Ein Land sieht rot und schwarz

Die Große Koalition aus Union und SPD formiert sich.
Aber Vergleiche mit der Regierung von Kiesinger und Brandt
aus den sechziger Jahren sind unpassend. von richard gebhardt

Was immer auch gerade hinter verschlossenen Türen zwischen der Union und der SPD verhandelt wird, Euphorie über die künftige Zusammenarbeit ist auf keiner Seite erkennbar. Die Große Koalition lässt keine große Freude aufkommen. Schon im Wahlkampf wurde Schwarz-Rot nur als Szenario für den worst case beschworen. Der SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler nannte diese Konstellation ein »Ungeheuer«, der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) gab für die Gegner den Ton an: »Eine große Koalition wäre schrecklich für das Land, weil sie jahrelangen Stillstand bedeuten würde.« Ein Urteil, das auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch einen Tag vor der Wahl unterstützte: »In dieser Koalition droht die Blockade großer Reformprojekte.«

Das Patt am Wahlabend hat den Tonfall zumindest bei den an der Bildung einer Regierung Beteiligten geändert. Zweifel werden zurzeit vor allem von den Wirtschaftsverbänden und ihren Ökonomen formuliert. Thomas Straubhaar, der Präsident des Hamburgischen Weltwirtschaftsarchivs, dessen Vorstand und Kuratorium mit Vertretern u.a. von Shell, der Bundesbank und der Deutschen Bank prominent besetzt sind, hält die Große Koalition für »das denkbar schlechteste aller Szenarien«. Straubhaar und zahlreiche andere befürchten einen »Stillstand« in Politik und Wirtschaft.

Ein Blick auf die Bundesländer, in denen Große Koalitionen regieren, bestätigt deren starken Kompromisscharakter. Gleichzeitig sind die in Bremen, Schleswig-Holstein, Brandenburg und Sachsen ausgehandelten Regierungsprogramme ein Pendant zu dem, was auf Bundesebene längst Regierungsalltag ist: Von der Gesundheitsreform bis zur Verabschiedung der Hartz-Gesetze existiert in zentralen Fragen ein informelles Netzwerk, das den Jargon der »Alternativlosigkeit« mitgeprägt hat und einen Vorgeschmack auf die Große Koalition gibt.

Sowohl beim Problem des »demographischen Wandels« als auch bei der Arbeitslosigkeit besteht grundsätzliche Einigkeit über die Notwendigkeit der geforderten »Zumutungen« für die lohnabhängig Beschäftigten und die Empfänger von staatlichen Leistungen. In Sachen Föderalismus gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Union und der SPD; trotz des Scheiterns der Föderalismuskommission wegen unterschiedlicher Überzeugungen zur Hochschulpolitik könnte das Thema wieder auf die politische Agenda gesetzt werden. Auch in der Rentenpolitik, die eine individuelle Altersvorsorge in den Mittelpunkt rückt, ähneln sich die Meinungen. Die am Wochenende angekündigte Neuauflage des »Bündnisses für Arbeit« ist ein weiteres Indiz für die Richtung, welche die neue Regierung einschlagen könnte.

Einer Umfrage des ZDF-Politbarometers zufolge sprechen sich 63 Prozent der Bevölkerung für eine Große Koalition aus. Selbst wenn sich diese Zustimmung aus dem deutschen Ressentiment gegen »Parteiengezänk« (Deutschlandfunk) speist, dürfte angesichts der zu erwartenden Konstellation kaum jemand der Befürworter ernsthafte Hoffnungen auf mehr »Führungsstil« oder gar autoritäres »Durchregieren« hegen. Die jüngsten Äußerungen von Volker Rühe und Friedrich Merz über Angela Merkel deuten parteiinterne Konfliktpotenziale an, und selbst Edmund Stoiber musste nach dem schlechten Wahlergebnis der CSU Kritik aus den eigenen Reihen einstecken.

Diese Große Koalition wird das Werk von Experten und Technokraten der Macht sein, deren politischer Stil im Streitgespräch zwischen Finanzminister Hans Eichel (SPD) und Paul Kirchhof (parteilos), der als sein Nachfolger galt, vorweggenommen wurde. Das dort vorgetragene Bombardement aus zum Fetisch erhobenen Zahlen, Fakten, Daten und Statistiken gab einen Ausblick auf die kommenden öffentlichen Debatten, deren Entpolitisierung stetig voranschreitet und in denen ein tatsächlicher Dissens zur herrschenden Meinung kaum vorkommt. Als »radikaler Reformer« gilt, wer die härtesten Sparkonzepte entwirft.

Analogien zur Großen Koalition von 1966 bis 1969, in der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) zusammen mit Willy Brandt (SPD) regierte, taugen nur bedingt zur Erklärung der aktuellen Situation. Damals brachte die Ablösung der vorhergehenden Koalition aus Union und FDP einen ehemaligen Mitarbeiter im NS-Propagandaapparat, Kiesinger, mit dem von Adenauer als Emigrant denunzierten Außenminister Brandt zusammen.

In diese Zeit fiel die erste große Wirtschaftskrise der Bundesrepublik Deutschland. Die Zahl der Arbeitslosen stieg in den Jahren 1966 und 1967 von 0,7 auf 2,1 Prozent, das Bruttosozialprodukt ging zurück, die Schlüsselindustrien kriselten. Franz-Josef Strauß (CSU) und der Hamburger Ökonomieprofessor Karl Schiller (SPD) erarbeiteten eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die starke keynesianische Elemente hatte und sich von den Vorgaben des abgelösten Kanzlers Ludwig Erhard (CDU) entfernte. Die NPD feierte Erfolge bei den Landtagswahlen, innenpolitisch dominierte die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze. 1965 scheiterte der Entwurf einer Notstandsverfassung noch am Veto der SPD, als Regierungspartei verabschiedete sie im Mai 1968 mit der Union in 3. Lesung die Gesetze. Die sich ab Anfang der sechziger Jahre formierende Opposition gegen die Notstandsverfassung zählt zu den Höhepunkten in der Protestgeschichte der Bundesrepublik. Studentenvereinigungen wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und die Gewerkschaften veranstalteten mehrere Kongresse und Kundgebungen. Am vom Kuratorium »Notstand der Demokratie« organisierten »Sternmarsch auf Bonn« am 11. Mai 1968 nahmen rund 70 000 Personen teil. Bei diesen Protesten wurden aber auch die Differenzen zwischen den Oppositionsgruppen deutlich. Inspiriert von Theoretikern wie Hans-Jürgen Krahl vom Frankfurter SDS bildete sich an den Universitäten eine »kleine radikale Minderheit«, die Strategien zur Kooperation mit der Arbeiterklasse entwickelte und vor dem Hintergrund des Vietnam-Kriegs auch internationale Perspektiven reflektierte. Das stieß auf Abwehr im Vorstand des DGB.

Weniger die Große Koalition in der Bundesrepublik als die internationale Politik bereitete den Boden für eine neue Form des gesellschaftlichen Widerstands: Im Dezember 1966 rief Rudi Dutschke zur Bildung einer Außerparlamentarischen Opposition auf, international radikalisierte sich die Studentenbewegung wie in Berkeley, Paris und Berlin. Intellektuelle wie Johannes Agnoli oder Peter Brückner dechiffrierten den autoritären Kern, der sich hinter Konzepten wie der »formierten Gesellschaft« oder Schillers »konzertierter Aktion« verbarg.

Die von Guido Westerwelle befürchtete »Regierung des Stillstands« wird auf die Erfahrungen in der Zusammenarbeit wie zuletzt beim »Jobgipfel« zurückgreifen. Diese Politik wird von einer Koalition verantwortet werden, die aus einer schwachen Position handelt und Abwanderungen befürchten muss. Und eben diese erwartbaren Friktionen im politischen System machen Verweise auf die damalige Zeit beliebt. Im März 2004, während der Proteste des DGB gegen die Agenda 2010, forderte der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz eine »schlagkräftige neue Apo« gegen den Sozialkahlschlag. Diese Randnotiz gibt Auskunft über die derzeitige Qualität des Protestes. Angesichts der Hegemonie wirtschaftsliberaler Konzepte wird heute selbst die Caritas zum Wiedergänger des SDS.