Dunkle Kristalle

Konzerne sind keine geschlossenen Einheiten, der Begriff »Corporate Identity« ist eine große Lüge. Fünf Fragmente zum heutigen Kapitalismus von Holm Friebe

I. Dunkle Kristalle

Wenn man sich den Kapitalismus von heute bildlich vorstellt, stellt man sich einfachheitshalber eine Welt der großen Konzerne vor, die von professionellen Menschen bevölkert wird und sich hinter verspiegelten Hochhausfassaden abspielt. Die Konzerne stellt man sich als monolithische Blöcke vor, die wie ein Kristall aufgebaut sind. Jeder Mensch hat seinen, jede Abteilung ihren Platz im dreidimensionalen Gitterwerk des großen Ganzen, und das ganze System bietet eine glatte, abgeschlossene Oberfläche nach außen.

Nicht von ungefähr erinnert die Hochhausarchitektur der meisten Konzernzentralen an jenen mysteriösen schwarzen Block, der in der Anfangssequenz von Stanley Kubricks »2001 – Odyssee im Weltall« auf die prähistorische Erde fällt und den Prozess der Zivilisation einläutet, indem er die Affen zum Werkzeug- beziehungsweise zum Waffengebrauch anstiftet.

Man stellt sich eine Welt der reibungslosen Abläufe vor, wie in den automatisierten Produktionshallen, in denen tatsächlich noch physische Produkte hergestellt werden – eine gut geölte Maschine, in der Wissen, immaterielle Werte und Entscheidungen wie am Fließband produziert werden. Im Prinzip sind wir damit bereits der imageproduzierenden Industrie aufgesessen, die behauptet, »das« Unternehmen habe einen Willen, spreche mit einer Stimme und sei eine geschlossene Einheit. Vielleicht ist das die erste große Lüge der Werbung, der alle weiteren folgen: glaubhaft zu machen, es gäbe so etwas wie die Identität eines Unternehmens – nichts anderes suggeriert der Terminus »Corporate Identity« –, man habe es mithin mit einem organischen Ganzen zu tun, das man sich am besten wie eine Person vorstellt.

Jene anthropomorphisierende Verkürzung, die auf dem Feld der Politik längst in den Bereich der gefährlich biologistischen Mythen verbannt wurde – die Vorstellung des Staates als organisch gefügter Körper mit Gehirn und Gliedern –, erfreut sich in der Ökonomie, insbesondere im Marketing, großer Beliebtheit und einer wachsenden Anhängerschaft. »Identitätsorientierte Markenführung« heißt das Schlagwort dazu. Überall in den Marketingetagen der Konzerne und Agenturen ist die Rede von der »Markenpersönlichkeit«, die es herauszuarbeiten gelte.

Von der Begeisterung für die eigene Metapher aus der Kurve getragen, glauben die Verantwortlichen endlich, was der konservative Vordenker Hans Domizlaff ihnen 1939 – als man sich auch den Staat durchaus noch gut als Volkskörper vorstellen konnte – ins Stammbuch geschrieben hat: »Eine Marke hat ein Gesicht wie ein Mensch.« In den Marktforschungsstudios lautet demnach die stereotype Frage der Imageermittler: »Wenn diese Marke ein Mensch wäre, wie hätte man ihn sich vorzustellen?« Die einzig sinnvolle Antwort darauf lautet: »Gar nicht.« Organisationen bestehen aus Menschen, aber sie sind keine. Unternehmen hat man sich genauso wenig als konsistent handelnde Personen vorzustellen wie als kristallinen Gebilde.

Ein Blick hinter die hochglänzende Außenhaut eines solchen Kristalls offenbart Gegenteiliges. Ein Konzern ist mitnichten jene Konsensveranstaltung, die er nach außen zu sein vorgibt. Das Gegenteil ist der Fall. Sobald man die Sicherheitsschranken am Eingang passiert hat und hinter die verspiegelte Fassade blickt, zerfällt der Konzern in einzelne Abteilungen, die sich untereinander spinnefeind sind. Jede einzelne Abteilung hat eine Abteilung, mit der sie auf besonders schlechtem Fuße steht, die ihr das Wasser abgraben, den Etat kürzen oder die Kompetenzen beschneiden will.

Diese Abteilungen funktionieren wie autonome Einheiten, deren Ziele nicht das Geringste mit dem nach außen verkündeten Firmenziel – im Marketingsprech »Mission Statement« genannt – zu tun haben, ihm sogar meist diametral entgegenstehen. Wenn sie überhaupt funktionieren, heißt das, denn natürlich setzen sich auch diese Abteilungen wieder aus Mitarbeitern zusammen, die ihre persönliche Agenda abseits der Ziele der Abteilung pflegen.

Je größer die Organisation, desto stärker richtet sich der Blick nach innen. Er richtet sich auf die merkwürdigen Gesetzmäßigkeiten, nach denen dieser heillos zerstrittene Moloch im Inneren funktioniert und die sich der auf die eigene Vorteilsnahme bedachte Mitarbeiter wie im Schlaf zunutze machen muss, will er sein eigens Überleben und Vorankommen in der Organisation sichern. Je größer das Unternehmen ist, desto mehr sinkt die Außenwahrnehmung gegen Null.

Man könnte das mit Niklas Luhmanns Theorie der strukturellen Schließung komplex ausdifferenzierter Systeme erklären, muss es aber nicht. In jedem Fall ist die Organisation nicht mehr in der Lage, Informationen aus der Außenwelt aufzunehmen und zu verarbeiten, es sei denn, sie werden in vorverdauter Form angeliefert. Deshalb hält sich die Firma externe Berater. Besser: Jede Abteilung hält sich externe Berater, die ihr erzählen, wie die Sonne aussieht und dass Zwei plus Zwei gleich Vier ist. In Wahrheit erfüllen diese Berater aber einen ganz anderen Zweck. Sie dienen dazu, die Politik der Abteilung gegen alle anderen Abteilungen zu flankieren und durch scheinbar objektive Außen- und Expertenmeinungen zu legitimieren.

Auf keinen Fall ist es die Aufgabe der Berater, irritierende Information von außen in die Abteilung zu schleusen, die etwa zur besseren Anpassung an die Außenwelt oder gar zum Kurswechsel beitrüge. Stattdessen ist es die Aufgabe der Berater, sich die Sorgen und Nöte der Abteilung anzuhören und Verständnis aufzubringen, was ja sonst niemand tut. Wie beim Psychotherapeuten liegt die Qualität der Berater zuallererst darin, zuhören zu können und Verständnis und Mitgefühl zu simulieren.

In weiteren Schritten geht es dann darum, das, was die Abteilung aus eigennützigen Motiven ohnehin plant, gegenüber konkurrierenden, insbesondere übergeordneten Abteilungen abzusichern. Umsatz, Gewinn, Marktanteil und Kundenzufriedenheit sind entgegen allen frommen Bekundungen niemals Zweck und bestenfalls Mittel, die eigene Position zu stärken. Es grenzt an ein Wunder, dass unter diesen Bedingungen überhaupt noch etwas zustande kommt und produziert wird.

II. Märkte und Antimärkte

Je größer das Unternehmen, in dem man sich befindet, desto mehr nimmt der Anteil produktiver Arbeit ab, und der Anteil der Politik nimmt zu. Ab einer gewissen Größe diffundiert die eigentlich zu leistende Arbeit so stark zwischen den Abteilungen und Mitarbeitern, das Taktieren und die hausinterne Diplomatie nehmen derart überhand, dass allein Fähigkeiten auf diesen Gebieten für das Vorankommen und den beruflichen Erfolg maßgeblich sind. Deshalb ist in Konzernen ein vollkommen anderer Menschenschlag erfolgreich als auf dem freien Markt.

Konzerne und Unternehmen bilden nach wie vor das Rückgrat des Kapitalismus. Aber jeder, der bei Konzernen an Marktwirtschaft denkt, ist tendenziell auf dem Holzweg. Deshalb sind Marktwirtschaft und Kapitalismus mit großer Vorsicht zu genießende Synonyme. In Wahrheit zielt der Kapitalismus mit seiner von Karl Marx durchaus zutreffend beschriebenen Tendenz zur Kapitalakkumulation und Monopolbildung auf die partielle Ausschaltung von Marktmechanismen.

In seinem Welterklärungsbuch »A Thousand Years of Nonlinear History« macht Manuel de Landa auf eine wichtige Differenz aufmerksam, die der Historiker Fernand Braudel in seiner Geschichtsschreibung des Kapitalismus einzieht: die zwischen Märkten und Hierarchien. Die Dynamik von Märkten, auf denen viele kleine Produzenten ihre Produkte feilbieten, unterscheidet sich demnach fundamental von der Logik des Unternehmens. Im Unternehmen herrschen Hierarchien und Weisungsstrukturen, die genau das Gegenteil von Marktabstimmungsprozessen darstellen. Die historische Funktion von Firmen, Unternehmen und Konzernen zielt demnach genau darauf ab, Marktmechanismen auszuschalten und durch Hierarchien zu ersetzen. Aus diesem Grund spricht de Landa von Unternehmen als Antimärkten, deren vorrangiges Ziel nicht Effizienz ist, sondern Kontrolle über Marktanteile, Preise, Mitarbeiter, Politiker etc.

De Landa schreibt: »Die konzeptuelle Verwirrung, die sich aus den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Wortes ›Kapitalismus‹ speist (als ›Freiheit der Unternehmen‹, gleichzeitig als ›industrielle Produktionsweise‹ und neuerdings als ›globales Wirtschaftssystem‹), ist so grundstürzend, dass sie eine objektive Analyse ökonomischer Macht beinahe unmöglich macht. Man könnte ›Kapitalismus‹ natürlich dahingehend umdefinieren, dass er ›die Macht zur Manipulation von Märkten‹ als konstitutives Bedeutungselement beinhaltet und dafür einige seiner teleologischen Konnotationen abstreift. Wie aber Wissensphilosophen sehr wohl wissen, zeigt die Tatsache, dass eine Theorie ihre Termini ad hoc umdefiniert, um der letzten Runde negativer Evidenz gerecht zu werden, genau dadurch an, dass sie den Zenit ihrer Brauchbarkeit überschritten hat. Angesichts dessen scheint die einzige Lösung zu sein, den ausgelutschten Begriff durch einen Neologismus zu ersetzen, der nach Braudel ›Antimärkte‹ heißen könnte und ausschließlich benutzt wird, um ein bestimmtes Segment der Population kommerzieller und industrieller Institutionen zu beschreiben.«

Der Siegeszug der Antimärkte begann bereits im 13. Jahrhundert und dauert bis heute an. Staatsmonopolkapitalismus oder der militärisch-industrielle Komplex mögen ideologische Kampfbegriffe aus vergangenen Zeiten sein – die andauernde Markt- und Freihandelsrhetorik der Manager ist nicht minder fadenscheinig und erfüllt keinen anderen Zweck als zu verschleiern, dass es in Wahrheit um das genaue Gegenteil geht: Macht- und Einflusssphären zu sichern und auszuweiten, wo vorher der Markt regierte, die spontane Selbstorganisation des Marktgeschehens durch hierarchische Weisungsstrukturen zu ersetzen, ein politisches Umfeld zu schaffen, das die Aussetzung von Marktprozessen im Sinne des Unternehmens begünstigt.

Die eigentlichen Feinde der Marktwirtschaft sitzen in den Konzernzentralen. Die von de Landa vorgeschlagene Unterscheidung von Märkten und Antimärkten könnte eine überfällige Korrektur unserer Vorstellung vom Kapitalismus sein, und allein die semantische Umdeutung von Unternehmen zu Antimärkten öffnet den Blick darauf, was Unternehmen eigentlich sind und wie ihr wahrer Charakter aussieht.

III. Standortvoodoo

Im Lokalteil einer einzigen Ausgabe der Berliner Zeitung vom 9. September 2004 finden sich drei bemerkenswerte Artikel. Der erste handelt von der Zukunft des Flughafens Tegel nach der für das Jahr 2011 annoncierten Fertigstellung des Großflughafens Schönefeld. Anstatt den Flughafen abzureißen, schlägt jemand vom Verein »Berlin Mobility Network« in einem »Programm für die wirtschaftliche Zukunft Berlins« genannten Papier vor, das Gelände samt der Gebäude in einen »European Mobility Park« umzuwandeln, einen gewaltigen Themenpark der Mobilitätsbranche mit Flugzeug-, Schiff- und Bahnanbindung. »An Berlin soll keiner mehr vorbeikommen können, der ein Boot, eine Weltreise, ein Fahrrad oder auch nur einen Treppenlift kaufen will«, wird der Sprecher des Vereins zitiert. Mindestens 600 große und kleine Unternehmen müssten gewonnen werden, dann könne Berlin mit dem Projekt »zur Weltmetropole der Mobilität« werden.

Zwei Seiten weiter liest man über ein Vorhaben, das eine Agentur namens id3d zusammen mit der Vorsitzenden des Kulturausschusses im Angeordnetenhaus ausgebrütet hat und das Bestandteil des Programms »Schaustelle2005« werden soll. Es sieht vor, die Straße »Unter den Linden« zwei Tage lang mit Rollrasen auszulegen. Die Hauptverkehrsachse würde so zu einem temporären Park, der zum Picknick einlade. Fehlten nur noch die Sponsoren, die geschätzte 300 000 Euro für die benötigten 58 681 Quadratmeter Rollrasen aufbringen, der nach der Veranstaltung entsorgt werden müsste.

Auf der nächsten Seite schließlich befindet sich die Ankündigung eines Zusammenschlusses von sieben Investoren und Grundstückseigentümern unter dem Namen »media-spree«, die am Ufer der neuen Medienmeile eine »Spree-Box« in der Nachfolge der »Info-Box« am Potsdamer Platz planen. Konkurrierende Entwürfe sehen entweder die Form eines zu Aussichtsplattformen umgebauten Schiffes oder ein schildkrötenartiges Zelt an Land vor. Auch hier kommt ein Sprecher zu Wort: »Wir wollen in der Spree-Box natürlich über Planungen und Bauprojekte informieren, aber zugleich Ansprechpartner für weitere Investoren sein.«

Nimmt man diese drei Einzelmeldungen eines Tages zusammen als Symptom, dann verdichtet sich das Bild eines Standortes, der reale Wirtschaftstätigkeit zu einem nicht geringen Teil durch ihr Surrogat ersetzt hat. An die Stelle solider Investitionen, die sich aus einer Quelle refinanzieren, nämlich dadurch, dass Menschen bereit sind, etwas für eine geldwerte Sach- oder Dienstleistung zu bezahlen, treten zunehmend solche Projektideen, für die der zweischneidige Begriff »visionär« angemessen ist – erinnert sei hier nur an Altbundeskanzler Helmut Schmidt, der einmal beschied: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.«

Sie verkörpern eine merkwürdige Melange aus unternehmerischem Denken, fixen Ideen und künstlerisch ambitioniertem Größenwahn. Sie entstehen als Computersimulation am Bildschirm und lassen sich ökonomisch überhaupt nur »darstellen« – ein verräterischer Terminus in diesem Zusammenhang – als fragile Mischkalkulation aus tatsächlichen Einnahmen, Werbe- und Sponsorengeldern, öffentlichen Fördermitteln und der vagen Aussicht auf andere ebenso abwegige Folgeprojekte und -investitionen. Wenn sich auch das einzelne Projekt niemals als solches rechnet, so verweist es doch auf die positiven Abstrahleffekte, auf das Image aller Beteiligten und das Image für den Standort.

Das verbesserte Image des Standortes ist quasi die Blaue Blume, die die meisten dieser visionären Projekte suchen, deshalb haftet ihnen im Kern etwas zutiefst Romantisches an. Viele erinnern an das verwegene Vorhaben Fitzcarraldos im gleichnamigen Film von Werner Herzog, mitten im Dschungel des Amazonas ein Opernhaus zu errichten. Der manische Fitzcarraldo, fantastisch tragisch verkörpert von Klaus Kinski, war im Kern seines Wesens ein Romantiker, der die Oper liebte. Heute würde er als visionärer Geschäftsmann durchgehen, der etwas für den Standort Amazonasdelta unternimmt.

Vielleicht sieht man diese Tendenz in einer Stadt wie Berlin besonders deutlich, die sich in Zeiten wegbrechender Industrie und einer Arbeitslosenquote von knapp einem Fünftel der Erwerbsbevölkerung an die Vision der »Kulturhauptstadt« klammert, in der Phantasie und Kreativität die wichtigsten Ressourcen darstellen und die Grillen die Ameisen durchfüttern.

Gleichzeitig entspricht es einer allgemeinen Tendenz in der Wirtschaft, die zur Überzeugung gelangt ist, dass einfach nur Produkte sich einfach nicht mehr so gut verkaufen lassen und dass Arbeit nicht glücklich macht. Das täglich anschwellende Sinndefizit der Güterwirtschaft versucht sie mit Kultur zu stopfen. So wird Kultur als Begriff und Ambition über alles gekleistert, was ehedem dem ökonomischen Reich der Notwendigkeit und der Bedarfsdeckung zufiel.

Diese Verlagerung der Wirtschaftstätigkeit auf fachfremdes Gebiet kulminiert im Event. Wann immer die Wirtschaft mit ihren Midasfingern einen Gegenstand der Kultur anfasst, wird ein Event daraus, der Begriff »Eventkultur« ist damit eins der traurigsten Oxymora der Gegenwart. Im berühmten Kulturindustrie-Kapitel hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bereits in den vierziger Jahren beschrieben, worauf die Verschmelzung von Wirtschaft und Kultur zu einer »ökonomischen Riesenmaschine« hinausläuft, auch wenn ihnen damals der Begriff des Events noch nicht zuhanden war. Damals hieß Event noch Show, und »Show heißt allen zeigen, was man hat und kann. Sie ist auch heute noch Jahrmarkt, nur unheilbar erkrankt an Kultur.« Darin muss man Horkheimer und Adorno uneingeschränkt Recht geben: Auf eine Art ist die gesamte Wirtschaft heute unheilbar erkrankt an Kultur.

IV. Corporate Code

Jede soziale Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie über kurz oder lang eine eigene Sprache mit eigenem Vokabular herausbildet, in der gemeinsam geteilte Grundeinstellungen deutlich werden. Zugehörigkeit und Ausschluss regeln sich nicht zuletzt über das Beherrschen eines verbindlichen Vokabulars, ohne das braucht man gar nicht erst anzukommen.

Das ist bei sämtlichen Jugendkulturen so, das ist aber auch – weniger offensichtlich – bei den unterschiedlichen Angestelltentypen so. In sprachlichen Nuancen, oft nur in Bedeutungsaufladungen und –verschiebungen, die einzelne Begriffe erfahren, offenbart sich die Betriebsbrille, die berufliche Deformation. Im Film »The Appartement« von 1960 parodiert der Regisseur und Drehbuchautor Billy Wilder die unpersönliche und technokratische Sprache des Angestelltenheeres, indem er seine Protagonisten sämtliche Aussagen mittels verdruckster Konstruktionen um den Zusatz »wise« relativieren lässt. Der überangepasste C.C. Bexter, gespielt von Jack Lemmon, treibt diese Marotte an einer Stelle mit dem Satz auf die Spitze: »That’s the way it crumbles … cookie-wise.« Auch über Frauen, in diesem Fall die begehrte Liftdame Fran Kubelik, gespielt von Shirley MacLaine, wird von den Männerseilschaften in diesem verdinglichenden Stil schwadroniert. (»So you hit the jackpot, eh kid? I mean kubelikwise.«)

Unabhängig davon, ob dieser Sprachtick je real im New Yorker Dienstleistungssektor der fünfziger Jahre verbreitet war oder nicht, fängt Wilder damit jene auf Distanz angelegte Mentalität des Angestelltentypus ein, die auf den Fordismus reagiert und sich in Sprache ausdrückt. Als Bexter sich am Ende des Films aus den Zwängen des Großraumbüroregimes befreit, normalisiert sich auch seine Sprache wieder.

Auch in der heutigen Agentursprache kommt eine eigene Mentalität, wenn man so will: Ideologie, zum Vorschein. Es ist nicht mehr die angepasste Angestelltensprache der Fünfziger. Es ist aber auch nicht mehr ganz die euphorisch-optimistische Sprache der New Economy, die vor englischen Buzzwords nur so troff und ketzerisch veranlagte Mitarbeiter zur Entwicklung des Meeting-Spiels »Bullshit-Bingo« bewegte. Das Spiel sah vor, dass jeder Spieler auf einem Zettel die in der Firma gebräuchlichsten Worthülsen von »Synergiepotenzial« über »Kundenorientierung« bis »Benchmarking« notierte und abhakte, wenn sie in Vortrag oder Diskussion auftauchten. Wer als erster alle seine Begriffe abgehakt hatte, hätte aufspringen und »Bullshit!« rufen dürfen, wenn das Spiel nicht nur als trostspendendes Gedankenexperiment praktiziert worden wäre.

Die Nebelkerzenschwaden der New Economy haben sich verzogen. Dass das Allermeiste, was in solchen Meetings geredet, in Broschüren und Businessplänen geschrieben wurde, tatsächlich Bullshit war, wurde bald deutlich. Das Gros dieser Vokabeln ist dadurch desavouiert, und wer sie heute noch benutzt, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. Einige wenige haben überlebt.

Zu den zentralen Überbleibseln gehört die »Pipeline«: Fest verankert in den Köpfen scheint sie unsichtbar in jedes Büro hineinzuragen. Die Pipeline ist zur Universalmetapher für sämtliche Arbeitsabläufe geworden. Wer den Satz »Wir haben da momentan einiges in der Pipeline« sauber über die Lippen bringt, weist sich als vielbeschäftigten und nach menschlichen Maßstäben eigentlich überforderten New-Economy-Überlebenden aus. Potenziellen Kunden und Auftraggebern signalisiert er damit einerseits, dass seine Dienste oder die seiner Firma sehr gefragt sind, andererseits, dass er noch nicht den Überblick verloren hat.

Das Bild der Pipeline nährt die romantische Fiktion, alle Jobs würden hübsch der Reihe nach in die Firma einsickern und in eben dieser Reihenfolge stoisch abgearbeitet. Man kann sich das auch sehr schön als anachronistisches Computerspiel vorstellen: Durch eine animierte Pipeline purzeln in unregelmäßigen Abständen unhandliche Gegenstände ins Bild, die von einer mittels Joystick zu steuernden emsigen Spielfigur nach bestimmten Regeln weiterprozessiert werden müssen. Im Phantasma der Pipeline drückt sich vielleicht die Sehnsucht postindustrieller Arbeiter nach industriellen Verhältnissen aus, wo das Arbeitspensum noch durch ein Nadelöhr gefiltert wurde und in linearer Abfolge auf dem Fließband vorbeizog – der Wunsch nach Stapelverarbeitung, wo man doch an sich alles gleichzeitig erledigen müsste.

Zur Pipeline passt die »Kalenderwoche«, im Gespräch zumeist als KW abgekürzt und mit einer Ordnungsnummer versehen. Dem intuitiven Zeitrahmen des Gregorianischen Kalenders, in dem die Monate sich in einzelne Tage untergliedern, wird so ein künstliches Zeitmaß übergestülpt, das durch das gleichförmige Abschnurren des Arbeitsjahres in einzelnen Arbeitswochen geprägt ist. Wer auf die Frage »Wie sieht es bei ihnen terminlich in Kawe 14 aus?« spontan reagieren kann, hat diese mentale Umstellung vollzogen und darf sich getrost als Insider fühlen.

Pikanter wird es, wenn nicht über Zeit, sondern über Geld und Honorare geredet wird. Beziehungsweise: Über Geld wird eigentlich nie wirklich geredet, allenfalls belässt man es bei vagen Andeutungen. Diese Andeutungen hören auf den Begriff »Hausnummer«, warum, liegt völlig im Verborgenen. Wohl weil schon das Wort »Preis« einen zu forschen und schneidenden Klang hat und man ja eigentlich nicht über Geld redet. Genau das ist natürlich gemeint mit dem Satz: »Sagen Sie mal eine Hausnummer!« Die Hausnummer bietet die Möglichkeit, über Geld zu reden, ohne dabei über Geld zu reden. Sie ist nur ein weiteres Element eines Codes, den Eingeweihte verstehen und benutzen; indem sie dieselbe Quatsch-Sprache sprechen, versichern sie sich ihrer Gesinnungsgleichheit. Diese Sprache sprechen signalisiert im Wesentlichen dies: mitmachen und einverstanden sein.

V. Aufmerksamkeitsökonomie

Ein Citylight-Plakat an der Bushaltestelle wirbt für einen Lokalradiosender, der sein Geld damit verdient, dass er mit den Superhits der Sechziger, Siebziger und Achtziger ein angemessenes Umfeld für die Werbung einer amerikanischen Fast-Food-Kette schafft, die wiederum im Menupreis enthalten Merchandising-Artikel für einen neuen Hollywood-Animationsfilm ausgibt, in dem mittels Produktplacement subtil eine neue Marke für Teenagerbekleidung bekannt gemacht wird.

Die Reihe lässt sich beliebig weiterspinnen. Neben dem primären Markt für Produkte und Dienstleistungen ist ein sekundärer Markt für Aufmerksamkeit entstanden, den es in Ansätzen vielleicht schon immer gab, der aber nun beginnt, den ersten zu überformen, da Produkte und Marken selbst zu Medien werden. Der Markt für Aufmerksamkeit funktioniert nicht mehr einstufig, wie etwa bei einem simplen Zeitungsinserat, das für ein Produkt wirbt. Vielmehr diffundiert die gelenkte und bezahle Aufmerksamkeit über zahllose Stationen, schweifend und ohne jemals anzukommen.

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit ist heute ein endlos zirkuläres System von Verweisen, wie es sich poststrukturalistische Philosophen nicht schöner erträumen könnten. Man könnte auch sagen, das ganze funktioniert als großer dezentraler Verschiebebahnhof, in dem die Aufmerksamkeit des geneigten Publikums gestückelt, portioniert, gebündelt und in neue Bahnen gelenkt wird. Prominente in Testimonials für Produkte sind Teil davon, Pageimpressions im Web sind Teil davon, ebenso das Sponsoring von Kunstausstellungen. Versucht man nachzuvollziehen, wer jetzt genau wovon profitiert, wer für welche vorbeiziehenden Aufmerksamkeitsartikel was bezahlt, und wie die gesamte Aufmerksamkeitskaskade am Ende abgerechnet wird, kann einem leicht schwindelig werden.

Entsprechend schwer tut sich der Kulturtheoretiker Georg Frank in seinem Essay »Ökonomie der Aufmerksamkeit« von 1998, die Aufmerksamkeit als tatsächliche Währung zu fassen zu bekommen. Zwar stehe »ein Wechsel der lebenspraktischen Leitwährung« an, schreibt Frank, bezweifelt dann aber, dass Aufmerksamkeit sich horten lasse, was abseits aller Metaphorik die streng ökonomische Anforderung sei, damit ein beliebiges Tauschgut zur Währung werden kann.

Mit Blick auf die Prominenz, die irgendwann nur noch wegen ihrer Prominenz prominent ist, und so in gewisser Weise Aufmerksamkeit hortet, muss Frank dann aber konzedieren: »Irgendwie funktioniert es mit der Akkumulation also doch.« Um zu schlussfolgern: »So unwahrscheinlich es denn auf den ersten Blick erscheint, dass die Aufmerksamkeit Währungsfunktion annehmen könnte, so erstaunlich ist die bereits erfolgte Annäherung.«

Eine schöne Idee, wie nicht nur die Hortung, sondern auch die Zins- und Zinseszinseffekte von Aufmerksamkeit vonstatten gehen, liefert Don DeLillo im Roman »Weißes Rauschen« mit der Schilderung einer Touristenattraktion, die als »meistfotografierte Scheune Amerikas« bekannt ist: »Wir fuhren 22 Meilen ins Land um Farmington hinein. Dort gab es Wiesen und Apfelplantagen. Weiße Zäune zogen sich durch die wogenden Felder. Bald tauchten die Schilder auf. DIE MEISTFOTOGRAFIERTE SCHEUNE AMERIKAS. Wir zählten fünf Schilder, bevor wir die Stelle erreichten. Vierzig Autos und ein Bus standen auf dem Behelfsparkplatz. Wir gingen einen Trampelpfad entlang bis zu dem leicht erhöhten Punkt, der zum Anschauen und Fotografieren ausersehen war. Alle Leute hatten Fotoapparate dabei; einige sogar Stative, Teleobjektive, verschiedene Filter. Ein Mann in einem Kiosk verkaufte Postkarten und Dias – Bilder der Scheune, die von dem erhöhten Punkt aus aufgenommen worden waren. Wir standen in der Nähe eines kleinen Baumbestandes und beobachteten die Fotografen. Murray verfiel in anhaltendes Schweigen, wobei er gelegentlich Notizen in ein Büchlein kritzelte. ›Keiner sieht die Scheune‹, sagte er endlich.«