Es tut sich etwas

Der Widerstand gegen den Sozialabbau ist in Bewegung gekommen. Der Prozess der Sammlung
muss vorangetrieben, die Rechten müssen zurückgedrängt werden. von helge meves

Während sich in den vergangenen Jahren schlecht inszenierte Sommerlochtheater um die Aufmerksamkeit der Menschen bemühten, bewegt die Politik in diesem Jahr einiges. Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV, die Vodafone-Kampagne von Attac, Tarifauseinandersetzungen, lokale Proteste und die ersten Schritte zum Aufbau einer wahlpolitischen Alternative für die Bundestagswahl bestimmen die politische Diskussion. Der Mainstream der politischen Meinungsbildner versucht abzuwiegeln: Montagsdemos? Na, das sind doch die Vereinigungsverlierer, die obendrein noch mit dem antitotalitären Charakter der Revolution von 1989 Missbrauch betreiben. Vodafone heißt bei Attac jetzt Vodaklau? Die alte Neiddebatte. Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit? Das sind doch die Gewerkschafter, die die Welt noch nie verstanden und die letzten 30 Jahre verpennt haben.

Das sollte nachdenklich machen. Wurde Attac in den vergangenen Jahren nicht mehr als einmal vorhergesagt, dass das Spektrum für eine Bewegung viel zu breit und eine gemeinsame Strategie nicht möglich sei? Doch die Bewegung ist sogar noch größer geworden und hat eher an politischer Radikalität gewonnen. Wurde der wahlpolitischen Alternative im März nicht nachgesagt, dass sie ohne charismatische Prominente eine Nullkomma-Partei bleiben und keiner sich für sie interessieren würde? Die Prominenten inszenieren sich derzeit noch selbst, und doch hat dieser Verein 3 000 Mitglieder, und der noch gar nicht gegründeten Partei wird in mancher Wahlumfrage ein zweistelliges Ergebnis prognostiziert. Es gibt also gute Gründe, auch die Montagsdemonstrationen und die lokalen Proteste ernst zu nehmen. Sie richten sich gegen die neoliberale Einkommensumverteilungs- und Privatisierungspolitik aller Fraktionen im Bundestag.

Die neoliberale Agenda

Die höheren Einkommen steigen, und die niedrigeren werden weiter gesenkt. Die Einführung des Arbeitslosengeldes II setzt diese Entwicklung fort, indem es die bisherigen Bezieher der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe drückt. Gleichzeitig steigen die Einkommen der Besserverdienenden nominal und zusätzlich durch Steuererleichterungen.

Durch die Privatisierungen wurden in den vergangenen Jahren die Bereiche Verkehr und Kommunikation für den Markt erschlossen und so die Teilnahme der Menschen am Leben den betriebswirtschaftlichen Kriterien der neuen Marktanbieter unterworfen. Die sozialen Sicherungssysteme, wie Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge, folgten dieser Entwicklung.

Längst betreffen die Privatisierungen nicht mehr nur die Sphäre der Ökonomie. Der Neoliberalismus privatisiert das Politische und lässt das Gewaltmonopol des Staates nicht aus. Sicher, ein privates Gefängnis ist in der Bundesrepublik noch nicht gebaut. Aber schon die Besucher von Fußballspielen oder Einkaufszentren können statt der Polizei private Wachfirmen und privatwirtschaftliche Durchsetzungsgewalt kennen lernen. Erkennbar wird eine Strategie, die auf die Freisetzung des reinen Zwangscharakters der Politik setzt: Arbeitszwang, Sicherheits- und Interventionsstaat.

Der vielleicht angenehmste Zug am Neoliberalismus ist, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. Während die früheren kapitalistischen Propagandafeldzüge nie ohne weltanschauliche Schwindeleien auskamen und einen Tarifvertrag auch schon mal als Solidarität unter den Klassen präsentierten, steht die neoliberale Politik offen zu ihren Zielen. Die radikale Option für den Markt und gegen das Politische versteckt sich nicht. Die Solidargesellschaft sei der Grund für die Krise der Marktwirtschaft, heißt es, sie gehört nach Ansicht der Neoliberalen abgeschafft. Nicht marktkonforme Organisationen halten sie für ineffizient. Das Solidarprinzip wird beseitigt und durch eine marktgerechte Rekonstruktion des Sozialen ersetzt. Die Kapitallogik verdrängt die Soziallogik. Die neue Gesellschaft lässt nur Platz für Menschen, die sich marktgängig machen, indem sie sich auf ihre ökonomischen Funktionen beschränken.

Moralische Proteste

Seit dem so genannten Schröder-Blair-Papier aus dem Jahre 1999 wird auch in der Bundesrepublik durchgedrückt, was aus den Globalisierungsdebatten hinlänglich bekannt ist. Die neoliberale Agenda zielt auf neue Machtkonstellationen in Folge der Aufwertung der Finanzmärkte, auf wachsende Ungleichheit und Privatisierungen. Aus dieser Perspektive werden die Rufe der Montagsdemonstranten verständlich. (Jungle World, 34/04) Die Kritik an der Höhe der Managergehälter etwa hat ihren Ursprung in der Unfassbarkeit der Unterschiede. Die Einkommen sind nur noch mathematisch, nicht aber moralisch nachvollziehbar. Der Protest dagegen sollte nicht überraschen.

Wie soll auch ein für ein bis zwei Euro die Stunde plus Arbeitslosengeld II Zwangsarbeitender nachvollziehen können, dass ein Spitzenmanager ein tausendfach höheres Einkommen hat? Er hat ja keine Wahl und von daher auch keine Chance, ein entsprechendes Gehalt am Markt auszuhandeln. Und warum sollen all die als Sozialbetrüger Denunzierten ein schlechtes Gewissen wegen der durch angeblichen Sozialbetrug im Bundeshaushalt als fehlend vermeldeten 120 Millionen Euro haben, wenn Vodafone mal eben 20 Milliarden Euro zurückverlangt? Im Falle von Florida-Rolf wurde das entsprechende Gesetz nach 14 Tagen geändert. Und bei Vodafone? Ist es denn abwegig, gegen einen Staat zu demonstrieren, wenn er diese Politik technokratisch wie niemals zuvor durchsetzt? Und überrascht es dann, wenn diesem Staat die Losung »Wir sind das Volk« zugerufen wird?

Diese moralischen Proteste rufen aber auch die Nationalbornierten auf den Plan. Sie wenden oder füllen die Losungen neu. Unklaren Protest wollen sie für ihre rechten Ansichten gewinnen. Hochkomplexe Wirtschaftszusammenhänge reduzieren sie auf das Wirken personalisierter Übeltäter: Freund-Feind-Schemata werden bemüht; Finanzmärkte werden zu einem Teil eines Gesamtverschwörungszusammenhanges verklärt; Völkisches wird beschworen. Auch all die Elemente antisemitischer Propaganda sind bereits jetzt deutlich erkennbar. Ohnehin sind Kampagnen und soziale Bewegungen, die sich explizit und systematisch gegen Menschen- und Bürgerrechte richten, in Deutschland schon immer wirksamer gewesen als emanzipatorische.

Politische Koalitionen

Der neoliberale Angriff auf die Menschen und das Politische eröffnet aber auch eine Chance. Indem der Neoliberalismus das Politische ersetzt, nimmt er sich die Möglichkeit, gesellschaftliche Konflikte politisch zu vermitteln. Damit schafft er sich ein größeres und schwerer zu kontrollierendes Widerstandspotenzial, als es der Sozialstaat je erzeugen konnte. Egal, ob Menschen gegen die 42-Stunden-Woche, für eine politische, soziale und ökologische Globalisierung, für eine Kindertagesstätte oder einen Sportplatz oder die Rechte der Migranten streiten: Sie alle widersetzen sich dem totalen Anspruch neoliberaler Politik, werden daher von dieser Politik auch gleich behandelt und damit untereinander solidarisiert.

Die Proteste und Kampagnen dieses Sommers stehen daher in einem Zusammenhang. Sollen aber ein erforderlicher Politikwechsel hin zu einer solidarischen und emanzipatorischen Gesellschaft möglich gemacht und die rechten Propagandisten zurückgedrängt werden, ist noch einiges zu leisten.

Es braucht eine Strategie, in die sich die Aktivisten mit ihren unterschiedliche Problemwahrnehmungen, verschiedenen Organisationsformen und der Arbeit auf ihren eigenen Politikfeldern gleichberechtigt einbringen können. Der Sammlungsprozess hat bereits begonnen. Über die Kontaktaufnahme hinaus beraten soziale Bewegungen, Verbände und Gewerkschaften bereits über aufeinander abgestimmte Kampagnen. Etwas schwieriger ist die Einbeziehung der eher kampagnen- oder revoltenartigen Montagsdemonstrationen, weil sie unverbindlicher organisiert sind. Nach der anderen Seite hin ist das Verhältnis zu den Parlamenten und damit zur Parteibewegung »Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit« noch nicht ausreichend diskutiert.

Eine solche Sammlungsstrategie kann an den sich untereinander solidarisierenden Protesten, Kampagnen und Tarifauseinandersetzungen ansetzen. Sie wird die ganze Breite der Akteure von den Straßen über die Bewegungen, Verbände und Gewerkschaften bis hin zur parlamentarischen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus umfassen müssen.

Verlassen wir unsere bequemen politischen Wohnzimmer und richten wir uns neu ein. Es mangelt uns nicht an Kommunikation, wie Deleuze und Guattari einmal feststellten. Es mangelt uns an schöpferischer Kraft und an Widerstand gegen die Gegenwart.

Der Autor ist Mitglied des Bundesvorstandes des Vereins Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. www.wahlalternative-asg.de