Wenn ein jeder zum Krämer wird

Die Zahl der prekär Beschäftigten wächst. Aber das Prekariat hat nicht dieselben Interessen wie die Industriearbeiterschaft und ist sehr heterogen. von enno stahl

Kaum weiß man noch, woher er kam, doch er ist allgegenwärtig – der Begriff des Prekariats. Das Wort ist eine Mischung aus »prekär« und »Proletariat«. Die Soziologie reagiert damit auf das überproportionale Anwachsen so genannter prekärer, mithin unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, worunter alle Formen nicht dauerhafter Anstellungen zu verstehen sind: »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen«, Scheinselbständigkeit, Leih- und Zeitarbeit oder geringfügige Beschäftigungen. Der Begriff korrespondiert mit der soziologischen Kategorie des »prekären Wohlstands«, den derlei befristete und wenig abgesicherte Jobs eben nur auf Zeit garantieren.

Zahlreich und häufig

Offiziell gilt die Quote dieser vermeintlich »atypischen« Arbeitsverhältnisse noch als gering, in Deutschland etwa liegt sie den Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge bei rund zehn Prozent. Tatsächlich ist sie wegen der Vielgestaltigkeit des Phänomens kaum verlässlich zu quantifizieren. Illegale, Schwarzarbeiter oder Nebenverdienstler tauchen in dieser Statistik nicht auf. Auf der anderen Seite ist es sicher, dass in Deutschland die so genannten Normalarbeitsverhältnisse seit Mitte der siebziger Jahre von 80 Prozent auf nunmehr 63 Prozent zurückgegangen sind. Neue Jobs werden in aller Regel befristet vergeben, in einigen westeuropäischen Ländern gilt dies für neun von zehn Stellen. Auch hierzulande sind bereits zwei Drittel aller Neuanstellungen befristet.

Die Prekarisierung ist ebenso wenig neu wie ihre begriffliche Fassung, spätestens seit Mitte der neunziger Jahre haben Soziologen wie Sergio Bologna, Pierre Bourdieu, Robert Castel und sogar Ralf Dahrendorf auf dieses gesellschaftliche Phänomen hingewiesen. Erst jüngst haben die Schüler- und Studentenproteste in Frankreich auf das Thema aufmerksam gemacht, insbesondere im Hinblick auf die Situation von Akademikern. Gerade in Frankreich wird seit Jahren über die »Klasse« der »gefährdeten Intellektuellen« diskutiert, von der Marine und Anne Rambach in ihrem Buch »Les Intellos précaires« sprechen. Gemeint ist damit die Mehrzahl der Hochschulabsolventen, denen es nicht mehr gelingt, eine ordentliche Anstellung zu erhalten, und die stattdessen auf »Projekte«, Stipendien oder schlecht dotierte Lehraufträge angewiesen bleiben.

Ängstlich und folgsam

Das Problem der prekären Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse allein auf Akademiker zu beschränken, verkürzt allerdings den Sachverhalt in pikanter Weise. Denn andere Gruppen haben in einer drastischeren Weise darunter zu leiden. Die Prekarisierung betrifft alle sozialen Schichten; sie umfasst illegale Bauarbeiter und migrantische Putzkräfte ebenso wie die neuen »Techno-Sklaven« der Start-Ups; die »Ich-AGs« gehören ebenso zum Prekariat wie »feste Freie« in Agenturen oder Redaktionen oder Selbständige, die komplexe Dienstleistungen für große Unternehmen erbringen und Arbeiten verrichten, die einst von festen Mitarbeitern getan wurden. Es existiert also eine Vielzahl von Abstufungen, die von einem subproletarischen bis zu einem hoch qualifizierten Prekariat reichen. Dabei sind die Arbeitsbedingungen nicht nur in finanzieller Hinsicht völlig verschieden.

Gemeinsam ist diesen nicht fixen Angestellten ein Gefühl der Unsicherheit, eine kaum kalkulierbare Zukunft (was sich nicht zuletzt auf die Familienplanung auswirkt), eine angesichts der mangelnden sozialen Absicherung steigende Angst vor Krankheit sowie die Zusammenarbeit mit rechtlich besser gestellten Kollegen. All das bildet ein neues Profil von Erwerbsidentität.

Der Widerspruch zwischen einer fest angestellten Schreibkraft im öffentlichen Dienst und dem »prekären« Wissenschaftler mit Einjahresvertrag, ohne dessen Arbeit die Sekretärin gleichwohl nichts zu tun hätte, bürgt nicht unbedingt für einen Ausgleich. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob ein Busfahrer mit einem Mitgliedsausweis von Verdi quasi verbeamtet ist oder ob er als russisch-stämmiger Spätaussiedler dieselbe Arbeit auf Abruf und für erheblich weniger Geld macht, selbst an Feiertagen jede Sonderschicht akzeptierend, weil er als Busfahrer zweiter Klasse im Zweifelsfall der erste ist, der fliegt. Für innerbetriebliche Konkurrenz ist damit gewiss gesorgt, für sozialen Frieden kaum.

Überwacht und ­hingebungsvoll

Wer unter prekären Bedingungen beschäftigt ist, steht permanent unter Druck. Seine Arbeit steht ständig auf dem Prüfstand. Ob semi-abhängige Projektmitarbeiter oder Freiberufler, sie sehen sich einer kontinuierlichen Leistungskontrolle ausgesetzt. Erledigen sie einen Job nicht so, wie es gewünscht wird, oder nicht in der Zeit, die der Auftraggeber vorgegeben hat, kann das Engagement sofort beendet werden, und ein anderer bekommt den Zuschlag.

Die Projektförmigkeit der neuen Arbeit führt zu erheblich strafferen Terminvorgaben, was, wie neuere Untersuchungen zeigen, eine zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Freizeit nach sich zieht. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem von einem Leben außerhalb der Arbeit keine Rede mehr sein kann. Insbesondere im Dienstleistungsbereich, etwa der IT-Branche, gilt das übrigens nicht nur für prekär Beschäftigte, sondern ebenso für fest angestellte Mitarbeiter. Wenn man bedenkt, wie viele dieser Unternehmen jährlich Insolvenz anmelden, muss man wohl diese (Pseudo-) Normalarbeitsverhältnisse als in hohem Maße unsicher auffassen.

Für die Wirtschaft ist die Befristung ein probates Mittel, um ihre Abhängigkeit von den spezialisierten Arbeitskräften zu reduzieren. Die kreativen und gut ausgebildeten Mitarbeiter der Medien-, Computer- oder Telekommunikationsindustrie, bei denen die Disziplin der Fließbänder nicht greift, sind durch unsichere Anstellungsverhältnisse in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit leicht zu bändigen. Wer kann sich schon Widerspruch oder gar Widerstand erlauben?

Selbst in den Wissenschaften, die eigentlich für Kontroversen und Diskussionen offen sein sollten, erscheint eine freiwillige Unterwerfung unter den akademischen Status quo und ein Verzicht auf eine allzu scharfe Kritik am Gegebenen empfehlenswert, denn hier tobt der Wettbewerb mindestens ebenso unbarmherzig wie in der »freien Wirtschaft«.

Einsam und konkurrierend

Solidarische Aktionen sind kaum vorstellbar, zumal die neuen Formen der Arbeitsorganisation eine Vielzahl von Maßnahmen anbieten, um die Konkurrenz zwischen den Mitarbeitern zu erhöhen. Alle werden dazu angehalten, sich ganz in das Unternehmen »einzubringen«, mit der Bereitschaft zur permanenten Fortbildung, zu einem Einsatz weit über die Normalarbeitszeit hinaus. Der Einzelne wird zum »Arbeitskraftunternehmer«, zum unternehmerischen Subjekt, das sich auf dem simulierten, innerbetrieblichen Markt zu behaupten hat. Zwangsläufig trägt das zur Vereinzelung bei und führt dazu, dass sich die Mitarbeiter nicht länger als Verbündete, sondern als Widersacher betrachten. Dem Kapital gelingt es auf diese Weise, eine Schicht von ansonsten schwer gängelbaren Mitarbeitern zu domestizieren und die eigene Erpressbarkeit zu minimieren, die sich durch elaborierte Arbeitsprozesse eingestellt hat.

Insofern war der französische Protest folgerichtig. Und er war – ungeachtet des unmittelbaren Anlasses, nämlich des Gesetzes zur Aufhebung des Kündigungsschutzes für Berufsneuanfänger – der weithin sichtbare Ausdruck einer europaweiten Initiative, die sich um das Thema »Prekarisierung« ausgebildet hat. Dazu gehören Gruppen wie die französische Vereinigung »Act up Paris«, die »Disobbedienti Milano«, das Amsterdamer »Prekäre Netzwerk« oder die spanischen »Precarias de Derivas«. Seit dem Jahr 2001 finden in verschiedenen Großstädten »Euro-Mayday-Paraden« mit einer wachsenden Zahl von Teilnehmern statt, die »für ihre Organisierung und für soziale Rechte als Weg aus der verallgemeinerten Prekarität auf die Straße« gehen (Alex Foti).

Kann aber aus dieser neuen sozialen Bewegung wirklich ein längerfristiger Widerstand erwachsen? Aus ihrer eigenen Kraft wohl nicht, denn sie birgt in ihrer Struktur eine Aporie. Sie beruht auf der Solidarität von Leuten, die ihrer sozialen Stellung nach zum Einzelkämpfertum verdammt sind. Das macht sie käuflich, jeden von ihnen. Das Kapital braucht dazu nicht mehr zu tun, als eine Festanstellung anzubieten, womit der Grund für den Widerstand hinfällig wäre. Wer weiß, ob die charismatischen Sprecher der französischen Studenten- und Schülergewerkschaften, die im Fernsehen ihre Fähigkeiten beweisen, den Protest nicht auch als persönliches Karrieresprungbrett betrachten und nutzen werden?

Alternativlos und brüchig

Aber was ist eigentlich die Alternative? Eine Rückkehr zum Normalarbeitsverhältnis ist unrealistisch, denn eine Vollbeschäftigung wird es unter diesen Umständen nicht mehr geben. Zudem handelt es sich dabei um ein Konzept, das man durchaus kritisch sehen kann: Will sich die französische Jugend mit aller Gewalt in ein Ausbeutungsverhältnis hineinstreiken?

Der innere Zusammenhalt ist also brüchig, und auch wenn die Gewerkschaften die Proteste für sich zu verwenden versuchen, wird sich kaum eine dauerhafte Verbindung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen herstellen lassen, weder zur Industriearbeiterschaft noch zu den Arbeitslosen.

Denn diese befinden sich in einer direkten Konkurrenz zu den Prekären, die wenigstens eine zeitweilige oder geringfügige Beschäftigung innehaben. Viele der Langzeitarbeitslosen sehen sich dagegen mit der desillusionierenden Erkenntnis konfrontiert, dass sie gar nicht mehr gebraucht werden – jetzt nicht und auch in der Zukunft nicht mehr. Sie sind eine Klientel ohne Lobby.

Auf die Gewerkschaften, die sich vorgeblich auch um die Belange der Arbeitslosen kümmern, in Wirklichkeit aber nur die Interessen ihrer Mitglieder wahrnehmen, können sie sich nicht verlassen. Deren veralteter Arbeitsbegriff (inklusive des Arbeitsethos) muss sie gegen jede Form von Arbeitsverteilung in größerem Umfang opponieren lassen. Nur daher rührt ihr Engagement gegen die Prekarisierung, ihre Gründe dürften sich kaum mit denen der Prekarisierten decken. Denn viele der prekär Beschäftigten, insbesondere Höherqualifizierte, wollen die einmal erreichte Freizügigkeit mit selbständiger Zeiteinteilung und »Eigenverantwortung« nicht missen. Sie werden wenig Interesse daran haben, sich der traditionellen Lohnarbeit mit allem, was dazugehört, zu unterziehen.

Gleichzeitig sind jene Personen, die in prekären Beschäftigungen arbeiten, trotz aller Sympathiebekundungen ein Problem für die Gewerkschaften. Denn je mehr Menschen sich dazu gezwungen sehen, sich auf diese unsicheren Arbeitsverhältnisse einzulassen, desto stärker schwindet der Einfluss der Gewerkschaften, desto höher wird der Druck auf die Normalarbeitsverhältnisse. Das heißt, die Gewerkschaften stehen ebenso wie die Industriearbeiter, die sie vertreten, in Interessengegnerschaft zum Prekariat, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so scheinen mag.

Neben diesen offenkundigen Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Gruppen von Beschäftigten oder auch Nicht-Beschäftigten ist die Heterogenität der prekarisierten »Klasse« ein Grund für die Brüchigkeit des politischen Zusammenhalts. Denn die Hierarchien zwischen den verschiedenen Mitgliedern dieses »neuen Standes« lassen sich nicht ohne weiteres wegwischen. Der selbständige Geisteswissenschaftler, der über Projektverträge irgendwo im Bereich von BAT IIa alimentiert wird, hat recht wenig mit der Putzfrau gemeinsam, die dasselbe Institut für einen Euro die Stunde sauber macht. Wie sollten sie eine gemeinsame soziale Forderung formulieren?

Versuche von Aktivistengruppen, getreu multikulturalistischer Diskursregeln insbesondere solche Unterschiede herauszustreichen, also zwischen Prekarisierung nach Geschlecht, Ethnie oder Nationalität, zwischen proletarischem und kulturellem Prekariat zu differenzieren, verschärfen diese Gegensätze noch. Sinnvoller wäre es, die sozial-rechtlichen Übereinstimmungen zu präzisieren, damit die Betroffenen sich über alle Grenzen hinweg als Kombattanten mit gleichen oder zumindest ähnlichen Zielen begreifen können.

Krisenhaft und ungleich

Soziale Spannungen birgt die Situation allenthalben, diese liegen aber mehr in der strukturellen Krise der Verwertungsgesellschaft selbst. Naturgemäß führt die gesellschaftliche Verunsicherung, die sich in der Zukunft nicht verringern, sondern sich noch erhöhen wird, zu einer wachsenden Belastung auf den Absatzmärkten. Schon jetzt liegt das Problem der Wirtschaft in der mangelnden Kaufkraft. Je deregulierter der Arbeitsmarkt ist, desto mehr herrschen Vorsicht und Konsumverzicht. Wenn für große Teile der Bevölkerung die Aussicht besteht, jederzeit aus einem befristeten Anstellungsverhältnis in Hartz IV abzurutschen, animiert das nicht gerade zu freudigem Konsum, von dem eine wachsende Zahl von Niedriglohnempfängern ohnehin ausgeschlossen ist.

Die prekären Beschäftigungen vernichten zwar sukzessive die Normalarbeitsverhältnisse, sie schaffen aber nicht mehr Arbeit. Die Konjunktureffekte, die der strukturelle Wandel hin zur »billigen Arbeit« der Prekarisierten produziert, bleiben kurzfristig. Denn die grundlegende Entwicklung, die der kapitalistischen Rationalität innewohnt, dass die anfallende Arbeit, mitunter mit immer höherem persönlichem Aufwand, von immer weniger Menschen erledigt wird, nimmt die prekären Beschäftigungsverhältnisse nicht aus.

Auf diese Weise entsteht eine wachsende Ungleichheit zwischen Leuten, die arbeiten, und solchen, die dazu nicht mehr gebraucht werden. Auf eine soziale Ausgrenzung dieses Formats, man denke etwa an eine »50-Prozent-Gesellschaft«, hat die kapitalistische Gesellschaft noch keine Antwort gefunden. Wenn Maschinen leer laufen, indem sie Waren produzieren, die fast niemand mehr kaufen kann, braucht es schon mehr als einen Terminator, um den Laden wieder flott zu machen.

Von Enno Stahl erschien kürzlich beim Berliner ­Sukultur-Verlag der Essay »Literatur in Zeiten der Umverteilung«.