Warten, bis der Krebs aufhört

In Tübingen demonstrierten rund 1 000 Menschen für den dubiosen »Naturheiler« Hamer. von titus lenk

Die Teilnehmer an der Demonstration am 14. Mai in Tübingen hätten von ihrem Äußeren her der alternativen Szene angehören können. Auf Transparenten in mehreren Sprachen forderten sie »Freiheit für Doktor Hamer«. Wer jedoch meinte, einer Ansammlung von Menschenrechtsaktivisten beizuwohnen, lag völlig falsch. Den Protestierenden ging es um die Anerkennung der »Germanischen Neuen Medizin«, die der ehemalige Arzt Ryke Geerd Hamer begründet hat.

Vor gut zehn Jahren machte der Fall der kleinen Olivia Pilhar aus Österreich Schlagzeilen. Die Eltern des damals sechsjährigen Mädchens sind überzeugte Anhänger der »Neuen Medizin« und wollten die Krebserkrankung ihrer Tochter nach der Lehre Hamers »ausheilen lassen«, was so viel heißt wie, sie nicht zu behandeln. Vor dem drohenden staatlichen Zugriff flüchtete die Familie bis nach Spanien, zu Hamer persönlich, der die Erkrankung Olivias auf den übermäßigen Verzehr von Schnitzeln zurückführte. Nach einer Interpolfahndung konnten die Eltern mit ihrer Tochter ergriffen werden; sie wurde nach Österreich geflogen, gegen den Willen der Eltern operiert und gerettet. Helmut und Erika Pilhar erhielten später eine achtmonatige Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung.

Die Geschichte der Sekte beginnt jedoch früher, mit einer äußerst dubiosen Geschichte, die, von Hamer aufgeschrieben, im Internet nachzulesen ist. Im August 1978 soll Vittorio Emanuele von Savoyen, ein Nachkomme des letzten italienischen Königs, Hamers Sohn Dirk angeschossen haben, der einige Monate darauf starb. Seine eigene Erkrankung an Hodenkrebs führte Hamer wenig später auf den Schock zurück, den er erlitten habe, als sein Sohn »inmitten eines feindlichen Spaliers von Ärzten und Schwestern« starb.

Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigte sich die Angewohnheit Hamers, vermeintliche medizinische Erkenntnisse und Verschwörungstheorien zu vermischen. Denn einer Verschwörung soll sein Sohn zum Opfer gefallen sein. Man sei anscheinend »zu der Überzeugung gelangt, es sei doch wohl besser, wenn der Junge stürbe, das habe für die Familie Savoyen den Vorteil, dass sie nicht einen Krüppel als lebenslanges Mahnmal vor Augen haben müsse«.

Als ihm sein Sohn im Traum erschienen sei, stand für Hamer fest: Jede Krebserkrankung beginnt mit einem schweren psychischen »Konflikterlebnisschock«, den er das »Dirk-Hamer-Syndrom« nennt. Deshalb sei es das Beste, den Krebs einfach »ausheilen« zu lassen. Später modifizierte er seine Theorie und wandte sie auch auf andere Krankheiten an. Er nahm sich nicht weniger vor, als die Schulmedizin zu revolutionieren oder vielmehr abzuschaffen.

Doch die Welt verkennt ihren Retter. Seit Hamer, damals noch Internist und Krankenhausarzt in Tübingen, seine Theorie, die er zunächst »Neue Medizin« nannte, im Jahr 1981 öffentlich präsentierte, habe man ihn, seinem persönlichen Empfinden nach, »wie einen Hasen übers freie Feld« gejagt.

Im Jahr 1986 wurde ihm die Approbation als Arzt entzogen. Hamer begann, Anhänger um sich zu scharen, für seine Sache zu werben und seine Art von Medizin anzuwenden, bei sich und bei anderen. Im Jahr 1997 wurde er von einem Kölner Gericht wegen unerlaubten Praktizierens zu 19 Monaten Haft verurteilt, von denen er zwölf Monate verbüßte. Wegen Betruges und Beihilfe zur unterlassenen Hilfeleistung wurde er im März 2000 in Frankreich angeklagt; in Österreich suchte man ihn wegen Totschlages in mindestens 50 Fällen. Das Berufungsgericht im französischen Chambéry verurteilte Hamer am 1. Juli 2004 wegen Betrugs und der Komplizenschaft bei der illegalen Ausübung einer medizinischen Tätigkeit in Abwesenheit zu drei Jahren Gefängnis. In Spanien, wo er versuchte, als »Naturheiler« zu wirken, wurde er im September 2004 verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert. Dort sitzt er seither ein.

Die Anziehungskraft der »Germanischen Neuen Medizin« auf manche Menschen mag daran liegen, dass sie die Zweifel am Nutzen einer Chemotherapie ausnutzt und ein sehr einfaches Erklärungsmodell für alle Krankheiten bietet. Sie funktioniert wie eine politische Verschwörungstheorie und gibt einfache Antworten auf komplizierte Fragen.

Wenn es mit der Heilung einmal nicht klappt, hat es der Patient eben nicht geschafft, »seinen ursprünglichen Konflikt oder seine Anschlusskonflikte zu lösen«. Das widerfuhr zum Beispiel im Jahr 2000 einer 47jährigen Schweizerin, die ihren Brustkrebs »ausheilte« und qualvoll starb. Der 25jährige Sören Wechselbaum erlag im Jahr 2002 seinem Hodenkrebs, weil er ein Jahr lang jede Behandlung abgelehnt hatte.

Ungefähr seit dem Jahr 2002 und dem Namenswechsel zur »Germanischen Neuen Medizin« sind von Hamer antisemitische Äußerungen in seinen Mitteilungen an seine Anhänger, die im Internet nachzulesen sind, bekannt. Aus der ihn vermeintlich verfolgenden »Pharmalobby« wurden »Zionisten« oder »Juden«. Die Schulmedizin bezeichnete er als »jüdische Medizin«, und den Juden wirft er vor, seine Erfindung für sich zu benutzen und anderen zu verwehren. Ein »Weltoberrabbiner« und sein Boykott der »Germanischen Neuen Medizin« seien verantwortlich für viele Krebstote.

Hamers Anhänger Pilhar spricht von einer »Massenvernichtungsindustrie« in der normalen Medizin, der Meister selbst sieht sich als Insassen eines »Gulag-KZ«. Und die »Amici di Dirk« sind der Meinung: »Das konnte selbst in Russland unter Stalin nicht schlimmer sein.« All das scheint Hamers Lehre für Rechtsextreme attraktiv zu machen. So findet sich zum Beispiel auf der Homepage der NPD in Sachsen-Anhalt eine Vorstellung der »Germanischen Neuen Medizin«.

Hamer hat Anhänger in Deutschland, in der Schweiz, in Luxemburg, Frankreich, Italien, Österreich und in Spanien. Die Demonstration am 14. Mai in Tübingen war bisher die größte seiner Anhänger, die auch aus Spanien, Frankreich und Italien angereist kamen. Tübingen war ausgewählt worden, weil der inzwischen 70jährige Hamer dort als Arzt praktiziert hatte und dort sein Habilitationsverfahren über die »Germanische Neue Medizin« abgelehnt worden war.

Von Hamers Aussage, er sei vom »obersten Medizinalrat der Juden« verurteilt worden, mochten sich die Demonstrierenden auf Nachfrage nicht distanzieren. Auszuschließen sei das ja nicht, sagte einer von ihnen.