Der deutsche WM-Krieg

Während »Florida-Rolf« einst nur den Sozialstaat ausbeutete, vergreift sich
»Kalifornien-Jürgen« am höchsten Gut der Republik: der Nationalelf. von christian helms

Wenn es ein drei Jahre altes Archivfoto auf die Titelseite der Bild-Zeitung schafft, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder handelt es sich um einen gewaltigen Exklusiv-Skandal oder um Stimmungsmache auf unterstem Niveau. Ein Nürnberger Wurstfabrikant, der in seiner Freizeit auch gerne als Mann des Volkes bei Maybrit Illner auftritt oder die Finanzen des FC Bayern München betreut, hatte die Idee ausgebrütet: »Der soll nicht ständig in Kalifornien ’rumtanzen und hier uns den Scheiß machen lassen. Er muss sich mit uns unterhalten und muss öfter hier sein, das ist alles.« Der Populismus-Express mit der Aufschrift »WM-Krieg« rollte durchs Land, langsam genug, dass etliche Kritiker des Bundestrainers in den folgenden Tagen aufspringen konnten.

Vor zwei Jahren deckte das Blatt, das komplizierte Sachverhalte so wunderbar einfach darzustellen vermag, die üblen Machenschaften von »Florida-Rolf« auf, jenem in Miami Beach beheimateten deutschen Rentner, der angeblich auf Kosten des Steuerzahlers ein geradezu paradiesisches Dasein fristete. Es reicht ja, einen Mitbürger am Strand zu zeigen, um den allgemeinen Neid zu provozieren, schließlich geht es uns hierzulande doch alles andere als gut. Schockierende Bilder: Jürgen Klinsmann – joggend am Pazifik! Doch während »Florida-Rolf« einst nur den Sozialstaat ausbeutete, vergreift sich »Kalifornien-Jürgen« am höchsten Gut der Republik – unserer Nationalelf.

Um die absurde Diskussion besser einzuordnen, blicken wir zurück. »Es ist wichtig, dass jemand diesen Job übernimmt, der unbefleckt ist.« Als Rudi Völler im Juni vergangenen Jahres etwa zwölf Stunden nach dem Aus in der Vorrunde im deutschen EM-Quartier Almancil verkündete, er werde von seinem Amt zurücktreten, war der optimale Nachfolger schnell gefunden. Ottmar Hitzfeld, ob seiner einschläfernden Analysen zwar gefürchtet, dank seiner imposanten Sammlung an Meisterschalen und Henkeltöpfen jedoch in seinem Ruf als Fachmann unumstritten, sollte den deutschen Fußball aus dem portugiesischen Jammertal zum WM-Endspiel ins Berliner Olympiastadion führen. Der Wunschkandidat deutete auch gleich sein generelles Interesse an diesem Posten an, erste Vertragsinhalte wurden besprochen, Hitzfelds Ehefrau Beatrix gab ihr Einverständnis, und Gerhard Mayer-Vorfelder ließ sich bereits öffentlich für seine Verhandlungskünste feiern. Umso überraschender kam schließlich die Absage des Trainers; er fühle sich »nicht in der Verfassung, der deutschen Nationalmannschaft bis zur WM 2006 weiterzuhelfen«. Auch nicht bei einem Jahressalär von vier Millionen Euro.

Einen Plan B gebe es nicht, klang es bald kleinlaut aus der DFB-Zentrale. Gute drei Wochen gab sich die legendäre TFK (»Trainerfindungskommission«) fleißig ihren Gedankenspielen hin. Otto Rehhagel zog es vor, sich nach dem sensationellen Triumph von Lissabon noch ein wenig als griechischer Volksheld feiern zu lassen. Christoph Daum sei nicht vermittelbar, so Mayer-Vorfelder, der nach seinem misslungenen Alleingang in die Kritik geriet. Einigermaßen absurd wirkten die ernsthaften Bemühungen, Rudi Völler zum Rücktritt vom Rücktritt zu überreden. Arsène Wenger, Guus Hiddink, Morten Olsen, Dick Advocaat und Giovanni Trapattoni, sogar der Name Lothar Matthäus wurde ins Spiel gebracht – wenngleich von Matthäus selbst. Als das würdelose Anbiedern aus Budapest immer lauter wurde, stiegen die Herren Hackmann und Mayer-Vorfelder schließlich in ihrer Verzweiflung in ein Flugzeug, um sich in New York mit dem unbefleckten Jürgen Klinsmann zu treffen.

Als »siebte oder achte Wahl«, wie Knappen-Manager Rudi Assauer spöttisch kommentierte, hatte »Klinsi« damals die bestmögliche Ausgangssituation – die Qualität des Spielerkaders einmal ausgeklammert. Er ließ sich weit reichende Kompetenzen zusichern und überzeugte den mittlerweile gezwungenermaßen sehr aufgeschlossenen DFB mit seinen Plänen. »Ich habe ihm gesagt, mach’ das so, wenn du davon überzeugt bist. Mit der Amerikanisierung und das alles«, drückte sich Amtsvorgänger Rudi Völler noch ein wenig schwammig aus. Deutlicher führte damals eben jener Uli Hoeneß die US-amerikanische Mentalität des neuen Teamchefs als Vorteil – ja, richtig gelesen – an. »Er schafft es, den jungen Leuten Selbstvertrauen zu geben. Jürgen Klinsmann kommt aus Amerika, wo vieles auch nicht so gut läuft. Aber er hat gelernt, so zu tun, als sei alles gut, und das versucht er zu vermitteln.«

Der Reformer aus den Staaten machte dem DFB manch sonderbare Vorschläge, doch die Neuerungen wirkten – zunächst. Das verjüngte Klinsmann-Team spielte zwar noch immer keinen hochklassigen Fußball, vermittelte aber erstmals seit langer Zeit wieder den Eindruck, mit Freude bei der Sache zu sein. Das jugendliche Duo »Schweini und Poldi« bescherte der ausgehungerten Anhängerschaft schließlich beim Confederations Cup so viel Freude, dass sogar die 14 Gegentreffer, die die deutsche Abwehr in fünf Partien hinnehmen musste, niemanden mehr interessierten. Nur vier Monate später sieht das freilich anders aus. Niederländer, Slowaken, Türken und zuletzt sogar teilweise die Chinesen zeigten der deutschen Auswahl ihre Grenzen auf, nur noch drei Prozent der Deutschen glauben Umfragen zufolge an den vierten WM-Titel.

Das Stimmungstief gab die Chance zur Polemik. Doch kaum überzeugend sind sie, die Argumente der Tadler: Ein Fitnesstest, der dem Bundestrainer nun einmal wichtige Aufschlüsse über den körperlichen Zustand seines Kaders geben soll, wird in der Darstellung der Vereinsoberen schnell zur erheblichen Belastung, die gleich den gesamten Saisonverlauf zu bedrohen scheint. Dabei sollte es doch durchaus im Interesse der Clubs sein, wenn koordinative oder konditionelle Defizite ihrer Spieler gezielt beseitigt werden.

Beklagt wurde auch Klinsmanns angeblich mangelnde Präsenz in Deutschland. Wenn Jogi Löw und Oliver Bierhoff sich das Spitzenspiel zwischen dem FC Schalke 04 und dem FC Bayern in der Veltins-Arena anschauen, muss das reichen. Wenigstens vier Spiele schaue er sich an, ließ hingegen Klinsmann verlauten, die moderne Satellitentechnik macht’s möglich. Mangelnde Kommunikation warf man dem Bundestrainer überdies vor, dem jedoch sofort Mayer-Vorfelder (»Ich erreiche ihn auch morgens um halb sechs«) und Nationalmannschaftsmanager Bierhoff (»Es gab nie so eine starke Kommunikation mit dem Bundestrainer wie jetzt«) zur Seite sprangen. In einer Zeit, in der es täglich unwichtiger wird, an welchem Ort auf diesem Planeten jemand seinen Job ausübt, bestehen die deutschen Vereine jedoch auf ihrer lächerlichen Forderung, der Klinsmann-Clan solle doch zumindest bis zur WM nach Deutschland übersiedeln.

Diplomatisch oder versöhnlich gibt sich Klinsmann, obwohl er das eigentlich gar nicht müsste: »Es ist doch logisch, dass ich im WM-Jahr öfter in Deutschland sein werde, auch wenn nur zwei Länderspiele im März anstehen.« Als Zeichen guten Willens stimmte der Schwabe sogar dem »Krisengipfel« von Frankfurt zu, dem mittlerweile klassischen Finale deutscher Streitkultur, in dem das Ergebnis immer dasselbe ist: dass nämlich die gewaltigen Aufgaben, die vor uns liegen, nur gemeinsam gelöst werden können.

Das Schlusswort bleibt wieder einmal Franz Beckenbauer, den man wirklich zu jeder Diskussion zitieren kann: »Entscheidend wird doch sein, wie das deutsche Team bei der WM abschneidet.« Amen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Michael Ballack am 9. Juli 2006 den goldenen Pokal in den Berliner Abendhimmel strecken darf, wird übrigens mit Sicherheit auch die Bild-Zeitung stolz verkünden, dass wir nach Papst und Kanzlerin jetzt auch noch Weltmeister sind.