Der Reservemann

Uli Stein hat Oliver Kahn vorgemacht, wie man sich als Ersatztorwart nicht verhalten sollte. von christian helms

Der ehemalige Nationaltorhüter Uli Stein war zuletzt ein äußerst begehrter In­ter­view­part­ner. Das ist verständlich, wurde der mittlerweile 51jährige doch vor fast genau 20 Jahren mit einer sehr ähnlichen Situation konfrontiert wie Oliver Kahn vor eineinhalb Wochen. Unmittelbar vor der WM 1986 hatte Teamchef Franz Beckenbauer dem Schlussmann des Hamburger SV erklärt, Toni Schumacher werde während des Turniers in Mexiko im Tor stehen. Nun hätte Stein damals natürlich auch ein schickes hellblaues Hemd mit weißen Längsstreifen aus seinem Reisegepäck fischen können. Dann hätte er eiligst eine Pressekonferenz einberufen und schwülstig verkündet, es gehe »nicht um Uli Stein, nicht um persönliche Belange, Eitelkeiten oder Schicksale, sondern ums große Ganze«. Doch er entschied sich anders.

»Ich an seiner Stelle hätte das sicher nicht mitgemacht«, kommentierte Stein nun die überraschende Entscheidung Kahns, trotz der Degradierung zum Reservetorwart bei der Endrunde dabei sein zu wollen. Richtig, Uli Stein hätte alles anders gemacht: Er hätte den Teamchef souverän einen »Suppenkasper« geschimpft, das ganze Team als »Gurkentruppe« verunglimpft und sich anschließend für alle Zeiten aus der Nationalelf verabschiedet. Das ist ein berühmtes Kapitel der deutschen WM-Geschichte und der Grund, weshalb Uli Stein heute nicht nur als einer der begabtesten Torhüter gilt, die je durch die Strafräume der Bundesliga hechteten – sondern auch als unbeherrschter Stinkstiefel. Als schlechter Verlierer eben.

Genau diesen Makel vermeidet Oliver Kahn. Die sportliche Niederlage verwandelt der Münchener elegant in einen charakterlichen Sieg. »Ich bin keiner, der sich klammheimlich verdrückt. Das hat etwas mit meinen Werten zu tun.« Viel mehr aber noch mit dem Bewusstsein, wie dauerhaft gerade Weltturniere das Image eines Fußballers prägen, auch weit über seine aktive Zeit hinaus. 2002 war Oliver Kahn ein erstaunlicher Torwart, vier Jahre später erhebt er sich zum selbstlosen Ehrenmann, zum edlen Teamplayer, der den Erfolg der Gruppe uneitel über seine persönlichen Ziele stellt. Daran wird man sich in 20 Jahren erinnern, selbst wenn er insgeheim Bundestrainer Jürgen Klinsmann für den größten Suppenkasper aller Zeiten halten sollte.

Mit seinen 36 Jahren wird auch Oliver Kahn wissen, dass er eines nicht mehr allzu fernen Tages seinen geliebten Fünf-Meter-Raum verlassen muss. Klar, des Geldes wegen braucht er sich bis zum Ende seiner Karriere ganz sicher nicht mehr zu bewegen; für den Fall jedoch, dass ihm irgendwann die Decke des »P1« auf den Kopf fällt oder er keine Lust mehr hat, auf der heimischen Playstation Jens Lehmann digital die Bude vollzuhauen, wird ihm die nicht ganz freiwillig übernommene Rolle des untadeligen Sportsmannes noch sehr nützlich sein. Vielleicht findet der dreimalige Welttorhüter gar Gefallen an seinem sechswöchigen Dasein als Motivationsonkel der Nation, die Mehrheit seiner jungen Mitspieler schaut ja bekanntlich zu ihm auf. Tim Borowskis schmeichelndes Loblied auf die neue Nummer zwei (»Dass sich ein Mann wie er so in den Dienst des Teams stellt, schweißt alle weiter zusammen«) wird er gern vernommen haben.

Oliver Kahn gehört, so kurios das vielleicht klingen mag, schon jetzt zu den großen Gewinnern dieser WM. Sollte Jens Lehmann Flanke um Flanke unterlaufen und das deutsche Team früh ausscheiden, hätte Kahn es natürlich besser gemacht. Verletzt sich Jens Lehmann, ersetzt ihn Kahn. Und selbst wenn der Torhüter von Arsenal London ein überragendes Turnier spielt und im Finale drei Elfmeter – allesamt verursacht von Robert Huth – von Brasiliens Ronaldinho pariert, wird die Kamera immer auch Olli Kahn einfangen, der im Trainingsanzug aufspringt und den Triumph des Teams bejubelt. Wertvolle PR-Arbeit in eigener Sache, die ihm nach seiner Zeit als Sportler sämtliche Karrieremöglichkeiten offen lässt.

Dabei drängt sich die Frage auf: Was macht Uli Stein heute eigentlich?