Für eine Leitkultur …

… von Humanismus und Aufklärung – jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit. Von Michael Schmidt-Salomon

Während konservative Politiker eine christlich-patriotische Leitkultur (»Werte des christlichen Abendlandes«) einklagen und mitunter gar zum Kulturkampf gegen »gott- und vaterlandslose Gesellen« aufrufen, träumen andere von der »multikulturellen (d.h. kulturell segmentierten) Gesellschaft« inklusive einer »Einbürgerung des Islam«. Doch weder die konservative Wiederbelebung der Idee einer »christlichen Festung Europa« noch die postmoderne Beschwichtigungspolitik gegenüber religiösen und esoterischen Strömungen werden das Projekt einer »offenen Gesellschaft« voranbringen.

Eigentlich sollte es einleuchtend sein, dass wir heute kaum eine andere Chance haben, als auf jene »verdrängte Leitkultur« zu setzen, mit der der gesellschaftliche Fortschritt in der Geschichte verknüpft war: die Leitkultur von Humanismus und Aufklärung. Doch von einer solchen Einsicht ist das politische Establishment meilenweit entfernt. Obgleich alle großen Errungenschaften der Moderne mit der Tradition der Aufklärung verbunden sind (technisches Know-how, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit etc.), ist die Aufklärung auf weltanschaulichem Gebiet eine »Untergrundbewegung« geblieben.

Die vielen Millionen Menschen, die sich von den etablierten Religionen bereits verabschiedet haben, sind sowohl in den Medien als auch in der Politik unsichtbar geblieben, während die beiden christlichen Großkirchen immer noch – trotz der verfassungsrechtlich garantierten Trennung von Staat und Kirche – jene ungeheuren Privilegien (Staatssubventionen in Milliardenhöhe, Präsenz in den Medien, Schulen und Universitäten etc.) genießen, die sie sich u.a. in der Nazizeit (Reichskonkordat) auf höchst unredliche Weise gesichert haben. (1)

Wenn evolutionäre Humanisten für eine stärkere Berücksichtigung der Leitkultur Humanismus und Aufklärung eintreten, so geschieht dies aber nicht nur, um die ungerechtfertigten Machtansprüche der christlichen Großkonfessionen zurückzudrängen, sondern auch, um dem Problem einer zunehmenden »religiösen Ghettoisierung« der Gesellschaft entgegenzuwirken. Multikulti-Illusionen haben lange Zeit den Blick dafür getrübt, dass sich in der westlichen Gesellschaft religiöse Parallelgesellschaften herausgebildet haben, die es darauf anlegen, selbst die fundamentalsten rechtsstaatlichen Prinzipien zu negieren. (In diesem Zusammenhang ist u.a. auf den dogmatischen, evangelikalen Puritanismus russlanddeutscher Aussiedler hinzuweisen, vor allem aber auf die zunehmenden islamistischen Abschottungstendenzen innerhalb der türkischen Migrantenszene.)

Um nicht in den Verdacht der Ausländerfeindlichkeit zu geraten, trauten sich gerade in Deutschland nur wenige Experten, auf die Gefahren eines fortschreitenden Fundamentalismus innerhalb der Migrantenfamilien hinzuweisen. Wer sich als politisch progressiv verstand (und den Gauweilers der Republik keine zusätzliche Munition liefern wollte), pries lieber das »Abenteuer der kulturellen Vielfalt«, die enorme Bereicherung durch das »Fremde« – und hatte damit zweifellos auch Recht. Wer lebt schon gern »allein unter Deutschen«?

Werte für alle

Allerdings: Im Zuge dieser einfältigen Vielfaltlobhudelei wurde sträflich übersehen, dass man mit der türkischen Community nicht nur Kebab, Bauchtanz, orientalische Musik, Kunst und Lyrik importierte, sondern auch die ideologischen Keimlinge einer Religion, die weit weniger als das europäische Christentum gezwungen war, durch die Dompteurschule der Aufklärung zu gehen, und sich deshalb auch keine zahmeren, menschenfreundlicheren Umgangsformen angewöhnen musste. Wenn wir heute vor einer völlig gescheiterten Integrationspolitik stehen, dann nicht zuletzt deshalb, weil die demokratiefeindlichen Potenziale der Religionen (hier: insbesondere des Islam) maßlos unterschätzt wurden.

Statt die Politik konsequent am aufklärerischen Leitbild des säkularen Staates auszurichten, war die Diskussion von zwei konträren Positionen geprägt, die als »ausländerpolitisches Kombipack« dafür sorgten, dass die Saat des Islamismus in Deutschland hervorragend gedeihen konnte – ein wunderbares Beispiel für »deutsche Wertarbeit«: Während der absurde Zwang zur Anpassung an eine »deutsche (christliche) Leitkultur« die Migrantenfamilien noch stärker in die kulturelle Isolation trieb, schuf die multikulturelle Beschwichtigungspolitik, die jede Form der grundlegenden Islamkritik als »Kulturimperialismus« missdeutete, die Freiräume für eine ungehemmte Islamisierung innerhalb der von westlichen Einflüssen weitgehend abgeschirmten Migrantenszene. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass sich ein beachtlicher Teil der Migranten als nicht religiös versteht, weshalb es Unsinn ist, beispielsweise die in Deutschland lebenden türkischen Einwanderer automatisch der Gruppe der Muslime zuzurechnen.

Sämtliche Studien, die sich mit dem Thema eingehender beschäftigten, haben gezeigt, dass die optimistische Erwartung, dass sich die Menschen schon automatisch zu Demokraten entwickeln würden, wenn man ihnen rechtsstaatlich garantierte Grundrechte einräumt, hoffnungslos naiv war. (2) Es ist an der Zeit, aus dieser Erkenntnis die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen. Das Erlassen von Gesetzen, die die Ausübung der Religionsfreiheit bzw. das Ausleben kultureller Traditionen dort rigoros begrenzen, wo sie mit rechtsstaatlichen Prinzipien kollidieren (Beispiel: Zwangsheirat), ist in diesem Kontext zwar ein notwendiger, aber noch kein hinreichender Schritt. Gerade in der Bildung müssten neue Wege gegangen werden. So wäre beispielsweise statt der »flächendeckenden Einführung des Islamunterrichts« die Einführung eines für alle verbindlichen Werteunterrichts (ohne Abmeldemöglichkeit) angebracht, denn ohne solche integrativen Maßnahmen, die für alle – selbstverständlich nicht nur für Menschen mit muslimischen Hintergrund – zu gelten haben, wird das Phänomen der zunehmenden »kulturellen Ghettoisierung« kaum zu überwinden sein.

Fest steht: Wenn Klein-Erna mit dem Segen des Staates von Vertretern der katholischen Kirche, Klein-Mehmet von Muslimen, Klein-Philipp von Zeugen Jehovas etc. fürs Leben geschult wird, so entsteht darüber keine weltanschauliche Vielfalt, sondern bloß potenzierte Einfalt. Mit der bisher gewählten Strategie, die schulische Vermittlung und Diskussion von Werten und Weltanschauungen ausgerechnet den religiösen Gemeinschaften zu überlassen, hat der Staat einen großen Fehler gemacht. Dass unter dieser Voraussetzung aus einer offenen Gesellschaft nichts werden kann, sollte niemanden verwundern.

Insofern ist die 2005 getroffene Entscheidung des Berliner Senats, einen für alle Schülerinnen und Schüler verbindlichen Werte- und Religionskundeunterricht in den Lehrplan aufzunehmen, nur zu begrüßen. Offensichtlich haben die Verantwortlichen der Berliner Landespolitik den Mut gehabt, die richtigen Schlüsse aus den zunehmenden interkulturellen (Auseinandersetzungen zwischen türkischen und deutschen Jugendlichen) und innerkulturellen Konflikten (beispielsweise die Häufung so genannter Ehrenmorde an türkischen Frauen) zu ziehen. Dass sie dafür von den Großkirchen und der Mehrheit des politischen Establishments in Deutschland Prügel beziehen würden, war kaum anders zu erwarten.

Erstaunlich waren hingegen die Umfrageergebnisse, die zeigten, dass die Entscheidung des Berliner Senats bei der Mehrheit der Bevölkerung auf positive Resonanz stieß (Die Frage, »Falls Werteunterricht an Schulen eingeführt wird, sollte dieser religionsneutral sein, also von Katholiken, Protestanten, Muslimen und Konfessionslosen gemeinsam besucht werden«, wurde, wie in der Berliner Morgenpost vom 3. April 2005 zu lesen war, von 86 Prozent der Befragten bejaht).

Insofern besteht vielleicht doch noch Grund zur Hoffnung, dass irgendwann einmal auch die Politiker anderer Bundesländer einsehen werden, dass es notwendig ist, ein integratives, wissenschaftlich und philosophisch fundiertes Schulfach an die Stelle des herkömmlichen (mit Missionsbefehl ausgestatteten) Konfessionsunterrichts zu setzen.

In der heftig geführten Debatte um den Berliner Werteunterricht wurde von Kritikern der Senatsentscheidung immer wieder ins Spiel gebracht, der zu »religiös-weltanschaulicher Neutralität« verpflichtete Staat habe kein Recht, selbst Werte zu vermitteln. Dies müsse er, so wurde behauptet, den religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften überlassen. Was ist davon zu halten?

Zunächst einmal muss in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass die in der deutschen Verfassung verankerte (in der Praxis jedoch zugunsten der Großkirchen häufig missachtete) weltanschauliche Neutralität des Staates keineswegs als Verpflichtung zu staatlicher Wertindifferenz gedeutet werden darf. Im Gegenteil! Das Gemeinwesen der Bürger beruht auf klar benennbaren Verfassungswerten, die als Minimalkonsens das Zusammenleben der Menschen regeln sollen (den Grundrechten, der Gewaltenteilung, der richterlichen Unabhängigkeit, dem Sozialstaatsprinzip, dem Schutz für Verfolgte, der Verantwortung für die Nachwelt, die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tierwelt usw.). Diese Gesichtspunkte zusammengenommen ergeben, so der Jurist Gerhard Czermak, »die Grundstruktur einer auf inhaltlichen Werten beruhenden Verfassungsordnung, und diese bedingen ein einerseits in gewisser Weise spezifisches, andererseits pluralistisch-offenes ›Menschenbild‹ des GG (Grundgesetzes). Selbstverständlich können und sollen die Erziehungseinrichtungen diese verfassungsrechtlichen Grundvorgaben, den notwendigen Grundkonsens, auch als verbindlich vermitteln, denn es geht um die Basis des friedlichen und gerechten Zusammenlebens in der Gesellschaft. Mit dieser ›Doktrin‹ darf Schule also ›indoktrinieren‹.« (3)

Demnach darf der Staat sehr wohl Werte vermitteln, ja er ist sogar dazu verpflichtet, will er seine eigene Verfasstheit (und damit die Grundrechte der Bürger) gegen freiheitsfeindliche Angriffe schützen. Nicht ohne Grund finden die in der Verfassung verankerten Freiheitsgarantien (u.a. Religionsfreiheit, Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und der Meinungsbildung) dort ihre Grenzen, wo die Prinzipien der Verfassung sowie der untergeordneten Gesetzessammlungen verletzt werden. Der spanische Ministerpräsident José Luis Zapatero hat dies unlängst im Spiegel-Interview (9. November 2004) deutlich auf den Punkt gebracht: »Das gesellschaftliche Zusammenleben kann nur in einem laizistischen Staat funktionieren. Wenn Glaubensregeln sich in die Gesetze des Staates einmischen, ist Schluss mit der Bürgerfreiheit!« Man wünschte sich, sein mutiges Beispiel würde Schule machen.

Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates (d.h. seine Verpflichtung zur Gleichbehandlung religiös-weltanschaulicher Gruppen) wird spätestens dort aufgehoben, wo religiös-weltanschauliche Gruppierungen im Widerspruch zu den ethischen Grundanforderungen der Verfassung stehen. Anders gewendet: Je eher eine religiöse oder weltanschauliche Gruppierung den Verfassungswerten entspricht, desto eher wird ihr die Verfasstheit des Staates als »weltanschaulich neutral« erscheinen, je weiter sie von den Verfassungswerten entfernt ist, desto eher wird sie diese als parteiliche (keineswegs neutrale) Staatsideologie begreifen und notwendigerweise mit ihr kollidieren.

Gegen weltanschauliche Neutralität

Neben dieser ethischen Begrenzung der Weltanschauungsneutralität ist (vor allem) im Bildungsbereich ein weiterer Aspekt zu beachten, der zwar in der Debatte regelmäßig übersehen wird, in der Praxis aber von großer Bedeutung ist. Die Lernziele und Lehrpläne der Schulen werden nicht nur vom Ethos der Verfassung beeinflusst, sondern vor allem vom Forschungsstand der jeweiligen Fachdisziplinen. Lehrpläne, Schulbücher etc. müssen also wissenschaftlichen Wahrheitswerten genügen. Aussagen, die logischer/empirischer Überprüfung nicht standhalten können, haben im Curriculum der öffentlichen Schulen nichts verloren. Nur deshalb kann ein Kreationist nicht einklagen, dass die Schöpfungslehre im Biologieunterricht behandelt werden sollte.

Selbstverständlich verhalten sich die Länder, die für Bildung hauptsächlich verantwortlich sind, keineswegs »weltanschaulich neutral«, wenn sie die Evolutionstheorie als ernst zu nehmenden Ansatz privilegieren und Intelligent-Design-Theorien ausblenden (bzw. allenfalls kritisch berücksichtigen). Würden sie hinreichend widerlegte Ansichten nur aus dem Grund in den Lehrplan aufnehmen, weil bestimmte Gruppen dies ansonsten als »Diskriminierung« betrachten würden, so hätte das eine schwerwiegende Aushöhlung des Bildungsbegriffs zur Folge. Die unkritische Vermittlung von Behauptungen, die erwiesenermaßen falsch sind, ist nämlich gerade das Gegenteil von Bildung, ist »Verbildung«, ist Manipulation – auch wenn bestimmte Gruppen sich durch die fehlende Berücksichtigung ihrer weltanschaulichen Irrtümer benachteiligt fühlen mögen.

Halten wir fest: Zwar ist die »weltanschauliche Neutralität« des Staates ein zentrales Verfassungsgut, da nur ein Staat, der seinen Bürgern nicht in umfassendem Sinne vorschreibt, was sie zu denken oder zu glauben haben, bürgerliche Freiheiten (vor allem auch die positive und negative Religionsfreiheit) gewährleisten kann. Und doch ist das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates über weite Strecken bloße Fiktion.

Die weltanschauliche Neutralität nämlich ist, wie wir gesehen haben, notwendigerweise zweifach beschränkt. Erstens durch die ethischen Prinzipien der Verfassung (wenn eine religiöse Gruppierung gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, z.B. Zwangsheirat, oder aber gegen den Schutz der Tierwelt, z.B. Schächten, verstößt, kann und darf der Staat sich dazu nicht neutral verhalten); zweitens durch die Verpflichtung des Staates und der Länder zur Förderung seriöser Bildung, die sich nach soliden wissenschaftlichen Wahrheitskriterien richten muss und nicht nach den Partikularinteressen bestimmter religiös-weltanschaulicher Gruppierungen (Beispiel: Wenn eine religiöse Gruppe gegen den Sexualkundeunterricht agitiert oder homosexuelle Handlungen als »unnatürlich« dargestellt wissen will, so können sich Staat und Länder als Träger oder Aufsichtsagenturen der Bildung hierzu nicht neutral verhalten, denn zum einen wird ohne gründliche Erörterung des Themas Sexualität weder das menschliche Verhalten noch die Evolution des Lebendigen als Ganzes verständlich, zum anderen finden sich homosexuelle Verhaltensweisen erwiesenermaßen im gesamten Tierreich).

Das heißt: »Weltanschaulich neutral« kann sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten gründenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags auf dem Spiel stehen. Anders formuliert: Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität steht und fällt mit der Akzeptanz jener Leitkultur, auf der jeder moderne Rechtsstaat gründen muss. Diese Leitkultur ist weder national noch religiös geprägt, sondern international verankert und im Kern säkular ausgerichtet (ohne dadurch die Religionsfreiheit unzulässig einzuschränken). Es handelt sich hierbei um jene leidlich verdrängte, aber doch im Hintergrund ungeheuer wirkmächtige Leitkultur von Humanismus und Aufklärung – eine Leitkultur, die heutzutage viel stärkere Beachtung finden sollte, da sie allein in der Lage ist, jenen zeitgemäßen Grundkonsens zu definieren, auf dem sich ein fruchtbarer gesellschaftlicher Pluralismus überhaupt entfalten kann.

Wer von der Leitkultur Humanismus und Aufklärung ausgeht, für den ist Religion Privatsache. Es sollte klar sein, dass jeder Mensch glauben darf, was er will, schließlich sind die Gedanken frei – auch frei zur Unvernunft. Wer auch heute noch hinreichend widerlegten, archaischen Mythen Glauben schenken möchte, darf dies selbstverständlich tun. Nur sollte dies im 21. Jahrhundert keine Auswirkungen mehr auf die Politik haben. In der öffentlichen politischen Diskussion müssen notwendigerweise weltliche Standards gelten – und zwar (in ethischer Hinsicht) die humanistische Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen sowie (in methodischer Hinsicht) die aufklärerische Orientierung an den Idealen der intellektuellen Redlichkeit, wonach Behauptungen logisch/empirisch belegt sein müssen, damit sie von Relevanz sein können.

Selbstverständlich wäre die freie Religionsausübung (und sollte sie noch so absurde Formen annehmen) auch aus humanistisch-aufklärerischer Perspektive weiterhin als wichtiges Verfassungsgut zu schützen (zumindest sofern sie sich bezüglich ihrer weltlichen Konsequenzen im Verfassungsrahmen bewegt). Die staatliche Förderung der Religionen jedoch sollte gegenüber der heute üblichen Praxis deutlich zurückgenommen werden. Es ist schlichtweg unzumutbar, dass die Großkirchen (neben der Kirchensteuer) immer noch Jahr für Jahr öffentliche Subventionen in zweistelliger Milliardenhöhe kassieren, was u.a. zur Folge hat, dass Kirchenfürsten wie der Kölner Kardinal Meisner, der mit seinen Hasstiraden gegen die Selbstbestimmungsrechte der Menschen die Arbeitsgrundlage der Verfassung angreift, ihr Monatsgehalt von rund 11 000 Euro aus dem allgemeinen Steuertopf (finanziert also auch von Konfessionslosen und Andersgläubigen) erhalten.

Die unzureichende Trennung von Staat und Kirche in Deutschland muss forciert werden. Dies wäre keineswegs nur Ausdruck der geforderten weltanschaulichen Neutralität, sondern vielmehr auch der weltanschaulichen Positionierung des modernen Rechtsstaats, dessen Profil aus der Orientierung an den säkularen Idealen von Humanismus und Aufklärung erwächst.

Der Staat sollte deshalb auch ein Interesse daran haben, diese Ideale bewusst zu fördern, was u.a. mit den folgenden Konsequenzen verbunden sein sollte: der Umwandlung der staatlich finanzierten, aber kirchlicher Kontrolle unterworfenen Theologischen Fakultäten in gut ausgestattete freie Religionswissenschaftlich-Philosophische Institute; der Einführung eines integrativen philosophisch-religionswissenschaftlichen Werteunterrichts für alle Schüler in allen Bundesländern anstelle des konfessionell gebundenen Religionsunterrichts (hierzu wäre allerdings eine Verfassungsänderung notwendig); der Besetzung von Rundfunk-, Ethikräten etc. mit Experten, die sich tatsächlich der Leitkultur von Humanismus und Aufklärung verpflichtet fühlen, anstatt irgendwelche weltanschaulich-religiöse Partikularinteressen zu bedienen; der Aufhebung des Tendenzschutzes religiöser Betriebe (es ist nicht hinzunehmen, dass Menschen, die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich nach einer Scheidung wiederzuverheiraten, deshalb ihre Arbeitsstelle verlieren können); der entschiedenen Förderung säkularer Träger im Sozial- und Gesundheitssektor (dass ein Großteil der Menschen in Notsituationen ausgerechnet auf die Hilfe religiöser Institutionen angewiesen ist, stellt einen bislang kaum ausreichend thematisierten sozialpolitischen Skandal dar). (4)

Selbstverständlich: Derartige Reformen lassen sich in einer Demokratie nur durchsetzen, wenn sich die Bevölkerungsmehrheit dafür gewinnen lässt. Glücklicherweise jedoch waren die Bedingungen hierfür nie so günstig wie heute. Da die entscheidenden Fakten in diesem Zusammenhang bislang sowohl von der Politik als auch von den Medien sträflich ignoriert wurden, mag es interessant sein, einige dieser verdrängten empirischen Erkenntnisse hier kurz anzuführen. Die Gruppe der Konfessionslosen ist mittlerweile (Stand 2003, Tendenz steigend) die größte gesellschaftliche Gruppierung in Deutschland mit einem Bevölkerungsanteil von 31,8 Prozent, gefolgt von den Katholiken und Protestanten mit jeweils 31,3 Prozent. (5)

Grundlegende Konzepte des Christentums spielen selbst für Kirchenmitglieder keine Rolle mehr. Nach einer repräsentativen Studie von Allbus (2002) glauben in Deutschland nur noch 35,5 Prozent der katholischen und 23,3 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an einen persönlichen Gott (immerhin eine der Grundbedingungen dafür, um sich überhaupt redlicherweise als Christ bezeichnen zu können). Auf die Gesamtbevölkerung bezogen ist der Glaube an einen persönlichen Gott auf 31 Prozent zurückgefallen (hiervon sind 6,9 Prozent Angehörige nichtchristlicher Religionen). In der gleichen Studie gaben nicht nur 86,9 Prozent der Konfessionslosen, sondern interessanterweise auch 47,9 der Protestanten und 29,6 der Katholiken an, sie würden der Aussage »Meine Weltanschauung folgt keiner religiösen Lehre« voll oder eher zustimmen.

Insgesamt wird die Bedeutung der Religion sowie religiöser Institutionen weit skeptischer eingeschätzt als je zuvor. Nach einer Umfrage des Emnid-Instituts von 2005 gehen nur noch 37 Prozent der Deutschen davon aus, dass Religion notwendig sei, um unterscheiden zu können, was richtig und was falsch ist. 61 Prozent der Deutschen geben laut der Studie zudem an, Kirchen oder religiöse Gemeinschaften könnten nicht über Glaubensinhalte entscheiden. Für diese Aussage gab es absolute Mehrheiten in allen befragten Gruppen – bei Gläubigen wie Nichtgläubigen, Menschen in Ost und West, Männern und Frauen ebenso wie Protestanten und Katholiken.

Prozess der Entchristlichung

Führt man sich vor Augen, wie rasant der Prozess der Entchristlichung vonstatten gegangen ist (1970 gab es hierzulande nur 3,9 Prozent Konfessionslose, 1987 waren es 11,4 Prozent, 1990 – nach dem Anschluss Ostdeutschlands – 22,4 Prozent, 2003 31,8 Prozent), so ist es, sofern sich dieser Trend fortsetzt, nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Großkirchen nach dem Verlust ihrer weltanschaulichen Prägekraft auch die Majorität bezüglich der Mitgliedszahlen verlieren (etwa 2020 dürften die Konfessionslosen die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland stellen). Dieser Prozess ist umso beachtlicher, als dass in den öffentlichen Medien hemmungslos Religionspropaganda gemacht wird (häufig auch unter redaktioneller Federführung der Kirchen), während religionskritische Ansichten immer noch weitgehend verdrängt werden. Man muss davon ausgehen, dass die Lage der Großkirchen wahrscheinlich noch verheerender aussehen würde, wenn den Vertretern einer humanistischen Aufklärung auch nur annähernd die gleichen Fernsehsenderechte eingeräumt würden wie den Großkirchen.

Evolutionäre Humanisten sind ausgehend von diesen sozialwissenschaftlichen Daten überzeugt, dass es gelingen könnte, die in der Verfasstheit des modernen Rechtsstaats bereits enthaltene Leitkultur Humanismus und Aufklärung noch stärker in der Gesellschaft zu verankern. Zusätzlich bestärkt sie das Wissen, dass für die gesellschaftliche Durchsetzung von Humanismus und Aufklärung nicht nur die besseren theoretischen Argumente sprechen, sondern auch die praktische Tatsache, dass diese Leitkultur effektiver als jede Alternative (inklusive der »Leitkultur der Leitkulturlosigkeit«) in der Lage ist, die unterschiedlichen eigennützigen Interessen der Individuen zu berücksichtigen. Schließlich setzt der Humanismus an den realen sinnlichen Bedürfnissen der Menschen an (und nicht an übersinnlich herbeigeträumten Moralkorsetts), wodurch er dem Individuum größtmögliche Freiheit geben kann, seine subjektiven Vorstellungen »von gutem Leben« in die Tat umzusetzen.

»Jeder Jeck ist anders!« heißt es im (kölschen) Volksmund. Daran will der aufklärerische Humanismus gewiss nichts ändern. Im Gegenteil, er erkennt gerade in der Unterschiedlichkeit der Menschen, in ihren verschiedenen Talenten, Neigungen, Wünschen, Lebensstilen eine wertvolle Ressource für das gesellschaftliche Zusammenleben. Vielfalt bereichert – allerdings gilt dies nur, wenn sich diese Vielfalt in einem humanen Rahmen bewegt. Deshalb bedeutet das Plädoyer für eine humanistisch-aufklärerische Leitkultur vor allem eines: die Verständigung auf einen gesellschaftlichen Minimalkonsens. Eine wie auch immer geartete Gleichschaltung der Gesellschaft auf bestimmte Moral- oder Ästhetikstandards liegt dem evolutionären Humanismus fern. Er überlässt den Menschen die volle Souveränität über die Entwicklung und Gestaltung ihrer eigenen Lebensentwürfe. Sein Augenmerk liegt allein darauf, dass die Spielregeln, die dem gesellschaftlichen Miteinander zugrunde liegen, für alle Betroffenen fair sind und dass sie sich der Erfordernis einer rationalen Überprüfung (und gegebenenfalls Veränderung) nicht entziehen.

Eben deshalb bekämpfen evolutionäre Humanisten ganz entschieden die von vielen religiösen Gruppen benutzte Strategie der »Kritikimmunisierung« (Hans Albert): Dass sich bestimmte Personen oder Personengruppen durch das Aufstellen »heiliger« (d.h. unantastbarer) Spielregeln jeglichem kritischen Zugriff entziehen und dadurch eigene Denkfehler als verbindlich in die Zukunft fortschreiben, kann und darf in einer modernen Gesellschaft keine akzeptable Praxis mehr sein! (6)

Wer für die Leitkultur Humanismus und Aufklärung eintritt, beschreitet einen Weg jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit. Diese Leitkultur vermittelt (im Unterschied zum Paradigma der postmodernen Beliebigkeit) einerseits genügend Orientierung, um den Menschen in ihrer Suche nach Sinn Halt zu geben und ihr Zusammenleben nach vernünftigen Regeln zu gestalten, andererseits ist sie aber (im Unterschied zum religiösen oder politisch-ideologischen Dogmatismus) gleichzeitig offen genug, um die Menschen in ihrer Souveränität nicht unzulässig einzuschränken. Humanismus und Aufklärung zielen also keineswegs auf eine »triste Monokultur« ab, sondern vielmehr auf die Entwicklung einer lebendigen, einheitlich humanen und doch vielfältigen Weltkultur, in der sich viele verschiedene Lebensentwürfe realisieren lassen, strukturell jedoch verhindert wird, dass das Glück der Einen (allzu sehr) auf dem Unglück der Anderen gründet.

Anmerkungen

(1) Siehe u.a. Neumann, Johannes: Staat-Kirche-Streitfragen. In: humanismus aktuell 6/2000; Czermak, Gerhard: Staat und Weltanschauung. Eine Auswahlbibliographie. Aschaffenburg 1993; Frerk, Carsten: Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland. Aschaffenburg 2002; Frerk, Carsten: Diakonie und Caritas. Aschaffenburg 2005.

(2) Vgl. Necla Kelek, Die fremde Braut. Köln 2005.

(3) Czermak, Gerhard: Ethische Fragen und die Ideologie des Grundgesetzes. Manuskript, S. 1, www.schulfach-ethik.de (2004).

(4) Weitere konkrete politische Forderungen finden sich im »Politischen Leitfaden« des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), siehe: www.ibka.org.

(5) Siehe Datenarchiv der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland, www.fowid.de.

(6) Vgl. Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1991.

Redaktionell bearbeiteter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Alibri, Aschaffenburg 2005, 160 S., 10 Euro