Kiew, hin und zurück

In der Ukraine ist auch nach der »Orangenen Revolution« die Korruption allgegenwärtig. Die Verflechtung der ökonomischen mit der politischen Elite kennzeichnet die Gesellschaft. von franziska bruder

Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, ist mit Berlin durch einen direkten Zug verbunden: Täglich um 21.45 Uhr fährt er am Bahnhof Lichtenberg im Ostteil der Stadt los. Die Reise dauert gute 25 Stunden, im Sommer bei großer Hitze eine nicht zu unterschätzende Anstrengung. Man schwitzt, steht im Gang und vertreibt sich die Zeit mit Gesprächen mit den Mitreisenden. Der Zug besteht nur aus sieben oder acht ukrainischen Schlafwagen und führt schon seit längerem keinen Speisewagen mehr mit sich. Für ukrainische Verhältnisse gehört er in die Luxuskategorie und wird daher an den Türen von jeweils zwei für einen Waggon zuständigen Schaffnern streng bewacht. Hier reisen neben deutschen Touristen vor allem Ukrainer, die in Deutschland arbeiten, sowie gemischte Paare. Fast immer sind bei solchen Paaren die Frauen Ukrainerinnen und die Männer Deutsche.

Einer der Männer erzählt von der erniedrigenden Behandlung seiner Frau in der deutschen Botschaft in Kiew. Weil es für die Unverheiratete so schwierig war, ein Visum für Deutschland zu erhalten, zogen sie die Hochzeit kurzerhand um ein Jahr vor. Jetzt sind sie zusammen mit dem Baby unterwegs zur Oma. Bei den Zwischenstopps strömen alte Menschen herbei, die den Reisenden Obst und Gemüse aus ihrem Garten oder auch selbst geknüpfte Schuhe aus Bast anbieten.

Kurz vor Mitternacht erreicht der Zug Kiew. Noch um diese Uhrzeit ist der Bahnhof voller Menschen, die auf ihren Anschluss nach Moskau oder Petersburg, nach Simferopol, Donezk oder Lwiw warten. Vor neun Monaten war der riesige Prachtbau aus den zwanziger Jahren vollständig von der so genannten Orangenen Revolution geprägt: Menschen aus allen Landesteilen übernachteten in der Halle und in den Gängen, Kiewer verteilten heißen Tee und Essen und leiteten die Neuankömmlinge an zusätzliche Schlafstellen weiter.

Davon sieht man heute nichts mehr. Auf der Hauptverkehrsstraße Kiews, dem Chreschtschatyk, finden sich aber noch die kommerziellen Überreste der breiten gesellschaftlichen Bewegung, die von vielen als zivilgesellschaftliche Erweckung der Ukraine begriffen wurde. Vorher dominierte bei einem Großteil der Bevölkerung die resignative Einstellung, dass die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf das herrschende Establishment nur minimal seien. Doch die Zeit von November bis Ende Dezember 2004 schien den Beweis erbracht zu haben, dass die eigenständige Organisation und Aktion weitreichende Veränderungen auslösen können. Auf dem Chreschtschatyk, auf dem damals ein großes Zeltlager errichtet war, werden heute an Straßenständen Schals und T-Shirts mit den schlichten Parolen der »Revolution« verkauft: »Tak – Juschtschenko« (Ja zu Juschtschenko). In den Buchläden stapeln sich Fotobände, die diese Zeit illustrieren, sowie Bilder der Zöpfe tragenden und zur Heiligen stilisierten ehemaligen Premierministerin Julija Tymoschenko mit dem Zusatz: »Schönheit rettet die Welt«.

Präsident Juschtschenko blickt mittlerweile auf neun Monate Regierungszeit zurück. Mit ehrgeizigen Plänen waren er und seine vormalige Regierungschefin angetreten: Die Korruption sollte beseitigt, die soziale Sicherung verstärkt sowie der EU-Beitritt in die Wege geleitet werden. Als Maßnahme gegen die Korruption wurde die Auflösung bestimmter Polizeieinheiten beschlossen, deren eigennütziges und willkürliches Handeln ein chronisches Ärgernis für die Ukrainer war. Korruption durchdringt jedoch weiterhin das gesamte gesellschaftliche Leben. Einige zentrale politische Führungspersonen wurden zwar direkt nach dem Machtwechsel ausgetauscht, die Verwaltung jedoch blieb ebenso wie die Führungen und Behörden in den Landesteilen weitgehend unangetastet.

Vor dem Parlament, der Verchovna Rada, campieren rund 50 Leute aus unterschiedlichen Städten. Sie protestieren gegen die nach wie vor bestehende Korruption in Polizei und Justiz. Ein Mann aus dem Süden des Landes, aus Cherson, berichtet von einem Autounfall, bei dem sein Sohn ums Leben kam. Der Unfallverursacher war ein ranghoher Funktionär. Wohl infolge von Bestechung wurde der Prozess gegen ihn mehrere Jahre verschleppt, bis der Funktionär schließlich zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von nur 17 000 Hryvna, also weniger als 3 000 Euro, verurteilt wurde. Die Eltern des Unfallopfers konnten sich nicht einmal einen Rechtsanwalt leisten.

Eines der größten strukturellen Probleme stellt in der Ukraine die weitgehende Verflechtung der ökonomischen mit der politischen Elite dar. Parteien in der Ukraine unterscheiden sich weniger anhand ihres politischen Programms als vielmehr in ihrem Verhältnis zum jeweiligen Machthaber. Seit der zweiten Amtsperiode des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma im Jahre 1998 begannen so genannte Oligarchen wie Oleksandr Volkov, Viktor Pintschuk und Hryhorij Surkis direkten Einfluss auf die Politik zu nehmen. Sie übernahmen mehrere Parteien und sind im Parlament vertreten. Nebenbei kontrollieren sie große Firmenkonsortien, Fernsehsender und Zeitungen. Auch die derzeit amtierenden Politiker gehörten früher nicht immer zur Opposition, sondern zu Kutschmas Einflussbereich: Juschtschenko hatte bereits als Chef der Nationalbank eine glänzende Karriere gemacht, als er im Dezember 1999 Premierminister wurde. Erst nach seiner Absetzung im Mai 2001 ging er in die Opposition und gründete das Parteienbündnis »Nascha Ukrajina« (Unsere Ukraine).

Julija Tymoschenko, die Anfang September mitsamt der ganzen Regierung von Juschtschenko entlassen wurde, war bis 1997 Vorsitzende des Energiekonzerns EESU und wurde in der Öffentlichkeit auch »Gasprinzessin« genannt. Sie war und ist wohl immer noch Multimillionärin. Auch sie machte bereits unter Kutschma Karriere und wurde im Januar 2000 Juschtschenkos Stellvertreterin mit Zuständigkeit für den Energiebereich. Nach ihrer Entlassung aus der Regierung wurde sie 2001 wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung inhaftiert und saß einige Wochen in Untersuchungshaft. Danach schloss sie sich erneut der Opposition an und gründete die Partei »Bat’kivtschyna« (Vaterland). Nach Absetzung ihrer Regierung am 8. September dieses Jahres erklärte Präsident Juschtschenko, sie habe ihr Amt dazu missbraucht, die acht Millionen Hrywna Schulden aus ihrer Zeit als Chefin von EESU zu tilgen.

Dies war aber sicher nicht der entscheidende Grund ihrer Amtsenthebung. Sie hatte seit ihrem Amtsantritt Kämpfe mit dem Oligarchen Petro Poroschenko ausgetragen. Dieser in der Ukraine »Schokoladenkönig« genannte einflussreiche Geschäftsmann sitzt seit 1989 im Parlament und ist Mitglied von »Nascha Ukrajina«. Er ist der Patenonkel eines Kindes des Präsidenten und gilt als Sponsor der »Revolution«. Nach dem Sieg Juschtschenkos gab es lange Debatten, ob der Schokoladenkönig oder die Gasprinzessin Regierungschef werden würde. Die Lady siegte, Poroschenko wurde dafür Sekretär des Sicherheitsrats.

Trotz dieser vorläufigen Integration der konkurrierenden Machtblöcke kam es in den ersten Monaten zu mehreren Krisen. Die Preise für Grundnahrungsmittel, insbesondere für Fleisch, Zucker und Milchprodukte, stiegen fast täglich. Der Zuckerpreis verdoppelte sich durch protektionistische Maßnahmen gegen Billigimporte, was die Bürger hart traf, dem Einkommen Poroschenkos jedoch zugute kam. Die Menschen sind im Sommer auf Zucker für das Einkochen von Obst angewiesen. Dies ist bei einer stark von der Subsistenzwirtschaft abhängigen Gesellschaft nicht zu unterschätzen.

Eine weitere Krise löste die gerichtliche Überprüfung der Privatisierungen großer staatlicher Betriebe aus, ein ständiger Streitpunkt zwischen Poroschenko und Tymoschenko. Das prominenteste Beispiel ist die Rücknahme der Privatisierung eines der größten metallverarbeitenden Betriebe, Kryvorischstal, den der Schwiegersohn Kutschmas, Viktor Pintschuk, 2003 illegal erworben haben soll. Tymoschenko betrieb dieses Verfahren mit großem Einsatz. Ihre Gegner befürchteten wegen ungeklärter Eigentumsverhältnisse eine Destabilisierung der Ökonomie. Pintschuk organisierte im August 2005 Demonstrationen der Arbeiter »seines« Betriebes und verbreitete Bilder davon über seinen eigenen Fernsehsender im ganzen Land. Nach der Absetzung Tymoschenkos im September bleibt abzuwarten, was aus diesen Verfahren wird.

Der neu ernannte Regierungschef, Jurij Jechanurov, lehrte Wirtschaftswissenschaften an der Schewtschenko-Nationaluniversität in Kiew. Anfang der neunziger Jahre war er für die Koordination der Privatisierungen zuständig. Bereits unter Kutschma arbeitete er in Führungspositionen, beispielsweise als Bevollmächtigter für eine Verwaltungsreform. Von 1999 bis 2001 war er unter Juschtschenko dessen erster stellvertretender Premierminister. Insbesondere Wirtschaftskreise begrüßten nunmehr seine Ernennung. In einer Erklärung von führenden Bankern hieß es am 9. September, sie erwarteten eine »verantwortliche Finanz- und Privatisierungspolitik«. Hintergrund ist, dass im September zum ersten Mal seit 1999 das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahrs fiel.

Präsident und Regierung versuchten aber in den ersten Monaten auch, die Sympathie der Bevölkerung zu gewinnen. Angesichts der immensen Altersarmut wurden die Renten erhöht, ebenso das Kindergeld. Die Bevölkerungszahl war wie in praktisch allen Transformationsstaaten in Osteuropa nach der staatlichen Unabhängigkeit stark zurückgegangen: zwischen 1991 und 1997 um mehr als eine Million Menschen. Nach der Anhebung der einmaligen Zahlung des Kindergeldes von 300 auf 8 000 Hryvna, das sind rund 1 350 Euro, stieg die Geburtenrate allein in Kiew um das Dreifache. Die Kiewer Zeitung Denh’ berichtete Anfang August, dass die Löhne im ersten Halbjahr 2005 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 36,9 Prozent gestiegen seien. Der Durchschnittslohn liegt nun bei 823 Hryvna, was 137 Euro entspricht. Diese Zahl ist jedoch rein statistisch. Tatsächlich verdienen viele Menschen weniger als die 453 Hryvna (75,50 Euro), die nach offizieller Berechnung zum Leben notwendig sind.

Noch im August war trotz der Krisen die Popularität Juschtschenkos – und auch Tymoschenkos – erstaunlich stabil. Dies liegt daran, dass beide als integer galten. Insbesondere Juschtschenko unterstrich während des Wahlkampfes im Herbst 2004 die Bedeutung der Moral als politische Tugend. Das tat er auch bei der Amtsenthebung Tymoschenkos sowie vieler anderer ranghoher Beamter. Ihnen warf er nicht nur Amtsmissbrauch und Korruption vor, sondern vor allem den Verrat an den »Idealen der Orangenen Revolution«.

Läuft man den Chreschtschatyk in Richtung Platz der Unabhängigkeit, kommt man vor der Metro-Station an einem Stand vorbei, an dem Unterschriften für Visa-Erleichterungen für die Einreise in die EU gesammelt werden. Die Orientierung zur EU war neben der Betonung der politischen Moral die zentrale Botschaft Juschtschenkos während des Wahlkampfs. Der Beitritt ist nach den jüngsten Entwicklungen in der EU jedoch in noch weitere Ferne gerückt als zuvor. Dennoch berichteten ukrainische Zeitungen, dass Juschtschenko noch vor den Parlamentswahlen im März 2006 den Beitritt beantragen wolle.

Diese Wahlen werden entscheiden, ob die Übergangsregierung Jechanurovs weiterarbeiten kann und wie dann das Wechselspiel zwischen Regierung und Präsident funktionieren wird. Anfang 2006 tritt nämlich eine Verfassungsreform in Kraft, die die Rechte des Präsidenten einschränken und die des Parlaments stärken soll. Die Regierung wird dann nicht mehr von Juschtschenko ernannt, sondern vom Parlament gewählt werden. Das eigenmächtige Absetzen einer gesamten Regierung durch den Präsidenten wird nicht mehr möglich sein. Der angekündigte Antrag auf einen Beitritt zur EU soll die Westorientierung Juschtschenkos und der Regierung zu einem zentralen Wahlkampfthema gegen Janukovytsch machen.

Um das Wohlwollen des Europaparlaments zu erhalten, setzte die Ukraine bereits im April 2005 die Visapflicht für Bürgerinnen und Bürger der EU sowie der Schweiz und Lichtensteins bis zum 1. September 2005 aus. US-Bürger benötigen bereits seit dem 1. Juli, kanadische Staatsbürger seit dem 1. August kein Visum mehr. Von Gegenleistungen der EU ist bislang nichts bekannt, bis auf Ankündigungen, noch in diesem Jahr die Visabestimmungen lockern zu wollen.

Zunächst steht aber der für Ende 2005 geplante Eintritt der Ukraine in die Welthandelsorganisation (WTO) an. Die Ukraine ist ein Exportland, vom Beitritt zur WTO verspricht sie sich wegen des erleichterten Zugangs zu ausländischen Märkten einen entscheidenden wirtschaftlichen Aufschwung. Zugleich verhandelt die ukrainische Regierung mit Russland, Kasachstan und Belarus über den Aufbau eines »Gemeinsamen Wirtschaftsraums«. Diese Verhandlungen gerieten allerdings seit der »Orangenen Revolution« in eine tiefe Krise. Die ukrainischen Unterhändler wollten sich nur noch auf für die Ukraine günstige Projekte wie die Schaffung eines gemeinsamen zollfreien Handelsraums einlassen. Jeglichen Ansätzen, supranationale Gremien zu schaffen, gingen sie aus dem Weg.

In einigen Monaten beginnt der nächste Wahlkampf. Die Experten rechnen erneut mit einer schmutzigen Kampagne. Noch im August ging man von einem Kampf zwischen Janukovytsch und einem Bündnis von Juschtschenko und Tymoschenko aus, mittlerweile ist die ehemalige Regierung vielfach gespalten: Tymoschenko hat angekündigt, allein antreten zu wollen. Das Parteienbündnis »Nascha Ukrajina« ist in zwei Fraktionen zerfallen, die allerdings beide versichern, einen gemeinsamen Block zur politischen Unterstützung Juschtschenkos im Parlament gründen zu wollen. Ob sich dies jedoch praktisch bewährt, muss sich erst noch zeigen.

Ukrainische Medien beteuern, die derzeitigen Vorgänge seien in einer Demokratie völlig normal: Das Bündnis vom Winter 2004 habe das Ziel verfolgt, den Sieg Juschtschenkos zu erreichen. Nun würden sich die politischen Interessen ausdifferenzieren. Positiv im Vergleich zu früher sei, dass die Konflikte in der Presse besprochen würden. Juschtschenko zumindest scheint die Rolle des moralischen Verteidigers der »Ideale der Revolution« noch für sich gepachtet zu haben.

Im Zug nach Berlin sind sich die Schaffner, die ich auf dem Rückweg nach ihrer Meinung zu Juschtschenko befrage, einig. Sie lachen und zeigen auf einen »Juschtschenko-Tak«-Aufkleber, der in ihrem Dienstabteil klebt. Dann geben sie einen aus, um auf die Zukunft der Ukraine zu trinken.