Die Beatles hassen? Yeah!

Helmut Salzinger war der Diedrich Diederichsen der siebziger Jahre. Über einen Musikkritiker mit erweitertem Geschäftsbereich. von felix klopotek

Wenn man Popmusik kritisieren will, dann sollte man unterscheiden zwischen denen, die Popmusik machen, denen, die Popmusik hören, denen, die Popmusik nur hören, denen, die Popmusik nur kritisieren, und Popmusik«, schreibt ein Hans Rainer irgendwann Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in einer Musikzeitung namens Sound Track. Eigentlich ist es mit der Kritik eine einfache Sache: Sie hat sich ihren Gegenstand vorzunehmen und ihn in seine Dimensionen zu zergliedern, um hinterher ein reicheres, vollständigeres, genaueres Bild von ihm zu liefern.

Aber so einfach war die Sache, zumal die Sache mit der Popmusik, schon vor 35 Jahren nicht. Die Bemerkung Hans Rainers entstammt einem Text, der im Gewande einer naiven Pop-Apologie großen Verdruss zum Ausdruck bringt: »Neuerdings haben die Intellektuellen, die sonst meist den Kapitalismus kritisieren, angefangen, an der Popmusik herumzumäkeln«, schreibt Hans Rainer. »Sie haben gemerkt, dass Popmusik etwas mit Kapitalismus zu tun hat. Weil sie zuerst geglaubt hatten, Popmusik hätte nichts mit Kapitalismus zu tun, kritisieren sie jetzt, nachdem sie gemerkt haben, dass Popmusik etwas mit Kapitalismus zu tun hat, Popmusik. Aber sie meinen immer noch den Kapitalismus.« Die Kritik verfehlt systematisch ihren Gegenstand, weil sie den Anfang mit einer bestimmten Projektion macht. Diese Projektion kann enttäuscht werden oder sich bestätigt wähnen, mit dem Gegenstand selbst hat sie nichts zu tun.

Der Text Hans Rainers hat nach seiner offensichtlich entlegenen Veröffentlichung Eingang gefunden in einen größeren Zusammenhang: Helmut Salzinger, der frühe Theoretiker subversiver und dissidenter Popstrategien, montierte ihn als Element in seine große Collage »Rock Power«.

Es ist ein wunderbares Dokument eines geglückten Versuches, das Denken zu entrümpeln, gerade in dem Fall, wo es um den schillernden, ebenso brutal einfachen wie verflixt komplexen Gegenstand der Popkultur geht. »Rock Power«, Untertitel: »Wie musikalisch ist die Revolution?« erschien erstmals 1972. Das Buch ist ein enorm schwindelig machendes Gebräu, gegoren aus Tausenden von nicht gekennzeichneten Zitaten: Songtexten, Plattenrezensionen, Ausschnitten aus zeitgenössischen Reportagen, Interviews mit Rockstars, Samples von Marx, Marcuse, Walter Benjamin oder dem Black-Power-Literaten Amiri Baraka.

Sie werden zu einem Zweck montiert: Wer sich auf seine Magie, seine subtilen Botschaften, das Schillern der Zwischentöne einlässt, der entdeckt, dass Rock (weniger als Musik, denn als eine Art metaphysische Substanz) einer grundsätzlicheren Oppositionshaltung entspricht als alle Texte der studentischen Linken. Die unterstellen dem Rock, dass er letztlich doch nur dem System dient, weil er für die entfremdeten Massen lediglich eine Ventilfunktion bietet. Salzinger bestreitet das nicht. Aber er will vielmehr zeigen, dass Rock durch alle Verdinglichung hindurch auf eine Wahrheit zielt, die auch die tanzenden, ekstatischen Körper verstehen.

Der von ihm entführte Text Hans Rainers dient da der Selbstrelativierung, denn Salzinger ist natürlich einer jener Intellektuellen, die in erster Linie den Kapitalismus kritisieren wollen, auch wenn sie über Pop schreiben.

Helmut Salzinger? Kennt man den noch? Wenn man am Tresen gefragt wird, wer das sei, den man da so enthusiastisch feiere, dann hilft die schnelle Antwort: Salzinger war der Diederichsen der siebziger Jahre. Freilich eine Unverschämtheit, es müsste ja umgekehrt lauten: Diedrich Diederichsen ist der Salzinger der Achtziger und Neunziger. Salzinger hätte dieses Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert, wäre er nicht am 3. Dezember 1993 an einer Herzattacke gestorben. Er kam gar nicht aus der Subkultur, er war promovierter Germanist, ein Jazz-Purist, wie Hadayatullah Hübsch in seinem Nachruf schrieb, der 1966 als freier Autor für die Zeit, den Spiegel und die Frankfurter Rundschau begann. Wenig später landete er, bereits den Rolling Stones verfallen, bei konkret und schrieb dort 1968 einen Text über die »Scheiß-Beatles«.

Die ätzende Kritik an der Band ist, aus damaliger Sicht, genial. Gefeiert wird von ihm zunächst das Desinteresse der Beatles an Politik: »Es war gerade das Wichtigste an den Beatles, dass sie unpo­litisch waren. Im Rahmen der englischen Klassenstruktur bedeuteten die Mods eine wirkliche Revolte gegen die Elterngeneration. Für die Abköm­mlinge des Slums war es damals noch ungeheuer revolutionär, durch bloßes Klimpern auf der Gitarre Millionen zu machen, denn die speziellen Auslesetests des Systems verwehrten ihnen von vornherein jeden Zugang zu irgendeiner anderen Karriere mit höherer Schulbildung.« (Wer sich jetzt zurücklehnt und sagt: Ist doch alles bekannt!, ignoriert schlicht, dass dieser Zugriff auf populäre Kultur in Deutschland durch Salzinger erstmals praktiziert wurde.)

In dem Moment aber, in dem die Beatles sich explizit politisch äußern, man denke an den legendären Song »Revolution«, kippt es: Sie entpuppen sich als angepasste Klugscheißer. »You say you’ll change the constitution/ Well you know/ we all want to change your head/ You tell me it’s the institution/ Well you know/ You better free your mind instead.« Die Beatles hassen? Salzinger konnte das.

Wie hätte sich die letzte Popdebatte, die Berliner Provinzposse um Ulf Poschardts FDP-Begeisterung, aus der Sicht Salzingers dargestellt? Vermutlich ganz einfach: Thema verfehlt. Ob Popkultur politisch ist bzw. in welche politische Richtung sie sich entwickeln muss; ob sie eher ein Feld für lin­ke Realpolitik ist oder ob sie der Wucht des so genannten Neoliberalismus nichts entgegenzusetzen hat – das alles hätte ihn kaum interessiert, weil es an den je besonderen Gegenständen (den aktuellen Platten, den neuen Bands, ihren Konzerten, ihrem Publikum) vorbeizielt. Die Radikalisierung des Pop-Kritikers Salzinger leitet sich ganz aus der vorurteilsfreien, bis an die Schmerz­grenzen des Pedantischen und Peinlichen gehenden Analyse ab.

Salzinger, der 1973 ein wunderbares Buch über Walter Benjamin schrieb, »Swinging Benjamin«, und noch Kolumnist bei Sounds wurde, zog sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre immer mehr in die norddeutsche Natur zurück. Er schrieb Naturgedichte, muss wohl zu einem spätsurrealistischen Landschaftsgärtner geworden sein. Auf Musik kam er nur noch sporadisch zu sprechen.

»Rock Power« kursiert nur noch antiquarisch. »Swinging Benjamin«, Salzingers literarische Schriften sowie kleinere Texte über Musik sind erhältlich beim Peter Engstler Verlag.