Lesen und auf der Couch liegen

Michael Rohrwasser hat Sigmund Freuds Lektüren noch einmal nachgelesen. von jan süselbeck

Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben«, schrieb einst Karl Kraus über Sigmund Freud. Und er fügte hinzu: »Aber es geht darin zu, wie in Österreich.«

Dem kann man, nachdem man Michael Rohrwassers Buch mit dem Titel »Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler« durchgelesen hat, nur zustimmen. Wobei es gerade das Schöne an dieser Studie ist, dass sie uns aus kritischer Perspektive daran erinnert, wie inspirierend es ist, sich in dieses Österreich zurückzuversetzen. War die Wiener Gesellschaft der k.u.k.-Monarchie doch nach 1900 noch hochgradig durch (ost-)jüdisches Kultur- und Literaturverständnis bereichert.

Auch der assimilierte Mediziner Freud begann bald, die junge Wissenschaft der Psychoanalyse auf die Literatur (seiner Zeit) anzuwenden – Werke, die er seit seinen Jugendtagen als selbsternannter »Bücherwurm« verschlungen und in sich aufgesogen hatte.

Nach dem Erscheinen seiner epochalen »Traumdeutung« (1900) gewinnen Freuds Interpretationen neue Qualität. »Sie erheben einen spektakulären Anspruch, weil sie verheißen, dem literarischen Text sein verborgenes Geheimnis zu entlocken, weil sie den Schlüssel versprechen, der den latenten Sinn des Werks und dessen andauernde Wirkung erst erschließt«, referiert Rohrwasser. Eine geradezu detektivische Deutungsschule findet hier ihren Ursprung, deren letztliches Scheitern Rohrwasser beim Durchforsten der Schriften, Briefe und Lieblingslektüren Freuds immer wieder interessiert; zugleich beschäftigt er sich mit ihren wichtigsten Erkenntnissen und Teilerfolgen.

Rohrwasser beobachtet Freud »in den Rollen des Entzifferers, des Detektivs, des Übersetzers und des Archäologen«, und er liest ihn damit dezidiert als »modernen Autor«. Einen Schriftsteller also, der »nicht nur Enträtseler, sondern auch Konstrukteur des Rätsels ist«, wie es in der Einleitung der Studie heißt.

Freuds Fallgeschichten nahmen schon früh selbst den Charakter literarischer Erzählungen an, wie er auch umgekehrt die Versuche der von ihm behandelten Neurotiker, ihre inzestuösen Neigungen mit Abwehrphantasien zu kaschieren, kurzerhand als »Familienroman« beschrieb. Rohrwasser nimmt Freuds Bemerkung aus einem Brief an Wilhelm Fließ ernst, in der er sich mit Sherlock Holmes vergleicht, und Rohrwasser nimmt diesen Anhaltspunkt zum Anlass, die Geschichte der Freudschen Psychoanalyse noch einmal als intertextuellen Krimi zu lesen. Dabei betont er gerade auch die frühe zeitgenössische Wahrnehmung der Psychoanalyse als eher dubiose Modeerscheinung, nicht zuletzt wegen ihrer anfänglichen Liebäugelei mit der obskuren Hypnose.

Den Topos des skrupellosen Psychiaters, der seine Patienten manipuliert, griff das Kino des Expressionismus und Surrealismus dankbar auf – so etwa Fritz Lang in »Dr. Mabuse« (1922) oder in Robert Wienes »Dr. Caligari« (1919). Rohrwasser leitet Freuds demonstrative Ablehnung des neuen Mediums Film, die so nachhaltig war, dass er 1925 ein Angebot der Ufa, an einer seriösen filmischen Darstellung seiner Wissenschaft mitzuarbeiten, »mit Abscheu und demonstrativer Verachtung« ausschlug, von der These ab, dass Freud im Kino nichts weniger als ein »Konkurrenzsystem« erkannt haben könnte.

Der Film vermöge die Welt der Träume immerhin direkter zu evozieren als die Literatur, stellt Rohrwasser fest: Das »Kino, ›Traumwelt‹ genannt, entpuppt sich als die bessere psychoanalytische Technik und als ein ideales Instrument zur ›Massenbezwingung‹«. Den Lustcharakter aber, den die Unterwerfung unter die Macht solcher (medialer) Massenphänomene auch beinhaltet, hatte Freud in der Tat ignoriert, wie seine berühmte Studie »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) zeigt. Sie kapriziert sich auf die Untersuchung der Macht des Führerprinzips, während sie die unheimliche Eigendynamik der Masse »familiarisiert«, wie Rohrwasser es formuliert, sie »auf die vertrauten libidinösen Bindungen« des Individuums beschränkt.

Allerdings schätzte Freud durchaus auch triviale Kunstwerke. So wird er uns hier als begeisterter Leser der »Sherlock-Holmes«-Stories von Arthur Conan Doyle vorgestellt. Nicht zuletzt widmet sich Rohrwasser einer genaueren Relektüre von Freuds Studie über Wilhelm Jensens triviale Novelle »Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück« (1907). Freuds noch im selben Jahr entstandenes Buch »Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹« entpuppt sich dabei weniger als schlüssige Analyse des Romans denn als autarke Erzählung, die sich in der nachfolgenden Literaturgeschichte an die Stelle der Jensenschen Erzählung setzte. Jensens drittklassige Novelle wäre schließlich ohne Freuds Schrift längst vergessen. »Literatur nach Freud«, das heißt für Rohrwasser zugespitzt: »die Literatur Freuds«.

Damit nicht genug. In akribischen, keinesfalls aber langweiligen Exkursen über Freuds Lektüren von E.T.A. Hoffmanns »Sandmann« (1815), Conrad Ferdinand Meyers historischer Novelle »Die Richterin« (1885) und Arthur Schnitzlers »Weissagung« (1905) wird die Literaturgeschichte noch mal neu aufgerollt. Aufregend daran ist vor allem, wie Rohrwasser die analytischen Urteile Freuds in eigenen Interpretationen zu verifizieren versucht und dabei allerhand Widersprüche neu zu Tage fördert.

Die These, die er in seinem berühmten Vortrag »Der Dichter und das Phantasieren« (1907) vertrat – das Werk des Künstlers spiegele die Träume und Wünsche des Autors; der Analytiker könne anhand des Textes die Phantasien erkennen und herausarbeiten –, schlug am Ende auf Freud zurück. So war sich Freud beispielsweise im Briefwechsel mit seinem Freund und Kollegen Fließ schnell einig, in dem Schweizer Schriftsteller Meyer einen typischen Neurotiker vor sich zu haben, der seine inzestuöse Beziehung zur Schwester in der »Richterin« zu camouflieren suchte.

Rohrwasser arbeitet jedoch heraus, wie wenig der Text tatsächlich den »Skandal« zu verbergen sucht, über den man seinerzeit in den Salons munkelte, ohne dass eine sexuelle Beziehung Meyers zu seiner Schwester jemals wirklich nachgewiesen worden wäre. Freuds Analyse erweist sich zudem als unzugänglich für die gekonnte Konstruktion des untersuchten Werks: Der Psychiater entpuppt sich als pathologisierender Detektiv, der in der Literatur nur noch bloße »Schutzdichtungen« und »Fallgeschichten« wahrzunehmen vermag. Auch hier schreibt Freud Rohrwasser zufolge letztlich eine neue, eigene Novelle, um sie an die Stelle des untersuchten Textes zu setzen.

Den krönenden Schlusspunkt der Studie setzt die Untersuchung der klandestinen Freud-Rezeption des großen Psychoanalyse-Hassers Elias Canetti – ein Autor, den Rohrwasser besonders genau gelesen hat. Er weist dem Nobelpreisträger nach, wie wichtig Canetti die stillschweigende Auseinandersetzung mit Freud gewesen sein muss, um seine eigenen Lebensthemen – vor allem das von »Masse und Macht« (1960) – gegen die Hypothesen des großen Vaters der Psychoanalyse zu profilieren.

Canetti opponierte leidenschaftlich gegen Freuds Massenpsychologie, indem er die am eigenen Leib erfahrene Urmacht der Masse selbst zu ergründen suchte: »Sie brodelt, ein ungeheures, wildes, saftstrotzendes und heißes Tier in uns allen, sehr tief, viel tiefer als die Mütter. (…) Wir wissen von ihr nichts; noch leben wir als vermeintliche Individuen«, mutmaßt Canetti in seinem genialischen Roman »Die Blendung« (1935). »Manchmal kommt die Masse über uns, ein brüllendes Gewitter, ein einziger tosender Ozean, in dem jeder Tropfen lebt und dasselbe will.«

So mündet Rohrwassers Untersuchung doch noch in eine fruchtbare Rezeption Freuds. Und: Das alles ist nicht etwa graue literaturwissenschaftliche Theorie, wobei Rohrwasser eine angenehm weitgreifende Belesenheit an den Tag legt, ohne jedoch den Leser damit zu nerven.

Gewiss: Die fragwürdige Manie, ein überbordendes »Netzwerk« von Verbindungen sowohl in Fuß- als auch Endnoten auszulegen, hat sein Buch mit den Mammutstudien seines Kollegen Klaus Theweleit gemein. Allerdings muss man sagen, dass Rohrwasser die Geduld des Umblätterers summa summarum weit weniger strapaziert, als der Autor der »Männerphantasien« (1977/78) es zuletzt in seinem »Pocahontas«-Projekt tat. So pirscht man sich denn mit Rohrwasser tapfer weiter in das Herz des dunklen Kontinents der Psychoanalyse vor.

Michael Rohrwasser: Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler. Psychosozial-Verlag, Gießen 2005, 404 S., 38 Euro