König der Loser

Heinz Strunk hat auf seiner neuen CD den Nerd aus seiner Einzelhaft befreit und zur Kunstfigur erhoben. von nadja geer

Wie hat man sich ihn vorzustellen, den Jürgen Dose? Sicher nicht als hundertprozentig glücklichen Menschen. Eher als einen circa 30jährigen Halbwüchsigen, der, freundlich und ein bisschen struppig, in einem Zwergenhaus in Harburg lebt – zusammen mit seiner bettlägerigen Mutter. Der hin und wieder gern mit Schwester Renate darüber plauscht, was man anstellen muss, um nach dem eigenen Ableben 15 Jahre unentdeckt in seiner Wohnung liegen zu bleiben – und Pläne in diese Richtung schmiedet, um ins Guiness-Buch der Rekorde zu kommen. Der sich jeden Morgen auf den Weg zur Zeitarbeit macht und fast jeden Abend um 18 Uhr nach Hause trabt und sich aufs Essen freut. Mit anderen, Jürgens eigenen Worten: Das Leben ist schwer, aber man muss lernen, es zu meistern.

Jürgens Schöpfer Mathias Halfpape aka Heinz Strunk führte eigenen Angaben zufolge ein ähnlich isoliertes Dasein wie sein alter ego. Doch Halfpape hat den Kontakt zur Außenwelt nie ganz verloren, und irgendwann muss er dann beschlossen haben, nicht nur Signale zu empfangen, sondern auch welche auszusenden: Als Gründungsmitglied des Hamburger Komikkombinats Studio Braun, als Jürgen Dose mit der »Jürgen-Dose-Show« auf Radio Fritz, dann als Fleischmann in der Viva-Show »Fleischmann TV«, schließlich als Tanzkapellen-Mucker »Heinzer« in seinem Bestseller »Fleisch ist mein Gemüse«.

Die Signale wurden gehört und verstanden: Halfpape ist durch seine Umverteilung des symbolischen Kapitals zum Robin Hood der Loser geworden. Er hat den Nerd zur Kunstfigur erhoben, so wie Jean Genet den Kriminellen und Franz Kafka den Bürokraten – und damit einen Typus aus seinem Schattendasein befreit, der nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland seit Jahrzehnten in seiner Isohaft vor sich hin dämmert. In »Fleisch ist mein Gemüse« hat Mathias Halfpape die Heinzer dieser Welt (und damit auch sich selbst) zu Medienstars gemacht. Aus »Heinz« und »Jürgen«, aus »Horst« und »Bernd« – Sozialtypen, die sich im wirklichen Leben eher schwer tun – sind durch Halfpapes Stilisierung artifizielle role models geworden, deren subversives Potenzial nicht zu unterschätzen ist.

In einer pseudoglamourösen Leistungsgesellschaft ist der renitente Schrat, der sich zu seiner Schüchternheit dem andern Geschlecht gegenüber ebenso bekennt wie zu seiner Todessehnsucht und seiner Liebe zu Gartenzwergen, ein Dissident. Aus den panicrooms der komischen Käuze hat Strunk Galerien gemacht. Und ist darüber selbst zum Popstar geworden.

So weit, so gut. Dennoch lassen sich Halfpapes künstlerische Ergüsse nicht ausschließlich auf den Nenner Pop bringen. Auf seiner neuen CD, »Heinz Strunk: Trittschall im Kriechkeller: Aus dem Leben des Jürgen Dose« manifestiert sich die Tendenz, die schon in »Fleisch ist mein Gemüse« angelegt war. Erkennt man all diese »kranken« Typen – Jürgen, der Gartenzwerge Spalier stehen lässt, nur damit er in liebe Gesichter blicken kann, oder sein alleinstehender Freund Bernd »lieber-Nürburgring-als-Ehering« Würmer – erkennt man also diese kranken Desperados als Phänotypen unserer Zeit, dann kommt man sehr schnell zu den Schlagworten »Kapitalismus und Depression«.

Wenn man allerdings, wie vom Meister gewünscht, Mathias Halfpape alias Heinz Strunk, alias Jürgen Dose, alias Horst, Bernd und Jürgen als eine Klasse für sich betrachtet, dann ist man verdammt nahe dran an der von Gilles Deleuze und Félix Guattari erarbeiteten Schizo-Analyse: der Prozess der Schizophrenie als letzte Subversionsstrategie gegen den alles vereinnahmenden Kapitalismus. »Die Schizophrenie ist zugleich Mauer, Durchbruch der Mauer und Scheitern des Durchbruchs« (Deleuze/Guattari.) Besser lässt sich das Phänomen Heinz Strunk kaum in Worte fassen.

Zwischen Opfer und Täter changiert der König der Loser hin und her und schafft damit bei sensiblen Zeitgenossen zumindest eines: Irritation. Das dürfte sich mit dem neuesten Produkt aus seinem Hause auch nicht ändern. Hier erzählt Jürgen Dose aus seinem Leben. Das aus »Fleisch ist mein Gemüse« bereits bekannte Ensemble kommt wieder voll zum Einsatz: Pflegefall Mutter (»Den ganzen Tag im Bett liegen und saufen«), Schwester Renate, der Doktor (»Wo juckt der Hobel?«) und der immer wieder für einen Lacher gute Onaniephilosoph »Abmelker«. Der sagt: »Du kannst melken und melken und melken – du legst den Sumpf doch nicht trocken.«

Als neue Mitspieler tauchen auf: Jürgen Bartsch (»Das müssen sie sich mal vorstellen: Jürgen Bartsch lässt von seinem Opfer ab, weil er Angst hatte, von seiner Mutter Ausmecker zu bekommen – nach dem Mittagessen hätte er ihn sicher gleich umgebracht«) und – schon im Roman angelegt, aber erst im Hörbuch voll entfaltet: das sensible, zurückgezogene Kind, der kleine Jürgen.

Im Kriechkeller (des Fachwerkhauses seiner Oma), einer Variation des Kafkaschen »Baus«, hört der vielleicht zehnjährige Jürgen den Trittschall über den Boden huschender Ohrenkneifer. (»Was natürlich vernuftsmäßig ausgeschlossen war – aber ich hörte ihn trotzdem.«) Damit steht das Bild einer radikalen – und in ihrer Radikalität herzerweichenden – Selbstbehauptung. Den Trittschall eines sehr leichten Insekts zu hören, ist die Apotheose der Schratigkeit, das Glaubensbekenntnis des Exzentrikers, Dummköpfe würden sagen: das Paradebeispiel des Psychos. Für Jürgen Dose ist es das »unauflösbare Paradoxon«, das ihn bis heute verfolgt. Doch aus Sicht des Lesers bzw. Hörers ist das letzte Kapitel auf »Trittschall« das wahre Paradox: die ultimative Selbsterhöhung durch die Auslöschung. Jürgen bekennt: »Jeden Abend vor dem Einschlafen träume ich davon, erschossen zu werden in Polen – diesem dunklen schweren Land im Herzen Europas. Die Phantasien sind unendlich süß und schwer.« Wäre es nicht so komisch, wäre es tragisch: Erschießungsphantasien als Baldrian.

Heinz Strunk: Trittschall im Kriechkeller: Aus dem Leben des Jürgen Dose. Trikont