Ist es denn ein Wunder?

in die presse

Sechs Millionen Menschen pilgern jährlich zum südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes, zumeist, um ein wenig Wasser aus der heiligen Quelle zu trinken. Obwohl Wissenschaftler in diesem Wasser keine besonderen Bestandteile entdecken konnten, gilt es der katholischen Kirche als heilkräftig, weil dort 1858 der 14jährigen Bernadette Soubiros gleich mehrmals die Jungfrau Maria erschienen sein soll. Damit aber keiner denkt, man würde schummeln, müssen Wunderheilungen von den 20 Ärzten der Internationalen Medizinkommission von Lourdes (CMIL) geprüft werden. Für eine Anerkennung genügt die Zweidrittelmehrheit des Gremiums, das Wunder muss aber auch noch vom Vatikan offiziell bestätigt werden. So gab es seit den siebziger Jahren nur eine Wunderheilung.

Dem wollen einige Geistliche nun abhelfen. Am Donnerstag der vergangenen Woche schlugen Jacques Perrier, der Bischof des Wallfahrtsortes, und CMIL-Präsident François-Bernard Michel bei einer Pressekonferenz neue Regeln vor. Fortan soll die »Vorstellung eines verlässlichen Zeugen« eingeführt werden, denn schließlich müsse man »auch den Glauben und die Überzeugung« respektieren. Es sei »nicht richtig«, die vielen Menschen, die glauben, »von einem Akt der Gnade profitiert« zu haben, zum Schweigen zu mahnen.

Die Reformer bestreiten zwar, mit ihrer »subtileren Position« eine wundersame Vermehrung der Wunder herbeiführen zu wollen, doch selbst dem konservativen Figaro mangelt es an Glauben. Bei den Katholiken »kommt das Wunder wieder in Mode«, denn sie seien sich der Konkurrenz durch die evangelikalen Wunderheilungen, die »ein Instrument der Konvertierung« seien, »sehr bewusst«. Wenig Verständnis für die Bemühungen hat auch die Libération: »Letztlich ändert sich nicht viel, es glauben nur diejenigen daran, die daran glauben wollen.«

Ohnehin steht die Genehmigung der neuen Regeln durch den Vatikan noch aus, der daran interessiert ist, Peinlichkeiten wie den von John Downling dokumentierten Tod einer Patientin infolge eben jenen Leidens, von dem sie angeblich von der Jungfrau Maria erlöst worden war, zu vermeiden. Und obwohl die Kirche die Anziehungskraft der Wunder schätzt, fürchtet sie, dass ekstatische Visionäre ihre hierarchische Ordnung in Frage stellen könnten.

maxim kammerer