Stimmen der Mörder

Eine Ausstellung in Berlin dokumentiert den Auschwitz-Prozess
von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main. von kerstin eschrich

Hans Frankenthal war Zeuge im Auschwitz-Prozess. Eine kleine rechteckige Photographie von ihm hängt zurzeit im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Er ist darauf leider nur schwer zu erkennen. Das Glas spiegelt, und man sieht vor allem sich selber. Sein Bild gehört zur Installation des italienischen Künstlers Loris Cecchini und ist ein Teil der Ausstellung über den Auschwitz-Prozess. Auf der einen Seite des Gangs hängen Bilder von Zeugen, ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, auf der anderen Seite Photographien der Täter, fast alle in Uniform. Der 35jährige Cecchini will die »Metapher von Anwesenheit und Abwesenheit in der Geschichte wie in unserem Verhältnis zur Geschichte« sichtbar machen. Daher darf auch Hans Frankenthal nur verschwommen sichtbar sein.

Sehr scharf und pointiert sind dagegen die Porträts, die von sechs der 22 Angeklagten gezeichnet werden. In dem größten Raum der Ausstellung sind schwarze Kabinen abgeteilt. Jeweils eine für Victor Capesius, den Leiter der Apotheke in Auschwitz, Wilhelm Boger, der wegen seiner grausamen Art zu foltern berüchtigt war (»Boger-Schaukel«), Hans Stark, den SS-Oberscharführer, der direkt an Vergasungen beteiligt war, Oswald Kaduk, den gefürchteten Rapport-Führer, Josef Klehr, der u.a. dafür verantwortlich war, dass immer genügend Gas zur Verfügung stand, und Robert Mulka, den Adjutanten des Lagerkommandanten Rudolf Höß.

Außerhalb der Kabinen hängt eine Karte des Konzentrationslagers Auschwitz. Diabilder, aufgenommen in Auschwitz 1944, werden an eine Wand projiziert. An der Stirnseite kann man auf der einen Seite der Wand die – meist geringen – Strafen ablesen, die verhängt wurden. Auf der anderen Seite der Tür zum nächsten Raum ist aufgelistet, wie lange die Täter tatsächlich in Haft waren.

Darauf fällt auch der Blick, wenn man in einer der Kabinen steht und über ihre Wände hinwegblickt, die nur brusthoch sind. An den Kabinenwänden hängen innen Zeitungsberichte zum Prozess und dem Angeklagten, Daten zu dessen Leben, die Anklagepunkte, Aussagen von ihm, Zeugenaussagen und Auszüge aus der Urteilsbegründung. Zusätzlich hört der Besucher Mitschnitte des Prozesses. Die Stimmen tönen aus zwei kleinen Lautsprechern, die an einer der Wände befestigt sind. Die jeweils etwa zehn Minuten lange Dokumentation wird automatisch immer wieder abgespielt. In den Minuten, bevor der Mitschnitt erneut abgespielt wird, hört der Besucher nur leicht gedämpft die Stimmen aus dem Gerichtssaal in den anderen Kabinen.

»Ich habe an der Tötung vieler Menschen mitgewirkt. Ich habe mich nach dem Krieg oft gefragt, ob ich dadurch zum Verbrecher geworden bin. Ich habe für mich keine endgültige Antwort gefunden«, sagte Stark ruhig und gelassen in seinem Schlusswort vor Gericht. Er spricht Dialekt. Stark wurde 1921 in Darmstadt geboren. Die Stimme eines Massenmörders zu hören, der ungeniert über seine Taten sinniert, ist eine bleibende Erinnerung. Befragt, ob er die Vergasungen als etwas Unrechtes empfunden habe, sagt Starks Stimme klar, deutlich und ohne zu stocken in das Ohr des Besuchers: »Nein.« Auch auf Nachfrage des Richters blieb er dabei. Man erfährt aus einem der abgebildeten Zeitungsartikel, dass er die Ermordung mit Gas aber als »unmännlich und feige« empfunden habe.

Die Stimmen der Zeugen, die meisten ehemalige KZ-Häftlinge, die ihren Peinigern im Prozess gegenüber standen, konnten über Auschwitz nicht so lässig plaudern wie die Angeklagten. Das ist deutlich hörbar.

Im Prozess wurde Stark zu zehn Jahren Jugendstrafe wegen gemeinschaftlichen Mordes verurteilt. Doch nicht einmal die wenigen Jahre musste er absitzen. 1968 erhielt er Haftverschonung. Es ging ihm so schlecht, dass er 1991 starb. Dennoch war der Prozess wichtig. Die meisten Angeklagten lebten bis dahin unbescholten als brave Bürger. Es war ein verdienter Schock für die Deutschen, die Taten der Massenmörder unter ihnen täglich in den Medien präsentiert zu bekommen.

Der Auschwitz-Prozess begann im Dezember 1963 und endete nach 183 Verhandlungstagen im August 1965. 357 Zeugen wurden gehört, 211 waren KZ-Häftlinge gewesen. Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, das die Ausstellung konzipierte, transkribierten über 400 Prozessstunden für die Ausstellung und den Katalog.

Dass der Prozess überhaupt zu Stande kam, ist vor allem der Hartnäckigkeit von NS-Verfolgten wie Fritz Bauer zu verdanken. Der damalige hessische Generalstaatsanwalt hatte den Prozess vorbereitet und vorangetrieben. Unterstützt wurde er dabei etwa von Hermann Langbein, dem Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees. Ihnen und den Schwierigkeiten vor dem Prozess ist ein Teil der Ausstellung gewidmet.

Der Prozess erregte weltweit enormes Aufsehen. Hunderte Journalisten wohnten ihm bei. Inge Deutschkron war eine von ihnen. Die Berliner Journalistin berichtete für die israelische Zeitung Ma’ariv. Sie bemängelt an dem Prozess vor allem die Untauglichkeit der deutschen Strafprozessordnung. »Die Richter waren überfordert. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass der Angeklagte überführt werden muss. Dabei waren die Angeklagten, die alle in Massenvernichtungslagern tätig waren, ganz offensichtlich schuldig. Die meisten Zeugen ihrer Taten waren ermordet worden. Es wäre angemessen gewesen, wenn die Massenmörder von Auschwitz ihre Unschuld hätten nachweisen müssen.«

Nicht vergessen kann Deutschkron die Vernehmung eines Zeugen im Prozess gegen Oswald Kaduk. »Ein ganz einfacher Mann. Der Vorsitzende Richter fragte ihn, was aus seiner Frau und den Kindern wurde. ›Sie wurden ermordet.‹ – ›Woher wissen Sie das?‹ – ›Aber sie sind doch nicht mehr hier‹, antwortete der Mann verzweifelt.« Seine Zeugenaussage konnte nicht verwendet werden, er hatte nicht gesehen, wie Kaduk seine Familie ermordete.

An der Ausstellung kritisiert Deutschkron nun, dass die internationalen Reaktionen auf den Prozess zu kurz kommen. »Gerade die waren sehr interessant, und das Echo war überwältigend.« Dafür wird im hinteren Teil der Ausstellung die Arbeit von Schriftstellern und Intellektuellen, die sich mit dem Prozess befassten, gewürdigt. An erster Stelle steht das Oratorium »Die Ermittlung« von Peter Weiss, das in West- und Ostdeutschland aufgeführt wurde. Weiss hielt sich beim Schreiben des Theaterstücks sehr genau an seine Aufzeichnungen aus dem Gerichtssaal.

Hans Frankenthal kämpfte bis zu seinem Tod für die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter. Er starb 1999 an Knochentuberkulose, die er sich in Auschwitz zugezogen hatte. In seinen Lebenserinnerungen berichtete er von den Reaktionen seiner Mitbürger, nachdem sie erfahren hatten, dass er beim Auschwitz-Prozess als Zeuge auftrat. »Da sprachen sie mich plötzlich an, ob ich ihnen nicht mal etwas erzählen wollte. ›Ich euch was erzählen? Damit ihr morgen wieder sagt, ihr glaubt es nicht. Es gibt reichlich Literatur darüber, besorgt sie euch.‹ Aber wir waren wirklich dankbar über diesen Prozess – endlich, nach zwanzig Jahren, wurde das erste Mal öffentlich über Auschwitz gesprochen.« Die Ausstellung macht deutlich, warum dies so war.

Martin-Gropius-Bau, Berlin; noch bis 19. Dezember 2004, Mittwoch, 17. November, 20 Uhr: »Der Auschwitz-Prozess im Licht der Öffentlichkeit.« Mit Peter-Jochen Winters und Inge Deutschkron