Piraten an der Pipeline

Ein Jahr nach der »orangenen Revolution« ist die neue Führung gespalten. Viele Ukrainer sind enttäuscht, und der Druck aus Russland wächst. von franziska bruder

Wir leben nicht im Dschungel, sondern in der zivilisierten Welt«, empörte sich Alexander Medwedew, der Vizedirektor des russischen Energiekonzerns Gazprom. Es sei »Erpressung« und das »Verhalten von Piraten«, wenn die ukrainische Regierung drohe, 15 Prozent des in Pipelines durch das Land transportierten Erdgases zu entnehmen, ohne den von Gazprom geforderten fünffachen Preis zu zahlen.

»Das ist unser unbestrittenes Recht«, sagte dagegen der ukrainische Premierminister Jurij Jechanurov. Der sehr niedrige Preis war zwischen der ukra­inischen Naftohaz und der Gazprom 2004 mit einer vertraglichen Laufzeit bis 2009 festgelegt worden. Gazprom droht nun, im Januar 2006 die Gaslieferung einzustellen. Da zentrale Pipelines durch die Ukraine in den Westen führen, könnte der Konzern bei einem vollständigen Lieferstopp seinen Verpflich­tungen gegenüber Deutschland und Frankreich nicht mehr nachkommen. Andererseits benötigt die Ukraine mehr Gas, als sie von den transportierten Mengen abzweigen kann, damit die Bevölkerung im Winter nicht frieren muss und die Wirtschaft nicht kollabiert. Der Minister für Industriepolitik, Volodymyr Schandra, geht davon aus, dass die Industrie, die mit veralteter Technik arbeitet, ihren Erdgasverbrauch um 67 Prozent reduzieren könne. Zur Modernisierung jedoch fehle das Geld.

Gazprom bezeichnet die Preiserhöhung als Anpassung an die Marktbedingungen, und der russische Außenminister Sergej Lawrow betont, es handle sich um eine »rein ökonomische« Frage. Doch nicht nur die ukrainische Regierung glaubt an politische Hintergründe: Vor den für März geplanten Wahlen sollen die prowestlichen Kräfte in der Ukraine geschwächt werden.

Der Konflikt mit Russland ist nur eines der Probleme, denen die neue politische Führung gegen­übersteht. Massenproteste gegen die Manipulation der Präsidentschaftswahlen hatten Ende 2004 Neuwahlen erzwungen, die Viktor Juschtschenko gewann. Doch ein Jahr nach dieser »orangenen Re­volution« sind viele Ukrainer enttäuscht von den Ergebnissen.

Die neue Regierung hatte Initiativen gegen die weitreichende Korruption und soziale Maßnahmen sowie eine Erhöhung der Renten gestartet. Doch insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gab es im »orangenen Lager« von Anfang an Meinungsverschiedenheiten. Sie betrafen vor allem Fra­gen der Wiederverstaatlichung großer Betriebe, bei denen der begründete Verdacht bestand, dass bei ihrer Privatisierung Korruption im Spiel war. Insbesondere westliche Investoren fürchteten, dass es in der Ukraine generell in Eigentumsfragen keine Rechtssicherheit gebe.

Auch die außenpolitischen Initiativen der neuen Regierung zeigten keine schnellen Erfolge. Jusch­t­schen­ko verfolgt einen ausgeprägt westorientierten Kurs. Ein zentraler Punkt war hier die Frage beider­seitiger Visaerleichterungen mit der EU. Im April hob die ukrainische Regierung die Visapflicht unter anderem für EU-Bürgerinnen zunächst befristet und im September unbefristet auf. Bislang erhielt sie jedoch keinerlei Gegenleistungen, nicht einmal Einreiseerleichterungen für gewisse Personengruppen wurden gewährt. Der angestrebte Beitritt zur WTO wurde im Dezember 2005 ver­schoben. Immerhin teilte die Nato Mitte Dezember mit, man sei an der Ukraine stark interessiert und würde sie wohl beim Nato-Gipfel 2008 zum Beitritt einladen.

Innenpolitisch sorgte insbesondere für Unzufriedenheit, dass 2005 die Lebenshaltungskosten immens stiegen. Allein im November stiegen die Preise für Kartoffeln um 28, für Gemüse um 19 und für Obst um acht Prozent. Ins­gesamt erhöhten sich die Preise für Lebensmittel von Januar bis November 2005 um fast zehn Prozent. Im öffent­lichen Nah- und Fernverkehr kletter­ten die Preise um fast 24 Prozent und bei der Hochschulbildung um 17 Prozent. Die Hoffnung auf soziale Verbesserungen hat sich für die meisten Ukrainer nicht erfüllt.

Im September fiel das Bündnis der »orangenen Revolution« auseinander. Juschtschenko entließ die Regierung, und gegen einzelne Mitglieder wurde wegen Korruption ermittelt. Für eine Bewegung, die mit Fragen politischer Moral Propaganda betrieben hatte, war das eine Bankrotterklärung.

Bei den Parlamentswahlen am 26. März 2006 wird sich herausstellen, ob trotz der starken Enttäuschung in der ukrainischen Gesellschaft Juschtschenko mit einem wie auch immer gearteten Bündnis seinen bisherigen Kurs fortsetzen kann. Von seinem alten Gegenspieler und Gegner bei den Präsidentschaftswahlen 2004, dem Vorsitzenden der Partei der Regionen, Viktor Janukovytsch, unterscheidet ihn insbesondere die ausgeprägte Westorientierung. Entsprechend stark bemühen sich derzeit beide Seiten, die Notwendigkeit und die Bedeutung einer stär­ker an Russland oder an der EU ausgerichteten Politik klarzustellen. Der neue Premierminister Jurij Jechanurov wirbt mit einem »gemäßigten Programm« intensiv um die verschreckten westlichen Investoren. Ihnen wurde zugesichert, dass die zu Beginn des Jahres abgeschafften Privilegien in so genannten Sonderwirtschaftszonen und Territorien prio­ritärer Entwicklung wie Mehrwertsteuer- und Zollfreiheit wieder eingeführt werden.

Deutsche Firmen und Banken haben in der Ukraine investiert. Mitte Dezember empfing Juschtschenko Peter Tils, den Vertreter der Deutschen Bank AG, mit dem er Fra­gen der Zusammenarbeit im Finanzbereich besprach. Schwerpunktprojekte der Deutschen Bank sind Wohnungsbau und Landwirtschaft. Sie investiert aber auch in Naftohaz Ukrajiny und die Ukrainische Telekommunikationsgesellschaft Ukrtelekom. Große metallurgische Betriebe wie Zaporizhstal sind dabei, milliardenschwere Projekte mit deutschen Firmen wie der Siemens AG-VAI zu starten.

Außenpolitisch wird dies mit Initiativen wie der Gründung der von Juschtschenko mit dem georgischen Präsidenten ins Leben gerufenen »Gemeinschaft der demokratischen Wahl« flankiert. Neun Regierungschefs und hochrangige Vertreter der OSZE sowie von NGO trafen sich Mitte Dezember in Kiew. Beteiligt sind auch die baltischen Staaten, Moldawien und Polen. Dieses Bündnis soll eine neue Zusammenarbeit zwischen »Europa, Mittelasien und dem Fernen Osten« in die Wege leiten.

Die Zusammenarbeit soll die einzelnen Staaten gegen russische Einflussnahme stärken. Der ukrainische Außenminister Borys Tarasiuk erklärte, dass sich die Ukraine überlege, aus der GUS auszutreten.

In der Auseinandersetzung mit Russland stehen auch der ukrainischen Regierung Druck­mittel zur Verfügung. Sie droht nun, die Ge­büh­ren für die im russischen Stützpunkt Sevastopol auf der Krim verankerte Schwarzmeerflotte zu erhöhen und keinen Zugang mehr zu den Radarbasen auf der Krim und in Mukatschevo na­he der ungarischen Grenze zu gewähren, mit denen Russland den Luftraum in Südeuropa überwacht. In Kiew, Charkiv, L’viv, Ivano-Frankivs’k und anderen Städten fanden bereits mehrere Protestaktionen vor russischen Vertretungen statt. Der Wahlkampf ist bereits im Gange.