Auf den Knien vor dem Comic

»Sin City« ist ein schlechter Spielfilm, aber die großartigste und respektvollste Comicadaption aller Zeiten. von kay sokolowsky

Es kann ja nicht gutgehen, solche Worte verfilmen zu wollen: »Sin City schrumpft im Rückspiegel, launisch und verdrossen wie eine müde Nutte, die auf das Morgengrauen und die Einsamkeit wartet.« Und das Genie Frank Miller, der Schöpfer dieser Worte, hätte besser auf sich selbst hören sollen: »Die Vorstellungskraft wird von einem unfertigen Bild sehr stark angeregt. Das gleiche geschieht, wenn die Augen sich von einem Comic-Panel zum nächsten bewegen. Da ist ein weißer Graben zwischen den beiden Panels, in dem dein Gehirn hundert eigene Bilder entdeckt. Das ist mein Job – nicht da zu sein, wenn’s drauf ankommt.«

Damit hier keine Zweifel aufkommen: »Sin City« von Robert Rodriguez ist zwar ein Desaster, aber die beste, weil durchdachteste, liebe- und respektvollste Verfilmung eines Comics, die im Kino jemals zu sehen war. Es verschlägt einem den Atem, wie statische Comicbilder hier derart brillant in Bewegung gesetzt werden, dass man aus Standfotos des Films gleich wieder einen Comic zusammenkleben könnte. Man darf Bilder bestaunen, die außerhalb eines Comics zuvor nicht mal gedacht wurden. Das Original gibt Schwarzweißkontraste vor wie auf einem Holzschnitt von Frans Masereel. Der Film macht es nach. Die Helden des Comics sind in Gesicht und Körper stilisiert wie Karikaturen. Der Film verlangt das gleiche von seinen Schauspielern. Die sind zwar große Hollywood-Stars, aber sie müssen sich, teilweise bis zur Unkenntlichkeit, in diese seltsamen Helden verwandeln, nicht etwa umgekehrt.

Und sie tun das gern. Mickey Rourke, hinter seiner Maske kaum zu erkennen, ist als Marv, der berserkergleich den Mord an seiner Geliebten Goldie rächt, so eindrucksvoll wie noch nie. Bruce Willis, verunstaltet von einer riesigen kreuzförmigen Narbe auf der Stirn, spielt den alten Kriminaler Hartigan, der lieber durch die Hölle geht, als das kleine Mädchen Nancy an dessen Häscher zu verraten, und er spielt ihn so kreuzritterlich, dass man ihm auf der Stelle einen Bockmist wie »Unbreakable« vergibt. Elijah Wood, der offenbar nicht länger für einen netten Hobbit gehalten werden möchte, verkörpert einen Serienmörder, vor dem sogar Sauron Respekt hätte. Und Benicio del Toro genießt es sichtlich, als schmieriger sadistischer Bulle Jackie wie ein Witz auf seine eigenen Kosten auszusehen.

Die Filmbilder ähneln denen des Comics wie Fotokopien. »Sin City« wagt es – bei einem 45-Millionen-Dollar-Budget –, dem Publikum durchgehend schwarzweiße Szenen zuzumuten, denn so sind ja auch die Panels der Comicserie gezeichnet. Es gibt nur ab und zu ein paar Farbkleckse zu sehen – hier ein lüsternes Lippenrot, da ein ekliges Eitergelb –, aber bloß dann, wenn die Comicbilder sie vorgeben. Sogar die Filmdialoge fügen denen des Originals außer Kürzungen keine Schäden zu. Doch gerade weil die beiden Regisseure so skrupulös darauf bedacht waren, die Vorlage nicht zu verletzen, beweisen sie am Ende nur um so deutlicher: Film und Comics sind zwei Paar Schuhe, die nicht an dieselben Füße passen.

Adaptionen, das heißt: Übersetzungen eines Kunstwerks in die Formensprache einer anderen Kunst, sind Ausgeburten des industrialisierten Kulturbetriebs und darum etwas so Heikles, dass man besser die Finger davon lässt. Es geht in der Regel lächerlich aus. Ob nun John Neumeier die »Matthäus-Passion« als Ballett tanzen lässt oder ob Superheldencomics zu Popcorn-Movies verwurstet werden – es gibt dafür keine Notwendigkeit, und sensiblere Zuschauer möchten solchen Vorfällen lieber nicht beiwohnen. Aber weil das, was man besser lässt, eine ungeheure Verlockung ausstrahlt, gibt es immer wieder Adaptionen, und die meisten davon hat das Kino zu verantworten. Denn was auch immer ein Erfolg in anderen Ressorts der populären Kultur war, könnte auf der Leinwand ja wieder einer werden, und darum mussten wir ein Elend wie »Evita« und einen Murks wie »Die Fantastischen Vier« ertragen.

In den letzten Jahren sind – dank der atemberaubenden Möglichkeiten der Computeranimation – Comicadaptionen in Hollywood höchst beliebt geworden. Georg Seeßlen hat in der Jungle World 29/05 viel Richtiges und Kluges darüber notiert, wie nah verwandt Film und Comic einander sind und warum die akute Weltsituation eine Verschmelzung beider Bildsprachen heute so verlockend macht. Er hat allerdings vergessen zu schreiben, dass weiterhin kein Mensch einen verfilmten Comic bzw. die Comicadaption eines Spielfilms braucht, so wenig wie irgendjemand, der noch bei Groschen ist, nach einer getanzten Fassung des »Ulysses« oder nach einem Gedicht auf Melodien von Mussorgski lechzt.

Denn das Kunstwerk ist, wenn es denn eines ist, nur in den Grenzen seiner Kunst eines. Wird es in die Gebiete eines anderen verpflanzt, verwandelt es sich augenblicklich in Kunsthandwerk oder gleich in Schrott. Die immense Bewunderung, die Millers »Sin City«-Comicnovellen ernteten, galt der genialen Souveränität, mit denen sie die Möglichkeiten des Comicstrips ausschöpften, und nicht ihrer Eignung als Skizzenbücher für Spielfilme.

Allerdings ließ Frank Miller sich sehr lange bitten, ehe er die Filmrechte veräußerte. Seine Erfahrungen mit Hollywood sind nämlich nicht die besten: Tim Burtons »Batman«-Filme plünderten sein Meisterwerk »The Dark Knight Returns« ungeniert, ohne Miller auch bloß im Abspann zu erwähnen. Sein Drehbuch für »Robocop 2« wurde bis zur Unkenntlichkeit verpfuscht. Die Filme »Daredevil« und »Elektra« haben aus Miller-Comics geklaut, dass es raucht, aber nicht den Mumm, diesen Comics auch die rabendunkle Seele zu rauben. Frank Miller konnte dagegen wenig unternehmen: Daredevil und Elektra sind Figuren, die dem Marvel-Verlag gehören, nicht ihm. Die »Sin City«-Geschichten hingegen sind ganz und gar sein Eigentum; er allein bestimmt, ob und wie ein anderer sich an ihnen vergreifen darf.

Miller nennt die »Sin City«-Geschichten sein Baby, ein Baby, das er niemals ausliefern wollte, um dann hilflos zusehen zu müssen, wie es »unter der Brücke davontreibt«. Und niemand hätte ihn breit schlagen können, dieses Baby dann doch in fremde Hände zu geben. Niemand außer Robert Rodriguez. Der hat Gattungen wie den Western, den Horror- und den Spionagefilm so gründlich in die Mangel genommen und mit grotesken Stilbrüchen durchsetzt, dass man nie recht weiß, ob er nun gar keinen Geschmack hat oder einen hundsmiserablen oder eben nur seinen eigenen, sehr eigenen Geschmack. Miller seinerseits hat Genres wie den Superheldencomic oder den Krimi so unbarmherzig auseinandergenommen und dann nach seinem düsteren Bauplan so souverän wieder zusammengesetzt, dass man sicher sein kann, nie wieder einen Batman zu erleben, der nicht dringend in eine geschlossene Therapie gehört.

Miller begann vor 14 Jahren mit der Veröffentlichung der »Sin City«-Serie, einer ekstatischen Apotheose aller Filme der Schwarzen Serie Hollywoods. »Sin City« ist nihilistischer, zynischer, blutrünstiger, romantischer und vielleicht sogar moralischer als selbst die größten Meisterwerke der alten Serie es gewesen sind, liegt aber vor ihnen auf den Knien. Natürlich fühlte einer wie Rodriguez sich von der höchst ambivalenten Hommage an Filme wie »The Killers« oder »This Gun For Hire« angezogen. Waren doch die drei Episoden seiner »Mariachi«-Trilogie eine einzige Huldigung an die Italowestern von Sergio Leone, nur noch viel brutaler, phantastischer, desillusionierter und grotesker als diese.

Robert Rodriguez ist ein Regisseur, der sich nicht viel darum schert, ob man seine Filme für Trash hält, er mag Geschmacklosigkeiten einfach viel zu gern, um beleidigt zu sein, wenn Kritiker seine Stücke als Trash in die Tonne hauen. Er weiß ja, dass er sein Handwerk besser beherrscht als die meisten Kollegen, und so lange die Studios ihm das Geld geben, Bilder auf die Leinwand zu bringen, die sich außer ihm keiner traut, gibt er einen Scheiß aufs Feuilleton. Rodriguez hat – wie sein Freund und Kollege Quentin Tarantino – einen Narren gefressen an Heldenfiguren, die zu groß sind für das gewöhnliche Leben hienieden, die mit einer gemeinschaftsverträglichen Ethik gar nichts am Hut haben, doch einen Ehrenkodex befolgen, der strenger ist als jedes geschriebene Gesetz. Und genau solche Figuren bevölkern den Kosmos von Millers »Sin City«.

Frank Miller hat mit seinen Comics den zugleich amoralischen und hypermoralischen Filmwelten von Rodriguez und Tarantino schon seit den Achtzigern Sound und Architektur vorgegeben. Natürlich kennen diese beiden »The Dark Knight Returns«, den großartigsten und einflussreichsten Comic, der je geschaffen worden ist, in dem Batman, eine der größten Ikonen der Popkultur, als Charakter erscheint, der mit seinen Erzfeinden weit mehr gemein hat als mit einem netten Burschen wie Superman. Natürlich sind sie Fans des blinden Superhelden »Daredevil«, den Miller durch eine Hölle von Selbstzweifeln geschickt hat, um zu zeigen, dass dergleichen wirklich nur ein Superheld überstehen kann. Natürlich schwärmen sie für Millers Schöpfung Elektra, eine skrupellose Ninja-Killerin, die sterben muss, als sie Gefühle entwickelt: Tarantinos »Kill Bill« ist eine einzige Verbeugung vor dieser berühmtesten Figur Frank Millers. Und natürlich sind Rodriguez und Tarantino restlos hingerissen von Millers Texten, die aus den hartgesottenen Kriminalromanen von Dashiell Hammett, Mickey Spillane und James Ellroy mit ihren messerscharfen Dialogen und drastischen Metaphern nur das Beste mitgenommen haben. »Du musst dich für deine Freunde grademachen. Manchmal bedeutet das zu sterben. Manchmal bedeutet das, einen Haufen Leute umzulegen«, heißt es in »The Big Fat Kill«, und das ist ein Motto, das man sofort über alle Filme von Tarantino und Rodriguez stellen kann.

Wahrscheinlich haben sie, die Jüngeren, so lange kaum über ihre Verehrung für Miller geredet, weil Publikum und Kritiker derlei Äußerungen von Anfängern sehr gern missverstehen und den aufstrebenden Künstlern sogleich Epigonentum unterstellen. Doch eines Tages, wenn die eigene Karriere wie auf Schienen läuft, muss man seine Schulden bezahlen. Rodriguez hat dies mit der Filmadaption der »Sin City«-Comics getan. Und indem er Tarantino einlud, für eine Sequenz als Gastregisseur tätig zu werden, hat er dem Kollegen die Möglichkeit eröffnet, dasselbe zu tun.

Es scheint bei den Dreharbeiten sehr entspannt zugegangen zu sein. »Sin City – The Making Of The Movie«, ein prächtiger Bild- und Textband im kinoadäquaten Querformat, eines der bestgemachten Filmbücher des Jahres, dokumentiert auf 270 Seiten die Begeisterung Millers über die Detailliebe seines Chefregisseurs und die Spielfreude der Darsteller. Rodriguez wiederum wird nicht müde, von Millers Kreationen zu schwärmen. Und die Schauspieler können sich gar nicht genug darüber wundern, wie Rodriguez und Miller es geschafft haben, sie zu ernsthaften Leistungen anzuspornen, obwohl buchstäblich jede Szene fast ohne Kulissen gedreht wurde, vor einer grünen Wand, die erst viel später von den Computerzauberern der Firma Troublemaker Digital mit Leben erfüllt worden ist.

Zu der Harmonie am Set dürfte nicht zuletzt die bedingungslose Loyalität Rodriguez’ zu Miller beigetragen haben. Die Director’s Guild of America (DGA) wollte nicht gestatten, dass Frank Miller als zweiter Regisseur in den Credits genannt wird, da er kein Mitglied der Innung ist. Rodriguez trat deshalb aus der DGA aus. Was immerhin bedeutet, dass er in keinem Studio auf US-amerikanischem Boden mehr als Regisseur arbeiten darf.

»Sin City« demonstriert einen Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Nicht oft jedoch ist ein Misslingen so sehenswert gewesen. Wer also wissen will, warum die beste Comicverfilmung aller Zeiten kein guter Spielfilm, aber ein umwerfendes Spektakel ist, wer außerdem den Magen hat, um einige der übelsten – wiewohl stilisiertesten – Splatterszenen der Filmgeschichte zu ertragen – der lässt sich das nicht entgehen. Aber Sie können die acht Euro Eintritt genauso gut sparen und gleich in einen »Sin City«-Comic investieren. Denn damit machen Sie bestimmt nichts falsch.

Deutsche Ausgaben der »Sin City«-Comics, die für den Film adaptiert wurden: »Sin City 1: Stadt ohne Gnade« (»The Hard Goodbye«),

»Sin City 3: Das große Sterben« (»The Big Fat Kill«), beide bei Cross Cult, beide für 19,80 Euro.

»Sin City 4: Dieser feige Bastard« (»That Yellow Bastard«) soll im November 2005 ebenfalls bei Cross Cult erscheinen.