»Ich erwarte nichts von anderen Staaten«

Eren Keskin

Allenthalben wird der Türkei bescheinigt, dass sich die Lage der Menschen­rechte im Land verbessert habe. Die­ser Wahrnehmung stehen andere Meldungen gegenüber: So wurde in der vorigen Woche bekannt, dass fünf Journalisten wegen »Verunglimpfung der Justiz« angeklagt werden sollen, weil sie das Verbot einer Armenier-Konferenz kritisiert hatten; in dieser Woche beginnt der Prozess gegen Orhan Pamuk wegen »Verunglimpfung des Türkentums«. Wie steht es am Bosporus um die Menschenrechte wirklich?

Die Rechtsanwältin Eren Keskin ist stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD und leitet dessen Istanbuler Büro. Mit ihr sprach Petra Tabeling.

Mit Blick auf die angestrebte Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat die Türkei in der jüngeren Vergangenheit die Todesstrafe abgeschafft und verstärkte Maßnahmen gegen Folter beschlossen. Wie ist es inzwischen um die Menschenrechte bestellt?

Das geschriebene Gesetz und die Realität sind zweierlei Sachen. Die Folter ist zwar verboten, aber sie existiert trotzdem. Die Todesstrafe ist abgeschafft, dennoch werden auf der Straße Menschen von Sicherheitskräften umgebracht.

Seit Jahren verteidige ich Frauen, die in der Haft oder im Polizeigewahrsam sexuelle Misshandlungen und Vergewaltigungen erleiden mussten. Seit geraumer Zeit beobachten wir, dass Misshandlungen, sexuelle oder andere, in einer Weise ausübt werden, dass keine oder kaum sichtbare Spuren bleiben. Manche alte Foltermethode wird nach wie vor angewandt. So kommt es häufig vor, dass jemand in ein Auto gezerrt und mit verbundenen Augen verschleppt wird, um dann miss­handelt oder bedroht zu werden. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen, alles läuft inoffiziell, weshalb die betroffene Person später nichts beweisen kann.

Die türkische Regierung hat bereits einige Zugeständnisse zu den kulturellen Rechten der Kurden gemacht. Wie bewerten Sie diese?

Das ist eine sehr schwere Frage. Im Sommer räumte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ein, dass es ein »Kurdenproblem« gebe. Am nächsten Tag widersprach der Chef des Generalstabs: Es existiere kein Kurdenproblem, sondern lediglich ein »Terrorismusproblem«, ließ er wissen. Damit fängt alles an, und damit hört alles auf: mit der Militarisierung der Türkei. Das Militär möchte auf keinen Fall sein Feindbild aufgeben. Erst wenn sich an dieser Voraussetzung etwas ändert, können Probleme gelöst werden.

Erfüllt die Türkei Ihrer Meinung nach die Kriterien für eine Aufnahme in die EU?

Nein. Dabei wäre es für die Türkei natürlich wichtig, in die europäische Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden, weil in Europa ältere und gefestigte demokratische Traditionen bestehen. Aber dazu muss ich bemerken, dass auch in Europa genug Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Ich glaube auch nicht, dass man die Türkei jemals in die EU aufnehmen wird. Das hat verschiedene Ursachen, das liegt nicht nur an den Menschenrechtsverletzungen, die in der Türkei an der Tagesordnung sind.

Sondern?

Wir wissen doch alle, wie die europäischen Länder zur Einwanderungspolitik stehen und wie sich diese Politik nach dem 11. September 2001 geändert hat. In Europa erachtet man es als potenzielle Gefahr, dass in der Folge eines türkischen EU-Beitritts viele Muslime einwandern könnten.

Unabhängig davon ist die Türkei noch nicht reif für die EU. Eben auch deshalb, weil das Militär zu viel Macht innehat. Das türkische Militär ist nicht nur eine bewaffnete Macht, sondern auch eine industrielle. Ihm unterstehen insgesamt 38 verschiedene Betriebe, Banken, Versicherungen, Hotels, Fabriken. Dass eine solche Konzentration von Macht gefährlich ist, liegt auf der Hand. In der Türkei sind es nicht die Regierung oder die Parteien, die die politischen Entscheidungen treffen. Alle Macht geht von der Armee aus, die enormen Druck und Einfluss auf die politischen Parteien ausübt.

Wie beurteilen Sie die in den vergangenen Monaten einmal mehr entflammte Kopftuchdebatte in der Türkei?

Das ist eine jener Fragen, die letztlich vom Militär entschieden werden. In der Türkei leben wir einen falschen Laizismus. Diese Regierung wurde auch aus dem Grund gewählt, weil man von ihr erwartete, dass sie das Kopftuchverbot aufheben werde. Dies war auch das Ziel der AKP, doch sie ist am Widerstand der Armee gescheitert, zu deren Feindbildern auch der islamische Glauben gehört.

Wenn Sie mich persönlich fragen, heiße ich es weder gut, wenn eine Frau dazu gezwungen wird, ein Kopftuch zu tragen, noch heiße ich es gut, wenn man sie dazu zwingt, es abzulegen.

Es gibt einen Dialog zwischen Vertretern der Regierung und des Menschenrechtsvereins. Was bringen diese Gespräche?

Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen und wir sprechen miteinander, aber zumeist bleibt es bei leeren Worten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das wirkliche Problem das Militär ist. Ungleich fruchtbarer sind unsere Gespräche auf der internationalen Ebene. Internationale Organisationen und Institutionen beziehen ihre Informationen zu einem guten Teil von uns.

Sie haben bereits in den achtziger Jahren angefangen, sich in der linken Bewegung zu engagieren. Was hat sie dazu bewegt?

Im Alter von 16 oder 17 Jahren habe ich damit begonnen, mich aktiv am politischen Leben zu beteiligen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass auch in den alternativen Parteien die Männer vorherrschen und dieselben Machtverhältnisse existieren wie in den anderen Parteien. Im Jahr 1986 wurde der Menschenrechtsverein gegründet, dem ich bald darauf beigetreten bin. Seit 1998 bin ich Vorsitzende der Istanbuler Sektion. Und ich muss sagen, dass es im IHD weniger Machtspielchen gibt als anderswo.

Was hat der IHD seit seiner Gründung erreichen können?

Wir haben zunächst einmal in der ganzen Welt publik gemacht, dass in der Türkei kritisches Denken nicht erwünscht ist, dass die Kurden in Ost- und Südostanatolien einer großen Unterdrückung augesetzt sind und dass es ein Problem der Militarisierung in der Türkei gibt. Von Anfang an gehörte es zu unseren Zielen, dass diese Dinge bekannt werden und über sie diskutiert wird.

Im vergangenen Jahr haben Sie den Aachener Friedenspreis erhalten, im September wurden Sie in Esslingen mit dem »Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit« geehrt. Wie wichtig ist die deutsche Öffentlichkeit für Sie?

Zu Menschenrechtsorganisationen in Deutschland haben wir viel stärkere Bindungen als zu Organisationen in den meisten übrigen Ländern. Dies liegt wohl einfach daran, dass hier sehr viele türkisch- und kurdischstämmige Menschen leben. Andererseits hat die deutsche Regierung jüngst auf Verlangen der Türkei die kurdische Tageszeitung Özgür Politika verboten. Nur eines von vielen Beispielen, die mich dazu veranlassen, nichts von anderen Staaten zu erwarten.

Wie gefährlich ist es für Sie, über diese Dinge öffentlich zu reden? Sie wurden mehrere Male inhaftiert, immer wieder erhalten Sie Todesdrohungen.

Ich rede in der Türkei über die Dinge, über die ich in Deutschland rede. Dass ich immer noch Morddrohungen erhalte – schriftlich, per Email, telefonisch –, muss ich in Kauf nehmen. Wir alle haben gelernt, damit zu leben. Und wir haben mittlerweile einen gewissen Galgenhumor entwickelt. Man lernt, mit dieser Gefahr zu leben, so einfach ist das.