Die Rebellen des Als ob

Alain Badiou, Slavoj Zizek und Giorgio Agamben entdecken den Apostel Paulus. doris akrap über den theological turn postmoderner Philosophie

Die »Arbeiterklasse« als revolutionäres Subjekt ist längst verschwunden. Wenn es gut lief, ging es nach Florida, wenn es schlecht lief, in die Hartz-IV-Falle. Nach längerer Suche meinten dann nicht wenige Linke, in der »Multitude« adäquaten Ersatz gefunden zu haben. Als militante Kämpferin gegen den »Terror des falschen Universalismus von Volk oder Klasse«, wie es bei Antonio Negri und Michael Hardt heißt, trat sie eine fragwürdige Nachfolge des Proletariats an. Zugleich verkündeten die globalisierungskritischen philosophischen Lehrstühle, dass in Europa ein neues Gespenst umgehe: die Gemeinschaft der Gläubigen.

Zweierlei geht daraus hervor: In dem Maße, in dem das politische Bewusstsein schrumpft, wächst das Bedürfnis, die Gesellschaft theologisch wahrzunehmen. Zum anderen geht mit dieser vermeintlichen »Rückkehr« des Religiösen ein dezidiert gesellschaftskritisches Interesse an der politischen Theologie einher, die das ideologiekritische Potenzial des Christentums mobilisieren soll.

Für dieses Projekt wird vor allem an der Rehabilitierung des Apostels Paulus gearbeitet, der als erster »Theoretiker des Universalen« gefeiert wird. Unter dem Slogan »Rückkehr des Politischen« sollen gerade die messianischen Elemente des Marxismus betont werden.

Die Angehörigen dieser Strömung, man könnte sagen: dieser neuen Wahrheitstheorie, stellen eine Art selbstreflexive Postmoderne dar. Sie glauben, eine Wahrheit formulieren zu können, die in ihrer Allgemeinheit alles Besondere enthält. Zugleich halten sie am postmodernen Grundgedanken fest, dass jede Form von Repräsentation, sei es der Name, der Staat oder der Kapitalismus, wegen der immanenten willkürlichen Ein- und Ausschlüsse oder der »falschen Universalität der monetären Abstraktion«, wie es der französische Philosoph Alain Baiou formuliert, terroristisch sei.

Alain Badiou

Den Strategien der »globalen Homogenisierung« will Badiou mit einem »Kommunismus der Singularitäten« entgegentreten. Allerdings soll sich dieser von dem nur scheinbar oppositionellen Multikulturalismus der »schwarzen Homosexuellen, behinderten Serben, pädophilen Katholiken, gemäßigten Islamisten und verheirateten Priester« unterscheiden. Es müsse ein »Denken des Unendlichen« geschaffen werden, meint Badiou, »das sich von der Eins gelöst hat«. Die Zeit verlange einen neuen Lenin, und den hat er bereits gefunden. Und zwar im 13. Apostel, also in Paulus.

Den zentralen Gehalt der paulinischen Botschaft macht der bekennende Atheist und ehemalige Maoist Badiou in der »Auferstehung des Gekreuzigten«, im »Christusereignis« fest und hält dies gleichzeitig für eine bloße Fabel. Gerade in dieser Unwahrscheinlichkeit liege die »unerhörte Geste« des Paulus, nämlich die »Wahrheit jedem kommunitären Zugriff zu entziehen«.

Was das bedeutet? Geschwätz, dem man einfach nur glauben kann oder nicht, wird zum Kriterium für Wahrheit erklärt. Badiou erkennt in Paulus die Gründungsfigur einer »Politik der Wahrheit«. Weil sie sich grundlegend von der griechischen Vernunft wie der jüdischen Prophetie unterscheide, eröffne die paulinische Geste einen Ausblick auf die Perspektive Ernesto Che Guevaras, nämlich dass eine andere Welt möglich sei. Mit diesen, gegen die etablierte Ordnung gerichteten geistigen Kräften wirke der Apostel auf die »konkrete Lebenspraxis« der Menschen. Paulus werde zur »militanten Figur« schlechthin, indem er das »Gesetz« für aufgelöst erkläre und sich selbst zum Anführer einer neuen community ernenne, die frei von jeder Zugangsbeschränkung sei. Er demonstriere idealtypisch, wie sich politisches Bewusstsein konstituiere: Als Subjekt sei Paulus auf ein von seiner Persönlichkeit unabhängiges »Ereignis« gegründet, das Damaskus-Ereignis. Daraus habe er keine spezifische Identität seiner Person geformt, sondern die Bekanntmachung der Wahrheit »an alle« geschlussfolgert und sich zum politischen Aktivisten gewandelt.

Erst an diesem Punkt wird Badiou zufolge das Ereignis zu einem »Wahrheits-Ereignis«. Kein Geschehen sei von sich aus revolutionär, sondern werde es erst durch ein Subjekt, das sich rückwirkend zu ihm bekennt, es öffentlich kundtut und ihm die »Treue« hält, sprich: agitiert, was das Zeug hält. Das Ereignis entstehe zwar aus den unmittelbaren Bedingungen einer gegebenen Situation und lasse sich qualitativ durch den Bruch bestimmen, warum es aber entsteht, könne nicht begrifflich erklärt werden. Es ereigne sich allein aus einer »unvorhersehbaren, bedingungs- und interesselosen Gnade«, folge also keinerlei Gesetzmäßigkeit und geschehe daher rein zufällig.

Diese Relativierung ist eine Folge der Kritik am historischen Materialismus und ist offen für fundamentaltheologische Erklärungen. So ernennen die Kirchen Badiou zum »unverzichtbaren Gesprächspartner« des Projekts, das seit dem Kantischen Imperativ lautet, so zu handeln, als ob ein Gott die Handlungsweise vorgeschrieben habe.

An der Figur des Paulus veranschaulicht Badiou, wie es zur Bildung eines politischen Aktivisten kommt. Darüber, was den Charakter des paulinischen Programms vom »neuen Menschen« ausmacht, verliert er jedoch kein Wort. Denn Paulus trennt den Körper vom Geist, den Magen und die Libido gibt es nur noch in der Form des als ob. Zurückhaltende Ernährung und sexuelle Askese führen geradewegs in den zölibatären Junggesellenkommunismus, der eher einem spirituellen Großreinigungsunternehmen als dem Hedonismus im Garten Eden gleicht.

Der explizite Verzicht auf jegliche Kritik an der politischen Ökonomie führt innerhalb seines Wahrheitsbegriffs zu abstrusen Folgerungen. So kritisiert Badiou an der Erinnerungs- und Gedenkpolitik zu Recht, dass aus deren Gehalt keine Wahrheit über das Ereignis Auschwitz abzuleiten sei. Allerdings sieht er mit der Begründung, dass es schließlich auch Holocaustleugner gebe, sein paulinisches Wahrheits- und Geschichtsverständnis bestätigt. Man kann eben, wie zu beweisen war, Wahrheit nicht erkennen, man kann sich nur zu ihr bekennen, schließlich könnten für jede historische Begebenheit Argumente und Gegenargumente gefunden werden. Damit tritt das ereignisphilosophische Konzept Badious, wie noch jedes dieser Spielart, in Konkurrenz zur Realgeschichte. Indem er das Unerklärbare beschwört, suspendiert er sämtliche Erinnerung und Reflexion und legitimiert dies als christliche Aporie.

Slavoj Zizek

Sein innigster Bruder im Geiste ist Slavoj Zizek. Zwar ist er für marxistische Theoreme aufgeschlossener als Badiou, doch bei seinem Versuch, das messianische Paradigma in ein materialistisches Programm zu übersetzen und die Erlösung als historische Frage zu formulieren, wird Zizek zum größten Schwärmer vor dem Herrn: »Die Revolution steht bevor« lautet der Titel seines jüngsten Buches. Er hätte es auch »Das Modell Paulus mit Leninbart« nennen können. Indem er die christliche Terminologie bemüht, will er die Psychoanalyse Jacques Lacans von ihrer Kryptologie befreien.

So wird auf etwas konsumentenfreundlichere Art das Lacansche »Objekt A« als das »Mehr-Genießen« erklärt und mit der Bedeutung des Mehrwerts gleichgestellt. Dieser wird mit der Funktion von »Cola light« erklärt. Gilt Zizek schon die »Coke« als »Inbegriff der Ware schlechthin«, deren »Gebrauchswert bereits eine direkte Verkörperung der übersinnlichen Aura des unaussprechlichen spirituellen Mehrwerts« ist, kulminiert dieses Phänomen in der um Kalorien und Koffein, also um Nährwert und Geschmack reduzierten Version: »das künstliche Versprechen einer Substanz, das sich nie materialisiert«.

Im Vergleich zu Badiou bemüht sich Zizek um Absicherungen und relativiert die paulinischen Leistungen, indem er die Widersprüche und dramatischen Konsequenzen dieser Theologie benennt. Auch der Universalismus des Paulus ist nämlich nicht bedingungslos. Alle, die sich weigern, die neue Wahrheit anzuerkennen, werden gnadenlos von der neuen Gemeinschaft ausgeschlossen. Im Wesentlichen sind dies die Juden. Der weit verbreiteten Annahme folgend geht Zizek davon aus, dass der Apostel seinen Namen von Saulus zu Paulus wechselte. Daher mahnt er, dass auch die »neue Menschwerdung« unter der gewaltvollen Bedingung des radikalen Neuanfangs stehe: die radikale Auslöschung der eigenen Vergangenheit.

Innerhalb der Philosophie der neuen Wahrheit gibt es auch Abweichler. Zum Beispiel Jacques Derrida. Dieser will eine »hyperimperialistische Bemächtigung« durch das »Anglo-Amerikanische« erkannt haben, der er mit einer Restitution eines »ursprünglich europäischen« Begriffs von Religion begegnen will. Weil aber jede politische Realisierung von Utopie im Stalinismus ende, plädiert er für eine »Radikalisierung«, die sich durch Handlungsaskese auszeichne; also dadurch, dass man nicht handle. Diese ziele nicht auf den Umsturz der Verhältnisse, sondern auf das Verweilen in der »Lücke zwischen Jetztheit und dem messianischen Versprechen des Kommenden«.

Diese Lücke haben allerdings schon lange vor Derrida andere entdeckt. Geöffnet wurde sie vor knapp zwei Jahrtausenden von Paulus: die neue Zeitrechnung »n. Chr.«. Diese sollte aber nur eine Interimszeit sein bis zur endgültigen Wiederkehr Jesu zum Jüngsten Gericht. Paulus verkündete: »Die Zeit ist kurz« und erwartete, dass er noch am eigenen Leibe erleben werde, wie die Lücke geschlossen werde. Und so warten die Christen noch heute »zwischen den Zeiten«, was gemeinhin mit der Durchhalteparole von der »Parusieverzögerung«, also der verspäteten Ankunft, entschuldigt wird.

Die theologische Verortung »zwischen den Zeiten« war zuletzt von der Dialektischen Theologie wegen der Erfahrung des Ersten Weltkrieges vorgenommen worden. Diese hatte allerdings keine Lücke, sondern einen radikalen Neuanfang postuliert, indem sie das Wirken in der Welt vollständig unter die Autorität Gottes stellte. So stellte Karl Barth, der prominenteste Vertreter jener Strömung, in seinem Römerbriefkommentar Gott als die einzig wahre Negation des Bestehenden mit der grandiosen Formel » – (+a+b+ c+d)« dar: Das Vorzeichen verändert den Inhalt der Klammer. Der »große Andere«, also Gott, wird hier vom großen Schöpfer zum großen »Verderber«. Barths Position ist in diesem Punkt der gnostischen Theologie von Marcion, dem ersten Theoretiker des Mönchtums, verwandt, der mit seinem nihilistischen Kirchenprogramm »der Welt den Samen entziehen« und auf diese Weise Platz für die paulinische Ideologie des Junggesellenkommunismus schaffen wollte.

Giorgio Agamben

Eine ähnlich passive Weltverneinung entdeckt auch Giorgio Agamben bei Paulus. Dieser habe unter dem terminus technicus des »als ob nicht« einen Raum geschaffen, der Macht und Gesetz entkomme, indem er mit ihnen nicht in Konflikt gerate, sondern sie »wirkungslos zurücklässt« oder »deaktiviert«. Schon durch seine eigenmächtige Ernennung zum Apostel habe er das Gesetz so behandelt, als ob es nicht mehr gültig sei. Im Neuen Testament wird diese subversive Methode ausgeführt: »Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als werde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht« (1. Kor 7, 29–32).

Diese Propaganda der Simulation, so zu tun, als ob es nicht so sei, wie es ist, kann man wohl der Erkenntnis des Apostels zuschreiben, dass Rom militärisch nicht zu besiegen und Widerstand nur als geistige Verweigerung möglich war. In Agambens bisher nicht ins Deutsche übersetzter Paulus-Abhandlung geht es um die »Zeit, die bleibt«. Die von Paulus verkündete »messianische Zeit« sei eben nicht das Ende der Zeit, sondern die »Zeit des Endes«. Mit der Verkündigung einer neuen Zeitrechnung, die mit der Abschaffung, also dem Ende des »Gesetzes« synonym ist, bringe Paulus erst die Situation der Unterdrückung durch die Herrschaft des Gesetzes zur Anschauung.

Hier trifft man auf den Kern linker Beschäftigung mit dem heiligen Paulus: seine Dialektik des Gesetzes und die nihilistische Antwort darauf. Paulus erklärt im Römerbrief, dass er erst durch das Verbot des Begehrens überhaupt auf die Idee gekommen sei zu begehren und also schon das Gesetz »Du sollst nicht begehren« übertreten habe, zum Sünder wurde und so dem Gesetz erst die Möglichkeit gab, sich zu legitimieren. Der Zweck des Gesetzes liege also einzig und allein darin, sich selbst als Herrschaft zu begründen und die bestehenden Verhältnisse zu sichern. Deshalb könne man es auch ganz abschaffen.

Abgesehen von dieser letzten Konsequenz entspricht die paulinische Auffassung des Gesetzes der Definition von Carl Schmitt, dass souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide. Der Ausnahmezustand legitimiert erst das Gesetz und ist von diesem nicht mehr zu unterscheiden. Agamben erkannte die allgemeine Struktur der Lager, einschließlich der nationalsozialistischen Vernichtungslager, darin, die »Ausnahme dauerhaft zu verwirklichen«.

Er verleiht also dem KZ einen Sinn, der über die Vernichtung hinausweist und der paulinischen oder der Schmittschen Gesetzeslogik entspricht, nämlich die Funktion der Ausnahme, mit der die Nazis ihre eigene Herrschaft im Ausnahmezustand als Regel durchsetzbar machen konnten. Freilich erfüllt noch jedes Zeltlager einen Ausnahmezustand vom geregelten Leben in der Zweiraumwohnung und könnte auf dieser »strukturellen« Ebene mit dem KZ verglichen werden.

Oberflächlich betrachtet, wirken die Texte dieser theologischen Postmoderne wie Flugblätter aus dem Studentenmilieu mit ihren Nebelkerzen von »Subversion«, »Militanz« und »Rebellion«, von »verstörenden Eingriffen« in etablierte Ordnungen, die »aus der Bahn geworfen« oder »verunsichert« werden sollen. Allerdings ist aus der Sicht von Badiou, Zizek und Agamben zwischen Mauerfall, Pilgerevent und den Gipfelprotesten kein Unterschied festzustellen: Eine ganze Stadt wird lahm gelegt, der Ausnahmezustand wird verwirklicht und dann fährt man einfach wieder nach Hause, als ob nichts passiert wäre. Dieser selbstreflexiven Postmoderne ist dasselbe Zeugnis auszustellen, das Georg Lukács der Kritik der Lebensphilosophie ausstellte: nichts weiter als ein unschuldiges, gefahrloses geistiges Turnier zu sein. Eine Philosophie, nach deren Konsum man weiter handeln und denken kann, als ob nichts passiert wäre.