»Wir hätten gerne das perfekte Wissen«

Jimmy Wales

Millionen Menschen in aller Welt nutzen die Internetenzyklopädie Wikipedia. Seit die englischsprachige Ver­sion im Januar 2001 online ging, hat Wikipedia rund 3,7 Millionen Artikel in etwa 130 Sprachen und Dialekten veröffentlicht, die zwei Milliarden Mal im Monat angeklickt werden. Dies alles wäre nicht möglich gewesen ohne den ehemaligen Börsenmakler und Internetunternehmer Jimmy Wales, der ein kleines Vermögen in seine Idee investiert hat, eine frei zugängliche und nicht kommerzielle Enzyklopädie zu schaffen.

Mit dem Gründer von Wikipedia und heutigen Leiter der Wikimedia-Stiftung sprach Daniel Kulla.

Es war immer ein Traum der Hacker, das Wissen der Welt auf Knopfdruck für jeden kostenlos verfügbar zu machen. Wie nah ist Wikipedia dem gekommen?

Wir haben schon viel Wissen angehäuft, das kostenlos zugänglich ist. Aber es gibt noch viel zu tun, es muss weiter ausgebaut werden, und die Qualität muss verbessert werden. Das ist eine endlose Aufgabe, weil mensch­liches Wissen sich beständig ändert und erweitert.

Wo sind die Schwachstellen?

Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. In technischen und naturwissenschaftlichen Dingen sind wir viel stärker. Das liegt wohl daran, dass Menschen, die im technischen Bereich arbeiten, oft vertrauter mit dem Internet sind. Obwohl in englisch- oder deutschsprachigen Ländern praktisch jeder, der etwas zu Wikipedia beitragen will, dies auch tun kann, tun sich viele Geisteswissenschaftler, Literaten oder Dichter damit schwer. Allerdings ändert sich das allmählich.

Also müsste der Zugang erleichtert werden, um auch technisch weniger versierte Menschen einzuladen?

Um einen Wikipedia-Artikel zu bearbeiten, muss man auf das entsprechende Feld klicken. Dann erscheint ein Bearbeitungsfenster. Darin kann man zwar leicht den Text än­dern, aber hinzu kommen die ganzen kleinen Codes, mit denen man den Text formatieren muss. Deshalb arbeiten wir an etwas, das wir »Wykiwyg« nennen. Damit wollen wir unbedarften Nutzern ein Eingabefenster zur Verfügung stellen, das der herkömmlichen Textverarbeitung ähnelt. Während des Bearbeitens sieht der Text bereits so aus, wie er später auf Wikipedia veröffentlicht wird.

Was ist mit den Wissenskriterien, die in der Technik eindeutiger sind als bei einem philo­sophischen Problem? Besteht nicht die Gefahr, dass nur als richtig gilt, was die meisten Menschen für richtig halten?

Das gilt natürlich für alle Arten von Wissen. Doch im Allgemeinen scheint die Idee, dass vernünftige Menschen zusammen an einem Konsens arbeiten, erstaun­lich gut zu funktionieren. Im Grunde arbeiten wir auf eine sehr altmodische Weise. Einen guten Artikel zu schreiben, bleibt eine Sache von Querverweisen und Ausgewogenheit. Wir haben keine neue Philosophie der Vorurteilsfreiheit entwickelt. Wir hätten gerne das perfekte Wissen, auf das sich alle einigen können, aber als Menschen können wir uns dem nur annähern.

Die Selbstdarstellung der inneren Struktur der Wikipedia ist verwirrend. Dort ist die Rede von einer Mischung aus fünf »Herrschaftsformen«. Wie ist das zu verstehen?

Wenn Sie es herausbekommen sollten, können Sie es mir vielleicht erklären.

Wer entscheidet in letzter Instanz, was bei Wikipedia veröffentlicht wird? Sie wollen diese Instanz nicht mehr sein.

In der Welt der freien Software oder auch in freiwilligen Bauprojekten gibt es die Tra­dition einer »gutmütigen Diktatur«. Da­für ist Wikipedia jedoch längst zu groß. Keine Person kann als »gutmütiger Diktator« alles menschliche Wissen kontrollieren.

Meine Rolle besteht eher darin, bei Streit­fällen zu vermitteln. Ich versuche, beiden Seiten Gehör zu verschaffen und das Konzept der »Gutmütigkeit« auf alle Beteiligten auszuweiten. Geht es zum Beispiel darum, ob ein Artikel gelöscht werden soll, ist es nicht meine Aufgabe, das letztlich zu entscheiden, sondern eher am Entschei­dungsprozess mitzuwirken, damit möglichst viele verschiedene Leute die Entschei­dung nachvollziehen können. Wir wollen nicht zu lässig verfahren und lauter Quatschartikel veröffentlichen, wir wollen aber auch nicht zu streng sein und damit interessante Dinge ausschließen.

In Wikipedia finden sich zahlreiche Themen, die keine Enzyklopädie aufnehmen würde. Und Wikipedia informiert über aktuelle Themen und nicht abgeschlossene Diskussionen.

Ein altes Motto von uns lautet: »Wiki ist nicht Papier.« Das bedeutet, dass wir in Wikipedia Platz für Sachen haben, die aus einer gedruckten Enzy­klo­pä­die schon wegen der Druckkosten herausgehalten werden müssen. Diese Proble­me haben wir nicht mehr, unser Projekt hängt vielmehr davon ab, überprüfbare Informationen zu finden und sie für den Nutzer überprüfbar aufzubereiten.

Aber ein anderes wirtschaftliches Problem existiert doch weiterhin: Könnte die Zurückhaltung der Geisteswissenschaftler auch daran liegen, dass sie nicht unentgeltlich Beiträge verfassen möchten, weil sie eigentlich da­von leben, für ihre Texte bezahlt werden?

Ich weiß es nicht. Das gleiche Argument könnte auf jedes Wissensgebiet angewendet werden. Dennoch scheinen sich immer gute und interessierte Mitwirkende zu finden, auch wenn manche Angst haben.

Sie persönlich haben Ihr Geld an der Börse verdient und verdienen es jetzt mit dem Verkauf digitaler Bilder. Was ist jedoch mit denen, die bislang vom Schreiben leben?

Früher wurden Leute dafür bezahlt, Huf­­eisen an Pferdehufe zu schlagen. Technologische Änderungen sorgen für ver­änderte Arbeitsbedingungen. Doch Wis­sensarbeiter scheinen überhaupt nicht unter sinkenden Einkommen zu leiden, ganz im Gegenteil. Durch die Wertschätzung von Wissen und die besseren Werkzeuge für die Er­zeu­gung von Wissen ergeben sich viele Möglichkeiten dafür, dass Menschen von ihrem eigenen Wissen leben können.

Viele arbeitslose Akademiker schreiben und bearbeiten Wikipedia-Artikel, während diejenigen, die diese Informationen nutzen, dafür oft bezahlt werden. Aber es gibt keine Organisation von Klemp­nern, die ihre Dienstleistung umsonst anbieten.

Immerhin gibt es kostenlose Familien­essen und kostenlosen Gemeindesport. Enzyklopädische Artikel zu schreiben, hat auch bisher nicht so viele Menschen ernährt. Wissenschaftler in der Forschung schreiben keine Artikel für den Brockhaus, sondern forschen. Das alles erscheint mir eher nebensächlich.

Soll Wikipedia auch dazu dienen, weit verbreitete Vorstellungen, etwa Verschwörungstheorien, zu widerlegen?

Im weitesten philosophischen Sinn ging es uns darum, ein möglichst breites, neu­trales Hintergrundwissen anzubieten, um den Horizont der Menschen zu erweitern und klügeren Weltanschau­ungen auf den Weg zu helfen. Das gilt für viele Anschauungen, nicht nur für umstrittene Auffassungen von Minderheiten. Alle könnten mehr Basisinforma­tionen gebrauchen, um bessere Entschei­dungen treffen zu können.

Hat das Internet das Potenzial, ein Aufklärungswerkzeug und eine Entschwörungsmaschine zu sein und damit seinem Ruf zu widersprechen, Blödsinn in großen Mengen zu verbreiten?

Das wird sich zeigen. Mit Büchern verhält es sich ähnlich. Dass Bücher für wenig Geld zu haben sind, ist wichtig, dennoch gibt es viele schlechte Bücher. Es ist eine Frage der Nutzung. Daher streben wir für die Wikipedia eine viel breitere Beteiligung an und versuchen, die guten Leute zu gewinnen.