Das Gift des Krieges

Vor 30 Jahren ging in Vietnam der Krieg zu Ende. Millionen Menschen leiden
noch immer an der Vergiftung durch Agent Orange. von marina mai, hanoi

Wenn Musik im Radio ertönt, strahlt Lan vor Freude über das ganze Gesicht und klatscht in die Hände. Singende Kinder erfreuen die behinderte Frau. Deshalb stellt ihre Mutter das Radio immer laut, wenn Kindersendungen kommen.

Lan wurde 1977 in Hanoi geboren, zwei Jahre nach dem Kriegsende in Vietnam. Und doch geht ihre Familie davon aus, dass die kleinwüchsige und fettleibige Frau ein Opfer des Krieges ist, dessen Ende sich am 30. April zum 30. Mal jährt. Ihr Vater diente als Bauoffizier des Vietcong und wurde mit dem Gift Agent Orange besprüht. Die einzigen Nahrungsmittel, die er essen konnte, waren auch mit der Substanz in Berührung gekommen, die von den US-Amerikanern in hoher Dosis eingesetzt wurde.

Mit Agent Orange wollten die US-amerikanischen Truppen den Regenwald entlauben, der dem Vietcong, der Nationalen Befreiungsfront, Schutz und Tarnung bot. Die Herbizide wurden über weite Teile Zentralvietnams und über dem so genannten Ho-Chi-Minh-Pfad an den Grenzen zu Laos und Kambodscha abgeworfen.

Nicht nur Menschen, die unmittelbar mit dem Gift in Berührung kamen, erkrankten an Krebs. Da weite Teile des landwirtschaftlich genutzten Bodens verseucht wurden, gelangte das Gift in die Nahrungskette und verursachte Krebs oder schwere Missbildungen bei Kindern. Weil der vietnamesischen Regierung das Geld für eine großflächige Versiegelung des Bodens fehlt, befinden sich die Gifte noch immer im Nahrungskreislauf.

1988 starb Lans Vater. Damals war die Familie zu arm, um einen Arzt zu holen. Deshalb wurde die Todesursache nie amtlich festgestellt, doch die Familie nimmt an, dass es Kehlkopfkrebs war.

Auch Lan wurde nie einem Arzt vorgestellt. Krankheit und Behinderung gelten in Vietnam nicht als Unglück, sondern als Schicksal, das eine Familie annehmen muss. Gerne schmücken sich vietnamesische Familien mit geschäftlichen Erfolgen oder den Schulabschlüssen ihrer Kinder. Kranke und Behinderte hingegen werden häufig versteckt. Sie leben in der Familie, sie werden von ihr versorgt und machen sich nützlich, so gut sie es eben können.

Eine öffentliche Krankenfürsorge gibt es kaum. Nur wer keine Angehörigen hat, wird in einem staatlichen Heim aufgenommen, in dem minimale Standards vorherrschen. Und mit etwas Glück engagiert sich eine internationale humanitäre Organisation in einem solchen Heim, so dass die Bedingungen etwas besser werden. Für alle anderen Kranken müssen die Angehörigen aufkommen. Deshalb haben die meisten mutmaßlichen Opfer von Agent Orange keine Gewissheit über die Ursache ihrer Krankheit. Entsprechend vage sind die amtlichen vietnamesischen Angaben über die Zahl der Opfer. Sie schwanken zwischen zwei und vier Millionen.

Es gehörte viel Mut dazu, als Anfang 2004 drei vietnamesische Opfer von Agent Orange vor einem New Yorker Zivilgericht eine Klage einreichten. Erst während des Verfahrens redeten die vietnamesischen Medien plötzlich über das Thema. Obwohl die Klage zurückgewiesen wurde, hat sie in Vietnam dazu geführt, dass sich die Öffentlichkeit für die Opfer zu interessieren beginnt.

Eine Entschädigung vom vietnamesischen Staat erhielten nur Opfer, die keine Familien haben. Die USA haben überhaupt keine Entschädigung geleistet. Allerdings gibt es viel private Hilfe aus den USA. Ehemalige Soldaten engagieren sich in karitativen Organisationen, die Pflegeheime und medizinische Einrichtungen für die Opfer von Agent Orange unterhalten. Sie sind heute in Vietnam gern gesehen.

Als die erste Klage eingereicht wurde, gründete sich eine Opfervereinigung, die eine Sammelklage gegen die Firmen einreichte, die das Gift hergestellt hatten. Mitte März wies der New Yorker Richter Jack B. Weinstein die Klage zurück, weil die Kläger nicht hätten nachweisen können, dass ihre gesundheitlichen Schäden von dem Mittel verursacht worden seien. Presseberichten zufolge soll das Justizministerium versucht haben, den Richter zu beeinflussen. Die Behörde soll in einem Brief ausdrücklich darum gebeten haben, die Klage zurückzuweisen. Andernfalls könnten sich auch andere von dem Beispiel ermutigt fühlen, was die Fähigkeit des US-amerikanischen Präsidenten, Kriege zu führen, empfindlich stören würde.

Vor rund 20 Jahren traf derselbe Richter Weinstein eine andere Entscheidung in Sachen Agent Orange. Er drängte die Chemiekonzerne zu einem außergerichtlichen Vergleich mit ehemaligen US-Soldaten, die das Giftgas transportiert hatten und deshalb erkrankt waren. 300 000 Veteranen erhielten 1984 eine Entschädigung von insgesamt 180 Millionen US-Dollar. Ein Schuldeingeständnis der Firmen war damit ausdrücklich nicht verbunden. Vietnamesischen Klägern wurde erst zehn Jahre später der Weg zu US-amerikanischen Zivilgerichten eröffnet, nachdem 1994 das Handelsembargo gegen den einstigen Kriegsgegner gefallen war. Danach dauerte es noch einmal zehn Jahre, bis die Regierung in Hanoi einer Klage ihrer Bürger zustimmte.

Die 1,30 Meter kleine Lan hat das Haus seit ihrer Kindheit nicht verlassen. Hier wird sie wegen ihrer Behinderung nicht ausgelacht. Und hier ist stets dafür gesorgt, dass sie nicht alleine ist, denn sonst geriete sie in Panik. Lans Mutter hatte vier Geschwister. Die beiden ältesten kamen bei einem Bombenabwurf ums Leben. Eine Schwester ist verheiratet und lebt bei den Schwiegereltern. Ihr Sohn ist inzwischen ebenfalls verheiratet und wohnt mit seiner Ehefrau und seinen zwei Söhnen im selben Haus. Er und seine Frau verdienen das Geld für die Großfamilie. In Vietnam gibt es weder eine Rente für die Alten noch eine Entschädigung für Behinderte.

Seit zehn Jahren verzeichnet die vietnamesische Wirtschaft bemerkenswerte Wachstumsraten um acht Prozent. Doch der wirtschaftliche Aufstieg und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche führen auch dazu, dass die traditionelle Großfamilie auseinander bricht, die bislang auch für die Versorgung der Kranken zuständig war.

Lans Mutter möchte nicht darüber nachdenken, wer nach ihrem Tod ihre Tochter betreuen soll. Der Tradition zufolge wären ihre Schwiegertochter und später die Ehefrau ihres ältesten Enkels an der Reihe. Aber die Schwiegertochter hat eine teure Ausbildung als Fremdsprachensekretärin absolviert und arbeitet jetzt bei einer australischen Firma. Und für den Enkel ist die behinderte Tante ein Makel, wenn er selbst heiraten möchte.

Die Mädchen, die heute heranwachsen, orientieren sich an Europa und Amerika. Sie wollen moderne Berufe ergreifen, Geschäftsfrauen werden und nicht Tanten pflegen. Und manch eine junge Vietnamesin hat aus Angst schon nicht in eine Familie geheiratet, in der es Geschädigte von Agent Orange gibt. Immerhin soll die Krankheit erblich sein. Und weil vietnamesische Familien nur zwei Kinder bekommen dürfen, müssen diese gesund sein, um einmal für die Eltern sorgen zu können.