Frisch, fromm, fröhlich, krebsfrei

Michael Spöttel untersucht das ideologische Gerüst unkonventioneller Medizin am Beispiel so genannter sanfter und natürlicher Krebstherapien

Eines der Stichworte, welche die gegen die orthodoxe Medizin gerichtete Kritik bestimmen, ist der Verweis auf die Natürlichkeit alternativer Konzeptionen. Dabei bleibt der Begriff des Natürlichen vage. »Natur«, so der Soziologe Norbert Elias in »Über die Natur«, sei eine Metapher, ein Symbol, auf das Menschen ihre Wunschphantasien projizieren. Was natürlich ist, gilt zugleich als gut bzw. gesund. Die Natur wird allgemein als »gütig« eingeschätzt, als eine sich sorgende und nährende »Mutter«. Dabei bleibt ausgeblendet, dass Fressen und Gefressenwerden zum Wesen der Natur gehören. Elias schreibt: »Die Natur ist voller Wollust und Leiden. In ihrem blinden Entwicklungsgang ist sie auf tausenderlei Kniffe gestoßen, wie in dem gnadenlosen Überlebenskampf aller Lebewesen diese oder jene Art vor anderen einen Vorteil gewinnen kann.«

Naturmythos und Krebs

Das populäre mythische Verständnis von Natur ist allemal religiös grundiert. »Natur« symbolisiert Unsterblichkeit und unendliche Schöpferkraft, Regeneration und Gesundheit – kurz: Göttlichkeit. Karl Wind-stosser etwa sieht »das Geistige, das Unzerstörbare, das Religiöse im Menschen, seine Einheit mit der Unendlichkeit des Kosmos« als den Ausgangspunkt jeder ärztlichen Kunst an. Denn Leben auf der Erde habe sich als irdische Manifestation kosmischer Kräfte und Formen entwickelt und stelle diese dar, heißt es in seinem Buch »Die ganzheitliche medizinische Behandlung Krebskranker und Krebsgefährdeter«.Es ist egal, ob monotheistische, kosmotheistische oder pantheistische Vorstellungen mit einem mythischen Verständnis von Natur einhergehen. »Natur« repräsentiert eine ewig gültige, göttliche bzw. von Gott geschaffene Ordnung. Man müsse die »Natur« ihren Gang gehen lassen. Andernfalls seien Degeneration und Verfall die Folge.

Wo die Natur als ursprünglich harmonisch, gütig und vollkommen eingeschätzt wird, gilt Gesundheit als natürlicher Zustand; Krankheit und Leid werden infolgedessen als Folgen individuellen oder gesellschaftlichen Fehlverhaltens betrachtet: eben »unnatürlicher« Lebensweise. Nach Windstosser »fehlt dem kranken Menschen, der kranken Menschheit Ordnung und Ganzheit in allen Lebensbereichen«; dies gelte auch für Krebs. Krebs sei eine Erkrankung, mit der sich die Natur unerbittlich für das ihr zugefügte Unbill räche.

Der Chirurg Julius Hackethal, als entschiedener Kritiker der Schulmedizin um 1980 ein Heros zahlreicher Fernsehtalkshows und der Regenbogenpresse, verdichtete in dem Buch »Keine Angst vor Krebs« eine möglicherweise berechtigte Kritik an herkömmlichen Therapien des Prostatakrebs zu einem allgemeinen Paradigma.

Naturgegeben seien nur »gutartige Haustierkrebse«, die durch körpereigene Abwehrkräfte in Schach gehalten würden und dementsprechend nicht behandelt werden müssten. Werde der »Haustierkrebs« allerdings seelisch und/oder körperlich misshandelt, werde ein »Raubtierkrebs« daraus. So sei Krebs in erster Linie eine »Krankheit der Seele«: Ein seelisch Gesunder sei niemals krebskrank.

»Raubtierkrebs ist die biologische Gottesstrafe für jahrzehntelange Sünden gegen die Gesundheit, für Gesundheitslaster. Gott ist die Natur, Naturgesetze sind unabänderliche Gottesgesetze«, schreibt Hackethal. Ergo: Krebs ist eine Strafe für ein Fehlverhalten wider die als göttlich erachtete Natur (oder vielmehr gegen das, was Hackethal für natürlich hält).

Mit christlicher Heilslehre hat Hackethal zwar nichts im Sinn. Der Mensch sei von dem »Naturgott« für die Welt, nicht für Himmel oder Hölle geschaffen. Dennoch ist er von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt: Diese lebe in den Kindern weiter. Und: Krebs könne auf Kinder und Enkel vererbt werden: »Die nach dem Tod per Seelenwanderung auf die Kinder übergegangene Seele büßt für ungesühnte Sünden weiter.«

Die Ansichten Hackethals und Windstossers dienen hier als Beispiele für eine alternative Mentalität. Im alternativen Bezugssystem ist Krankheit Ausdruck einer seelischen oder spirituellen Krise der Erkrankten oder gar der Menschheit insgesamt (siehe etwa Rosalind Coward in »Nur Natur?«). Krankheit wird aus diesem Grund als Zeichen gesehen und eröffnet die Chance, notwendige Veränderungen vorzunehmen. Man brauche Erkrankungen nicht zu fürchten.

Dies bedeutet freilich: Alternative Mentalität vermag Krankheit nicht zu akzeptieren. Das unterschwellige Postulat alternativer Medizin lautet, dass grundsätzlich keine Krankheit unserer Kontrolle entzogen sei, Ryke Geerd Hamer und Matthias Rath sind in dieser Hinsicht beispielhaft. Die Art oder Schwere einer Erkrankung spielt keine Rolle. Alternative Therapeuten sehen sich im Bunde mit dem »natürlichen« Heilungsprozess des Körpers, den konventionelle Mediziner ihrer Ansicht nach sträflich ignorieren.

Die ebenso populäre wie banale Klage, die Schulmedizin kuriere nur Symptome, kümmere sich aber nicht um die »tatsächlichen« Ursachen, hat hier ihre Basis. Wo die orthodoxe Medizin gegen den Körper streitet, beispielsweise Krebszellen zu vernichten sucht, schlägt sich die unkonventio­nelle Medizin, so ihr Credo, auf die Seite des Körpers, um den Zustand ursprünglicher Perfektion wieder zu gewinnen. Es gelte, die Lebensbedingungen in diesem Sinne zu verändern.

Als »natürlich« wird eine heilende Maßnahme eingeschätzt, wenn auf den Einsatz moderner Technologien bei der Herstellung von Medikamenten oder bei der Behandlung von Patienten verzichtet wird. Alles »Chemische« sei schlecht – eine Sünde wider die Natur. Tatsächlich lässt sich kaum zwischen natürlichen und chemischen Substanzen unterscheiden. So darf die »Natürlichkeit« der Rathschen Mittel bezweifelt werden, schließlich lässt Rath etwa synthetische Peptide unter Patentschutz stellen.

»Natürlichkeit« wird mit Ungefährlichkeit gleichgesetzt. Als »natürlich« werden regelmäßig Mittel und Therapien angepriesen, die zwar nicht in der Natur vorkommen, aber bereits seit vielen Generationen in Gebrauch sind. Der traditionelle Gebrauch scheint die Sicherheit (gleich Freiheit von unerwünschten Nebenwirkungen) eines Mittels zu beweisen.

Den traditionellen Heilmitteln anderer Gesellschaften kommt in diesem Rahmen eine besondere Bedeutung zu. Unterstellt wird, dass beispielsweise asiatische und afrikanische Gesellschaften der Natur näher stehen und sich insofern ein »wahres« Verständnis von »Natur« und »natürlicher« Gesundheit bewahrt haben. Doch sind Medikamente, die etwa im Zuge einer Ayurveda-Behandlung eingesetzt werden, keineswegs zwingend ungefährlich; schließlich kommen unter anderem Schwermetalle zum Einsatz.

Tradition soll weiter Wirksamkeit gewährleisten. Traditonelle Gesellschaften unterscheiden sich von modernen darin, dass nicht selten Priester und Heiler identisch sind. Der sibirische Schamane und der indianische Medizinmann sind sowohl religiöse als auch medizinische Spezialisten. Heilende Strategien sind mit religiösen Konzeptionen verknüpft.

Die Forschungen von Völkerkundlern (z.B. Robert Edgerton: »Trügerische Paradiese«) haben jedoch ergeben, dass traditionelle und exotische Methoden der Behandlung weder erfolgreicher noch schonender waren als moderne.

Die Ergebnisse einer umfangreichen Akupunkturstudie haben vor zwei Jahren gezeigt, dass die tradierte Theorie über die Wirksamkeit von Akupunktur schlicht falsch ist: Wenn Nadeln gestochen werden, spielt der Ort des Einstichs hinsichtlich der Wirksamkeit keine Rolle.

Die traditionelle, spirituelle Erklärung für die Wirksamkeit einer Akupunkturbehandlung – dass Meridiane, durch die eine »Lebensenergie« fließt, blockiert sind und es spezielle Punkte gibt, wo kompetente Einstiche diese Blockaden lösen – kann nicht aufrecht erhalten werden. (1)

»Natürliche« Strategien stimulieren oder unterstützen angeblich die Selbstheilungskräfte. »Die Idee der körperlichen Selbstheilung«, so Coward, »ist zum Angelpunkt aller Aussagen über die Eigenschaften der Natur geworden. Dass in der Natur auch ­Viren vorkommen, dass Krankheit und Schmerz von Anbeginn zum menschlichen Leben gehören, wird stillschweigend übergangen; ebenso das unvermeidliche Ende alles Lebens. Aus der Tatsache, dass der Körper oft von selbst gesundet, sich regeneriert und Krankheiten abwehrt, werden grundlegende Eigenschaften der Natur abgeleitet. Wenn der Körper auf diese Weise gesunden kann, dann ist die Erneuerung das Wesen der Natur. Wenn der Körper sich erneuert, müssen Lebenskräfte in der Natur enthalten sein, essenzielle Energien, das heißt Energien, die durch die Körper von Menschen, Tieren und Pflanzen fließen und zu unserem Wohle wirken. Solange diese Energien im Gleichgewicht bleiben und richtig, das heißt ungehemmt fließen, sind sie Voraussetzung für die natürliche Gesundheit und Vitalität des Menschen.«

Exkurs: Krebs und Zivilisation

Sind Krebserkrankungen in erster Linie ein modernes Problem, ist die Anzahl der Tumorerkrankungen im Zeitalter der modernen Gesellschaft steil angestiegen, wie es alternative Theoretiker unterstellen?

Es kann nicht bestritten werden, dass im Zuge der Industrialisierung zahlreiche Kanzerogene mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen produziert wurden und werden. Radonverseuchte Minen, Kernkraftwerke (bzw. etwaige Unglücke), ungeschützte Radargeräte im militärischen Bereich, ungefilterte Rußpartikel, Asbest an Fahrzeugbremsen und in Wohngebäuden liefern Beispiele dafür, dass ein naiver oder fahrlässiger Umgang tödliche Konsequenzen für Betroffene haben kann.

Zahlreiche chemische Substanzen stehen in Verdacht, potenziell krebserregend zu sein, wenn sie sich im menschlichen Körper ablagern. In der Folge des bisher ohne Rücksicht auf ökologische Bedenken sich vollziehenden chinesischen Wirtschaftsbooms boomen leider auch schwere und schwerste Erkrankungen, deren Affinität zur Luft- und Umweltverschmutzung unbestreitbar ist.

Statistiken belegen, dass die Zahl der bösartigen Erkrankungen in den letzten 100 Jahren erheblich angestiegen ist. Starben in Deutschland 1920 noch acht Prozent der Menschen an Krebs, so stieg die Zahl bis heute auf nahezu 30 Prozent.

Doch die Zahlen sagen nichts über eine Verbindung zwischen einer Tumorerkrankung und der Industriezivilisa­tion. Denn sie sind trügerisch, da die Menschen im Schnitt viel älter werden und Krebs vor allem ein Problem des späten Lebensabschnitts ist.

Stellt man den Altersfaktor in Rechnung, so sind bösartige Krebserkrankungen nicht häufiger als früher. Es gibt Ausnahmen: Lungenkrebs und schwarzer Hautkrebs. Diese Raten sind Produkte von Zigaretten und Sonne. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurde vornehmlich in wohlhabenden Kreisen geraucht, dort war Lungenkrebs verbreitet.

Schwarzer Hautkrebs ist ein Resultat eines veränderten Freizeitverhaltens in den letzten Jahrzehnten; man sonnt sich, wann immer die Sonne scheint. Eine weitere Ausnahme sind Magenkrebserkrankungen, hier sind die Zahlen rückläufig. Die Möglichkeiten, Lebensmittel angemessen zu kühlen, haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verbessert.

Viele der gängigen Ansichten des alternativen Spektrums wurden im frühen 20. Jahrhundert bereits von der »Lebensreform«-Bewegung artikuliert. Deren Anhänger interpretierten Krebserkrankungen als Ausdruck der Tatsache, dass sich der Mensch zu weit von seinen natürlichen Ursprüngen entfernt habe.

Eine einflussreiche Persönlichkeit war der Danziger Chirurg Erwin Liek (1878 bis 1935). Er gründete die allgemeinmedizinische Zeitschrift Hippokrates, die große Sympathien für homöopathische Ansätze und natürliche Ernährung hegte. Liek beklagte die »geistige Krise« der modernen Medizin und hatte einen starken Hang zu romantisierenden Ansichten. Er meinte, dass die Schulmedizin weitgehend die Fähigkeiten der Menschen zur Selbstheilung unterschätze.

Eine verbreitete zivilisationskritische These im frühen 20. Jahrhundert war, dass Krebserkrankungen ein Produkt der Verstädterung seien. Wissenschaftliche Studien ergaben jedoch, dass diese These auf einer Fehlinterpretation beruhte: In den Todesscheinen der Landbewohner fehlte damals vielfach die Todesursache, man konnte vorhandene Krebserkrankungen in vielen Fällen gar nicht erst diagnostizieren.

Im vergangenen Jahr befasste sich das Europäische Parlament mit einer Gesetzesvorlage für die neue europäische Chemikalienverordnung »Reach« (Registrierung, Evaluierung, Autorisierung von Chemikalien). In der Tagespresse wurde im Zusammenhang mit der Debatte um »Reach« da­rauf verwiesen, dass die Krebserkrankungsrate unter Kindern in den letzten beiden Jahrzehnten jährlich um ein Prozent zugenommen habe.

Die Ärzte-Zeitung (Online-Ausgabe) referierte bereits am 13. Dezember 2004 die Resultate einer in der Fachzeitschrift Lancet publizierten Analyse von 63 Krebsregistern aus 19 europäischen Ländern aus den Jahren 1970 bis 1999. In den siebziger Jahren waren 118 von einer Million Kindern an Krebs erkrankt, in den neunziger Jahren 139. Die Zuwachsraten pro Jahr lagen um ein Prozent und beschleunigten sich im Laufe der Jahre etwas. Bei Jugendlichen sind in den siebziger Jahren 147 pro eine Million an Krebs erkrankt, in den Neunzigern 193. Es wurde eine Zuwachsrate pro Jahr von 1,3 Prozent (erste Dekade) und 1,8 Prozent (zweite Dekade) registriert.

Die beteiligten Forscher vermuten, dass sich die Zunahme der Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nicht mit einem einzigen Faktor erklären lasse. Es wurde auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Krebsrate und dem in Europa verzeichneten zunehmenden Geburtsgewicht hingewiesen.

Ferner wurde die Möglichkeit einbezogen, dass (virale) Infektionen eine Rolle spielen. Auch eine bessere Diagnostizierung der Krankheit und genauere Aufzeichnungen könnten den Anstieg erklären. Im analysierten Zeitraum sind außerdem die Überlebensraten wesentlich gestiegen, auf 75 Prozent für Kinder in Westeuropa und 64 Prozent für Kinder in Osteuropa.

Krebs ist nach wie vor bei Kindern eine seltene Erkrankung. Die meisten Kinder mit Krebs leben in Entwicklungsländern. Sie sterben zumeist, weil die medizinische Versorgung nicht ausreicht. (2)

Selbstheilung und Immunsystem

Traditionell ist alternative Heilkunde vom Dogma bestimmt, dass Selbstheilungskräfte des Körpers und dessen natürliche Vitalität das entscheidende Kriterium jeder möglichen Genesung sind. Moderne Erkenntnisse über die Wirkungsweise des Immunsystems wurden diesen altbekannten Vorstellungen als wissenschaftliche Rechtfertigung gleichsam aufgepfropft. »Immunität bzw. deren Fehlen wurde so zum Ausdruck für ein grundlegendes Anliegen der Naturheilkunde – nämlich für ihr Bestreben, die Gesundheit des einzelnen zu vervollkommnen und ihn gegen Krankheit und Tod resistent zu machen«, schreibt Rosalind Coward.

Alternative Theoretiker haben seit Jahrzehnten gewarnt, dass die moderne Lebensweise (Stress, Umweltverschmutzung, denaturierte Ernährung) die Immunität und das natürliche Gesundheitspotenzial des Körpers gefährde. Das Immunsystem werde nun nicht nur durch schädliche Umwelteinflüsse und die individuelle Lebensweise geschwächt, sondern überdies durch künstliche Interventionen orthodoxer Mediziner wie Impfungen oder die Gabe von Antibio­tika.

Als Protagonisten der Überzeugung, dass Krankheiten grundsätzlich aus inneren Ursachen entstehen, sind alternative Heiler der Ansicht, dass die Eindämmung der großen Epidemien bereits vor der allgemeinen Einführung von Impfstoffen und Antibiotika gelang und auf verbesserter Ernährung und Hygiene basiert.

Windstosser bringt dabei ein quasi-reli­giö­ses Argument ins Spiel. Kinderkrankheiten würden der Bewältigung von »Erbgiften« dienen, seien natürliche Gesundheitsvorgänge, die nicht durch Impfungen unterdrückt werden sollten. Anthroposophischen Ärzten zufolge bedeuten Kinderkrankheiten Entwicklungssprünge – was immer das auch heißen mag.

Jedenfalls werden Impfungen gegen Kinderkrankheiten von einem immer größeren Teil der Bevölkerung abgelehnt, weil Impfstoffe angeblich schädliche Nebenwirkungen haben und dem Immunsystem sozusagen eine hervorragende Trainingsmöglichkeit nehmen. Dies ist eine ebenso naive wie falsche Annahme, denn das Immunsystem wird durch die Impfung genauso gestärkt wie durch die eigentliche Krankheit.

Aus dem Blickwinkel einer um »natürliche« Selbstheilkräfte besorgten alternativen Heilkunde ist Aids die prototypische Krankheit unseres Zeitalters, denn im naturheilkundlichen Denken war eine Erkrankung wie Aids gewissermaßen bereits angelegt. Dem alternativen Credo zufolge wird Aids nicht durch die Übertragung ­eines bestimmten Virus ausgelöst (äußere Ursachen), sondern ist Folge eines bestimmten Lebensstils. Joseph Sonnabend unterstellt, dass HIV wesentlich die Folge dramatischer sozialer und ökologischer Umwälzungen sei, die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts abliefen und die Leistungsfähigkeit des menschlichen Immunsystems entscheidend geschwächt hätten. (3)

Die alternative Interpretation von Krebs­erkrankungen geht konform mit diesem Paradigma. Bereits in den dreißiger Jahren definierte der in Deutschland geborene Arzt Max Gerson Krebs als Krankheit unserer Lebensweise: Chemie, Umweltverschmutzung und giftige Lebensmittel würden uns verseuchen und eine Schwächung der körperlichen Abwehrkräfte provozieren. Auch Hackethal meint, dass ungesunde Lebensweise und Umweltgifte die Entwicklung von »Raubtierkrebsen« fördern. Früher sei das Immunsystem erheblich leistungsfähiger, seien Menschen zu intensiveren »Heilreaktionen« fähig gewesen, glaubt wiederum Windstosser.

Die alternativen Heiler reiben sich an der naturwissenschaftlichen Deutung von Krebs. Nach naturwissenschaftlicher Auffassung ist Krebs eine eigenständige Krankheit, in die der gesunde Körper erst nach und nach mit einbezogen wird. Windstosser meint, dieses pathogenetische Modell sei eine ebenso menschen- wie fortschrittsfeindliche lokalpathologisch fixierte Ideologie. Schuld sei Rudolf Virchows Zellularpathologie, welche die »bis dahin geltende und gelehrte humoralpathologische Ganzheitsschau der alten Erfahrungsheilkunde« zu Fall brachte. Der naturwissenschaftlich fixierten Schulmedizin sei der Blick auf ganzheitliche Phänomene und Zusammenhänge im menschlichen Organismus verloren gegangen.

Überdies sei die moderne Medizin durch das Profitstreben einer riesigen internationalen Pharmamafia verseucht. Jedenfalls sei die Gegenwart bestimmt von einer »unerbittlichen, im eigentlichen Sinn weltanschaulichen Auseinandersetzung« zwischen den »Mächte(n) des Materialismus« und den Vertretern wahrer menschenfreundlicher Heilkunde.

Da Chemo- und Strahlentherapie eine immunsuppressive Nebenwirkung haben, gelten sie als teuflische, kontraproduktive Mittel und kommen aus alternativer Sicht als Krebsheilmittel nicht in Frage. Nach Hackethal führt die Schulmedizin einen Krieg gegen den Krebs mit »RAC-Waffen« – »Radikal-Operation«, »Atomsprühfeuer-Kanonade (so gen. Bestrahlung …)«, »Chemischer Giftkrieg (so gen. Chemo-Therapie …)« – eine »schulmedizinische Parallele zur strategischen Kriegsführung der verbrannten Erde«. Dies sei eine »Rabiatstrategie« zu »Wucherpreisen«, die den Krebs auslöse, den sie zu bekämpfen vorgebe.

Zahlreiche aggressive Medikamente wie Tranquilizer, Antibiotika und Cortison würden überdies den Ausbruch einer Krebserkrankung begünstigen. Die allgemeine Panikmache im Zusammenhang mit Krebs sei ebenso kontraproduktiv wie die schulmedizinisch provozierte Blockade des Trainings des Immunsystems, die durch Impfungen oder durch Erziehung zur Überhygiene erreicht werde – den besten Impfschutz biete die Impfung mit Dreck. Nach einem Besuch am Sloan-Kettering-Krebszentrum in New York urteilte Hackethal 1978, dass dem Prostatakrebs »und sehr wahrscheinlich dem Krebs überhaupt« technisch jedenfalls nicht beizukommen sei.

Wird einerseits regelmäßig aus der unkonventionellen Ecke gegen etablierte Impfungen geschossen, so wird andererseits jeder Versuch, einen Impfstoff gegen Krebs zu etablieren, unkritisch begrüßt. Die Gesellschaft für biologische Krebsabwehr e.V. rühmte noch im Herbst 2003 die Wirkung der so genannten Impfung mit Dendritischen Zellen bei bestimmten Krebsarten, eine teure Methode, deren Kosten von Krankenkassen selten übernommen werden. (4) Bereits Monate vor dieser Stellungnahme hatte etwa die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die Hoffnungen, die man aufgrund einiger Studien zunächst in diese Impfung gesetzt hatte, im Fall von Nierenkrebs auf einem regelrechten Wissenschaftsbetrug beruhten und im Fall von Hautkrebs auf vorschnellen Interpretationen einer umstrittenen Studie.

Die alternativen Krebstherapeuten sparen nicht mit Ratschlägen, wie denn dem Immunsystem auf die Sprünge zu helfen sei. Windstosser empfiehlt, das Immunsystem durch eine ganze Reihe von Maßnahmen von anderen Aufgaben zu entlasten und insofern auf den Kampf gegen die bösartigen Geschwulste zu konzentrieren. Erste und wichtigste Maßnahme einer jeden Tumortherapie seien »Störfeld- und Herdsuche, Entherdung und Sanierung«. Damit meint er mehr oder weniger latente Entzündungen, beispielsweise an Zähnen und Mandeln. Es gebe jedenfalls keine Gesundheitsstörung, die nicht mit einem Herd bzw. Zahnherd zusammenhänge. Die »Totalsanierung« müsse mit einer strikten Diät oder gar einem Heilfasten einhergehen.

Außer diesen inneren, im Organismus wirkenden fatalen Energien müssten weiter äußere – »geopathische« – Störfelder neutralisiert werden: z. B. »Wasseradern«, »Erdstrahlen« und »Reizstreifen«. Diese angeblichen physikalischen Energien würden aus dem Erdinneren günstig oder ungünstig auf Flora, Fauna und Menschen wirken.

Windstosser spart nicht mit Lebenshilfe. Vor dem Schlaf soll auf »akustische und optische Berauschung«, seien es Krimis, Rock- oder Popmusik oder Fernsehsendungen verzichtet werden. Sinnvoller und heilsamer soll es zugehen: spielen, lesen, philosophische oder religiöse Themen diskutieren, gute beruhigende Musik hören. Überhaupt sei möglichst viel »Vormitternachtsschlaf« wichtig; bei kalten Füßen in reinwollenen Socken. Gegebenenfalls solle der Kopf im Schlaf den erdmagnetischen Kraftlinien entsprechend nach Norden liegen, die Beine nach Süden.

Ähnliche Empfehlungen präsentiert Ha­cke­thal im Rahmen seiner »Eubios-Strategie«. Er setzt auf viel Bewegung, abwechslungsreiche Kost, wenig Alkohol, Tabak, Kaffee, Tee, viel frische Luft, ausreichend Schlaf (wichtig: zwei Stunden vor Mitternacht), Gelassenheit, usw. Und: viel Sex und viel Liebe! Da der »Fortpflanzungstrieb« der stärkste Trieb der Seele sei, bestehe eine »besonders enge Wechselbeziehung« zwischen Fortpflanzungsorganen und Krebs. Ein intensives Sexual- und Liebesleben, ist sich Hackethal sicher, macht nicht nur Spaß, sondern dient überdies der Krebsprävention. Niemals würden, glaubt Hackethal, derart vernünftig lebende Menschen an Krebs sterben.

Die Eubios-Strategie wirke präventiv, die körpereigenen Abwehrkräfte würden mobilisiert. Im akuten Zustand einer Erkrankung müssten die Abwehrkräfte erst recht gestärkt werden, denn »Rückbildungen von Krebsherden beruhen (…) auf körpereigenen Abwehrkräften«. Jeder Krebsverdächtige sollte, spricht Hackethal, erst einmal weit weg in Urlaub fahren und die »starke(n) Krebsheilkräfte« eines Reizklimas auf sich wirken lassen. Anschließend stehen Entgiftungskuren auf dem Plan, insbesondere Schwitzkuren.

Besonders wichtig sei aber das Sonnenbaden, möglichst nackt, denn: »Der potenteste Krebshemmer ist wahrscheinlich die Sonne«, da der Pigmentstoff Melanin direkt Krebs hemmend wirke. Warum aber, fragt sich Hackethal, bekommen auch schwarzhäutige Menschen Organkrebse? Seine Antwort lautet: Schwarze verfügten zwar über mehr Melanin, dies sei jedoch weniger mobil als das sehr mobile Melanin der gebräunten Weißen. Nur im alleräußersten Notfall dürften chirurgische Maßnahmen gewählt werden.

Beide Kritiker der orthodoxen Medizin ­legen Frisch-Fromm-Fröhlich-Frei-Programme vor. Der Unterschied: Nach Windstosser soll ein asketischer Lebensstil den Menschen erlösen, Hackethal plädiert für Hedonismus. Das ist zu diesem Zeitpunkt moderner, aber nicht richtiger. Ähnliche Strategien sind im Zusammenhang mit Tuberkulose jahrzehntelang erfolglos praktiziert worden. Thomas Mann hat diese Behandlungen in seinem Roman »Der Zauberberg« eindrücklich beschrieben.

Erlöse dich selbst!

Die logische Folge des alternativen Postulats ist, dass jeder Einzelne für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist; die Verheißung des medizinisch gesehen »mündigen Bürgers« in unkonventionellen Konzepten besagt genau das. Aus diesem Grund gehen Verschwörungstheorien mit alternativen Heilstrategien einher; sie liefern eine Erklärung dafür, warum Einzelne oder ganze Gesellschaften überhaupt vom richtigen, weil »natürlichen« Weg abgewichen und seitdem in einem Verblendungszusammenhang gefangen seien. Windstosser beispielsweise behauptet, dass die Wirksamkeit der aus pflanzlichen Produkten zusammengesetzten Hoxsey-Kur und von Krebiozen zweifelsfrei bewiesen worden sei, aber diese Beweise von etablierten Institutionen wie dem National Cancer Institute (USA) unterdrückt wurden.

Ein schlichter Dualismus, eine naive Unterscheidung zwischen »Gut« und »Böse«, zieht sich wie ein roter Faden durch die unkonventionellen Therapien, weckt Erinnerungen an die guten und bösen Mächte einer christlichen Geisterwelt oder an manichäische Konzeptionen. In letzter Konsequenz dient die Gesundheit (oder auch Krankheit) der »natürlichen« Auslese der Starken, Lebensfähigen.

Coward zufolge haben sich unsere Ansichten über körperliches Leid und Wohlergehen radikal geändert: »Hier wird deutlich, dass sich in unseren Ansichten über Körper und Gesundheit eine tiefe Wandlung vollzogen hat. Der sterbliche Leib ist kein Hemmnis mehr auf unserem Weg zur Vollkommenheit. Vielmehr ist er nun der Ort, wo solche Vollkommenheit zu finden ist. Ähnlich wie Menschen früherer Epochen von der Notwendigkeit durchdrungen waren, das Heil ihrer Seele zu gewinnen, ist der einzelne heute von der Notwendigkeit überzeugt, durch unermüdliche Arbeit die im menschlichen Körper beschlossenen Belohnungen zu gewinnen und zu bewahren.«

Die alternative Gesundheitsbewegung setzt auf die persönliche Verantwortung des Einzelnen. Die Idee, dass der Einzelne nur begrenzte Macht hat, sein persönliches Schicksal zu beeinflussen, hat hier keinen Platz. Im Vordergrund steht die Verpflichtung, für Gesundheit und Wohlergehen hart zu arbeiten. Bestimmte Sportdisziplinen (z.B. der Marathonlauf) und Diäten (z.B. Makrobiotik) sind Wege zum Ziel persönlicher Gesundheitsmaximierung. Am Ende verharren die alternativen Konzeptionen im Banne der puritanisch geprägten Leistungsethik, die das gehasste Gegenbild – die westliche Industriezivilisation – inspiriert hat. Den von ihnen unterstellten Machbarkeitswahn der modernen Industriegesellschaft konterkarieren »alternative« Kreise nicht, sie treiben ihn auf die Spitze. Erlöse dich selbst, lautet ihre unterschwellig transportierte Message.

Wo die Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit in den Fokus medizinischen Denkens gerät, sind Schuldzuweisungen schnell bei der Hand. Seit jeher stellten die christliche Religion und andere Weltreligionen eine Verbindung zwischen individuellem oder kollektivem Fehlverhalten und Krankheit her – eine Verbindung, die erst die Schulmedizin weitgehend aufgelöst hat: »Wenn ein exakt wissenschaft­liches Verständnis die Krankheit auf einen äußeren Virus zurückführte, mit dem jeder sich anstecken konnte, der damit in Berührung kam, konnte man den einzelnen nicht mehr unmittelbar für seine Krankheit verantwortlich machen. In den alternativen Therapien aber lebt der Glaube an die Verbindung zwischen der Lebensweise eines Menschen und der Krankheit bzw. Gesundheit seines Körpers wieder auf«, schreibt Coward.

Zwar beziehen sich alternative Ansätze regelmäßig auf pantheistische Spiritualität oder auf die Mystik fernöstlicher Religionen. In der Empfehlung, bisherige »schädliche« Lebensgewohnheiten (falsche Ernährung, prekäre Lebensgewohnheiten, sexuelle Unterdrückung) aufzugeben, und der damit verknüpften Hoffnung auf Heilung taucht jedoch die traditionelle christliche Vorstellung seelischer Läuterung in einer neuen Variante wieder auf. Es ist die Tradition des protestantischen Christentums und die Überzeugung, dass das Seelenheil des Einzelnen an seine Taten geknüpft ist: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.«

Anmerkungen

(1) Vgl. Klaus Koch: Rätselhafte Stiche gegen den Schmerz. In Süddeutsche Zeitung vom 22. Oktober 2004

(2) www.journalonko.de/newsview.php?id=1024

(3) Vgl. Paula Treichler: AIDS, HIV and the cultural construction of reality, S. 80

(4) Vgl. »Weckruf fürs Immunsystem«. In: Impulse 10/2003, S. 1f

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags entnommen aus: Michael Spöttel: Vergebliche Hoffnung. Der Mythos von sanften und natürlichen Krebstherapien. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2006, 150 S., 13 Euro. Das Buch erscheint Anfang April.