Der Fall Konstantinopels

Istanbul gilt als kosmopolitische Stadt zwischen Ost und West. Doch wie kosmopolitisch ist die Stadt wirklich? von rifat n. bali

Meine ältesten Erinnerungen an die Stadt sind mit den Namen »Estanbol« und »Stamboul« verbunden. Meine Eltern, die untereinander Ladino, also Judäo-Spanisch, sprachen, sagten stets »Estanbol«, wenn sie von den wirtschaftlichen Zentren Karaköy und Eminönü oder gar vom historischen Stadtkern rund um Sultanahmet, Beyazit und Fatih redeten. »Stamboul« sagte meine frankophone Tante, die Türkisch mit einem deutlichen ausländischen Akzent sprach.

Für die christlichen und jüdischen Minderheiten, die in Taksim und Beyoglu (in Pera, wie der frankophone Name lautete) oder in Pangaltı und Osmanbey lebten, begannen »Estanbol« oder »Stamboul« noch diesseits der Galata-Brücke, die über das Goldene Horn von Karaköy nach Eminönü führte und beide Hälften der Stadt miteinander verband. Nichtmuslime, die zum Arbeiten nach Stamboul gingen, begegneten nur während der Dienstzeiten muslimischen Stamboulern, ebenso wie diese nur dann mit Nichtmuslimen zusammenkamen, wenn sie in deren Vierteln beschäftigt waren.

Für die Minderheiten, die die französischsprachigen Zeitungen Le Journal d’Orient und Stamboul lasen, in den Salons der Union Française Aufführungen ausländischer Schauspiel- und Tanztruppen besuchten und Vorträgen und Konferenzen zuhörten, die auf Französisch abgehalten wurden, war Pera das zivilisierte Gesicht der Stadt. Dort konnte man entlang der Schaufenster flanieren, die Zeit in Cafés und Konditoreien verbringen oder ins Kino oder Theater gehen. Stamboul mit seinen dunklen Gassen und alten Holzhäusern war hingegen die befremdliche Welt der Muslime. Die Minderheiten, die auf die Muslime herabschauten, und die Muslime, die darauf missgünstig, neidisch und manchmal auch zornig reagierten, glichen Menschen, die in verschiedenen Städten lebten und einander völlig fremd waren.

Das Pogrom vom 6. und 7. September 1955, das sich in der vorigen Woche zum 50. Mal jährte, sollte dieses Nebeneinander der Lebensarten ein für allemal beenden. Innerhalb von zwei Tagen tobte ein entfesselter Mob durch die griechischen Viertel. Friedhöfe wurden geschändet, Geschäfte, Kirchen und Schulen wurden geplündert, niedergebrannt und zerstört. Diese Ereignisse hatten verschiedene Ursachen: Der Zypern-Konflikt war soeben ausgebrochen, zudem schwelte eine ökonomische Krise, während die Vermögens- und Einkommensunterschiede zwischen beiden Gruppen fortbestanden, schließlich flammte eine nationalistische Stimmung auf. Die Istanbuler Griechen wurden zu unerwünschten Personen erklärt. Ihre Vorfahren hatten Byzanz gegründet, Konstantinopel zum Erblühen gebracht und in Istanbul gelebt; nach den Ereignissen vom September 1955 kehrten sie der Stadt endgültig den Rücken und verschwanden in Richtung Griechenland oder Amerika.

Erlosch dadurch der kosmopolitische Geist der Stadt? Oder war Istanbul niemals die kosmopolitische Stadt, als die es heute in glänzenden Werbeprospekten angepriesen wird? Ist es immer noch ein »Mosaik aus verschiedenen Kulturen und Religionen«, wo »sich die Welten berühren«?

Sollten Sie Istanbul besuchen, werden Sie vielerorts eine zweifelsohne kosmopolitisch scheinende Stadt vorfinden. Vor allem in Beyoglu und Taksim oder am Bosporus, wo Sie an jeder Ecke ein Konzert oder irgendeine andere Veranstaltung sowie mondäne Cafés und Clubs erwarten. Oder in schicken Vierteln wie Nisantası oder Ulus, wo Sie die neuesten Erzeugnisse weltberühmter Modefirmen kaufen können.

Aber kurz hinter Nisantası beispielsweise kommen Sie nach Osmanbey, wo man sich auf das Geschäft mit Händlern aus Osteuropa und dem Nahen Osten konzentriert hat. Wenn am Freitagmittag der Imam der kürzlich fertig gestellten Moschee von Osmanbey zum Gebet ruft, schließen die Händler ihre Läden und strömen in Scharen zusammen. An den Fassaden der kapellenartigen Moscheen (mescit), die neben unzähligen Läden und billigen Hotels zu finden sind und die zwischen den anderen Häusern dieses vormals nichtmuslimischen Viertels errichtet wurden, sind Lautsprecher befestigt, aus denen der Gebetsruf an die Gläubigen erklingt, die es nicht bis in die überfüllte Moschee geschafft und sich mit ihrem Gebetsteppich in den Seitengassen niedergelassen haben.

In Beyoglu hingegen, wo Sie CDs mit armenischer, judäo-spanischer, griechischer und kurdischer Musik kaufen können, Literatur über die Minderheiten finden, in Restaurants deren Küche kosten können und zudem sehen, wie junge Leute versuchen, den alten Namen Pera wieder zu beleben, könnten Sie leicht der Illusion erliegen, sich in einem kosmopolitischen Schmelztiegel zu befinden. Doch tatsächlich bietet weder die Agenda der Stadt noch die Agenda des Landes Platz für die gerade einmal 50 000 Armenier, 15 000 Juden und 2 000 Griechen, die inmitten der 15 Millionen Einwohner Istanbuls leben. So müssen in den meisten Synagogen und Kirchen die Andachten ausfallen, weil es an Gemeindemitgliedern mangelt. Die meisten Läden in Pera wurden längst an die »eigentlichen Eigentümer der Stadt«, also Muslime, übergeben.

Abermals ein anderes Istanbul finden Sie in den Industriegebieten. Zum Beispiel in Topkapı, einem Viertel, das nach dem früheren Stadttor benannt ist, durch das die Armee von Sultan Fatih Mehmet 1453 in die Stadt eindrang. Nicht selten kann man hier verwirrte Touristen beobachten, die zum Herrschersitz der Osmanen, dem Topkapı-Palast, wollten, irrtümlicherweise aber hier ausgesetzt wurden, weil sie im Taxi »Topkapı« gesagt haben.

Dahinter schließen sich Viertel wie Yeni Bosna, Sefaköy und Merter an; Kartal, Maltepe oder Tuzla heißen ihre Pendants auf der asiatischen Seite jenseits des Bosporus. Jedes dieser Viertel beherbergt hunderte von Industrieanlagen und in Wohnblocks oder in illegalen gecekondus hunderttausende Menschen. Falls Sie es bis dorthin schaffen, werden Sie zwischen den Werften und der Lederindustrie von Tuzla auf die private Sabancı-Universität stoßen. Gestiftet von der gleichnamigen Industriellenfamilie, ist sie auf der »Fortune 500«- Liste der besten Hochschulen der Welt verzeichnet und bildet die künftigen Manager des Konzerns aus. Inmitten dieser Umgebung erscheint sie mit ihrem äußerst modernen Campus wie eine Fata Morgana in der Wüste.

Um auf unsere Frage zurückzukommen: Als Istanbul noch »Stamboul« genannt wurde, war es ähnlich wie Alexandria oder Beirut ein Ort, an dem sich ein kosmopolitischer Geist mit muslimischen, nahöstlichen, mediterranen, französischen, armenischen, griechischen, jüdischen und türkischen Elementen zu einer spezifischen Mischung vermengte. Mag ein Teil dieser Einflüsse noch gegenwärtig sein, ist Istanbul heute vor allem eine Megapolis, unter deren Einwohnern es gewaltige Einkommens- und Klassenunterschiede gibt und in der für die meisten Taksim und Beyoglu touristische Gegenden darstellen, wohin sie allenfalls mal einen Tagesausflug unternehmen.

Rifat N. Bali ist Historiker und Autor zahlreicher Studien, insbesondere zur Geschichte der türkischen Juden.