem Gebot des Nicht-Töten-Sollens stehen. So entstehe ein Zirkel, der ein schlechtes Gewissen produziere und aus dem man sich nur durch den Anderen, von Angesicht zu Angesicht mit ihm, befreien könne. Selbstverteidigung sei kein ausreichender Grund zu töten. Zwar habe man Furcht, getötet zu werden, doch Angst überkomme einen angesichts des möglichen Todes des Anderen. In Anbetracht der »strategischen Derealisierung« menschlichen Leidens, wie sie die Medien betrieben, plädiert Butler dafür, dass die Humanwissenschaften es sich zur Aufgabe machen sollten, das Menschliche wieder sichtbar werden zu lassen, insbesondere an den Rändern dessen, was heute als menschlich gilt.

Butlers Aufsätze, die in einem für sie ungewöhnlich lesbaren Stil abgefasst sind, enthalten viele bedenkenswerte Thesen. Doch bleibt nach der Lektüre ein gewisses Gefühl von Ratlosigkeit zurück, weil Butler eine Reihe wirklich interessanter Fragen stellt, die Antworten aber oft nur anreißt und bisweilen über sehr ausführliche Analysen bei Allgemeinplätzen landet.

Judith Butler: Precarious Life – The Powers of Mourning and Violence. Verso. London/New York, 2004, 168 S., 23,50 Euro