»Unser Manifest ist nur ein Anfang«

Norman Geras

Britische Internetblogger und Professoren haben ein Manifest veröffentlicht, mit dem sie für eine neue Linke werben, die sich gegen Antisemitismus, Antiamerikanismus und islamistischen Terror wendet. Schon nach wenigen Tagen haben über tausend Menschen, Linke, Linksradikale, Li­berale und Sozialdemokraten aus den USA, Italien, Spanien und anderen Staaten, den Aufruf mit dem Titel »Euston Manifesto« unterzeichnet.

Norman Geras, einer seiner Verfasser, ist emeritierter Professor der Universität Manchester und vor allem mit seiner Arbeit über Karl Marx bekannt geworden. Mit ihm sprach Daniel ­Kulla.

Was war der Grund für Sie, das »Euston ­Manifesto« zu verfassen?

Es entstand im Mai letzten Jahres aus drei Treffen verschiedener Blogger und anderer Internetautoren in London. Wir wollten einen Minderheitenstandpunkt in der Linken, der im Internet bereits vertreten und über den diskutiert wurde, einer größeren Öffent­lichkeit bekannt machen. Die meisten von uns unterstützten den Irak-Krieg als Mittel zur Entmachtung Saddam Husseins. Manche waren nicht für den Krieg, aber auch sie fühlten sich soli­darisch mit den Irakern und begrüßten alle Anstrengungen zugunsten eines demokra­tischen Irak.

Weitere Gemeinsamkeiten bestanden in der Gegnerschaft zu Antiamerikanismus und Antisemitismus, ebenso in der Ablehnung des Terrorismus und der Entschuldigungen, die Linke für Terrorismus vorbrachten. Der ­Guardian etwa hatte die Anschläge vom 11. Sep­tember 2001 als »schrecklich« und »erschütternd« bezeichnet, um noch im selben Satz nach einem »aber« vermeintliche Rechtfer­tigungen aufzuzählen.

Wie einflussreich sind die britischen Sym­pathisanten des so genannten irakischen Widerstands, wie etwa George Galloway?

Galloway ist kein Vertreter einer großen Frak­­tion der Linken, er und seine Bewegung »Respect« oder auch die Socialist Workers Party waren nicht nur gegen den Krieg, sondern schienen vielmehr offen die andere Seite, also Saddam Hussein, zu unterstützen. Bei den meisten Linken sah die Kriegsgegnerschaft jedoch anders aus. Viele, darunter zahlreiche meiner persönlichen Freun­de, wogen einfach rational die Aussichten ab und entschieden, dass das Ergebnis des Krie­ges wahrscheinlich nicht sehr erfreulich sein würde.

Diese Linken verstanden unsere Meinung, da wir lediglich andere Erwartungen bezüglich des Ausgangs und der Folgen des Krieges hatten. Sie stimmten uns zumeist darin zu, dass die Regierung Saddams eines der schlimms­ten Regime der vergangenen Jahr­zehnte war. Nicht wenige dieser Kriegsgegner unterzeichneten unser Manifest. Ganz anders war das bei Leuten wie Galloway, die eine Befürwortung des Krieges für undenkbar hielten und von uns sagten, dass wir ja damit keine Linken mehr sein könnten.

Ist der Eindruck richtig, dass nicht wenige der Verfasser des »Euston Manifesto« früher Kommunisten waren?

Das gilt für einige, jedoch nicht für die meisten. Ich würde mich selbst als Marxis­ten bezeichnen und gehörte früher einer kleinen trotzkistischen Gruppe an. Andere sind jedoch Sozialdemokraten, Mitglieder der Labour Party, Linksliberale. Es lässt sich wohl kein übereinstimmender ideologischer Hintergrund finden, eher handelt es sich um eine lockere politische Verbindung.

Inwiefern verstehen Sie sich als Marxist?

Für das Verständnis der politischen Si­tua­tion in einer Gesellschaft ist eine Analyse der Klassen- und Besitzverhältnisse nötig. Außerdem gibt es bei Marx das Bestreben, eine gerechte Gesellschaft zu errichten, in der alle die Chance haben, ihr Potenzial zu entfalten, und in der niemand mehr zugunsten anderer ausgebeu­tet wird.

Dieses Ziel ist angesichts der Lebenswirk­lichkeit der meisten Menschen auf diesem Planeten nach wie vor ein sehr dringliches. Andere Marxisten würden mich trotz dieser Ansichten nicht für einen Marxisten halten, da ich als Befürworter des Krieges ja ein Renegat sein müsse.

Die Passagen des Manifests zur Ökonomie sind angesichts dieses marxistischen Hintergrunds erstaunlich vage, es heißt sogar, dass dieses Thema absichtlich ­offen gelassen wurde, da es unter den Unterstützern über das Konzept einer egalitären Gesellschaft keinen Konsens gäbe.

Unser Manifest ist kein besonders präzises Dokument, es ist nur ein Anfang. Ich habe es in den Grundzügen entworfen und auch die Passage geschrieben, auf die Sie verweisen. Ich wusste einfach, dass in dieser Frage keine Eini­gung zu erzielen war.

Ist es Ihnen nicht schwer gefallen, ­einer Erklärung zuzustimmen, in der eine egalitäre Gesellschaft aus der Verwirklichung der Menschenrechte für alle hervorgeht, ohne dass sich am Kapitalverhältnis etwas ändert?

Ich würde die Verwirklichung der Men­schenrechte für eine enorme Errungenschaft halten. Jedem ein Leben in Würde zu garantieren, stellt weiterhin ein revolutionäres Programm dar.

Aber halten Sie das ohne ökono­mische Veränderungen für möglich?

Nein. Ich schrieb vor einigen Jahren in »Minimum Utopia«, dass die Träume von einer großen Utopie, ungeachtet ihrer Realisierbarkeit in der Zukunft, für den Augenblick unwichtig sind. Gegenwärtig muss es um die Herstellung eines Minimums an Versorgung, Sicherheit und Rechten für jeden gehen.

So wie die Dinge stehen, wäre das ­bereits eine riesenhafte Transforma­tion. Für mich stellt es sich derzeit nicht so dar, als ginge es entweder um die Menschenrechte oder um eine grundsätzliche ökonomische Veränderung. Vielmehr ist letzteres die Be­dingung für ersteres.

Wie waren die Reaktionen auf Ihr ­Manifest?

Die beiden häufigsten Einwände ­waren, dass wir nur Allgemeinplätze ­vertreten würden und dass unsere Kritik nur auf wenige Linke zutreffe. Wenn das aber so wäre, dann wären die zahlreichen feindseligen Kommentare kaum zu erklären. Ein treffen­derer Einwand bezog sich auf einen Absatz des Manifests, in dem wir uns da­für einsetzen, den Fokus im Irak auf die weitere Entwicklung zu legen und weniger über das Für und Wider des Krieges zu streiten. Das ist uns als Versuch zur Vermeidung der Diskussion ausgelegt worden, da nicht klar genug formuliert war, dass es uns nur um die Prioritäten geht und das weitere Geschick der Iraker nicht aus dem Blick geraten sollte.

Gibt es Pläne, eine Bewegung zu initiieren, die auf dem Manifest aufbaut?

»Bewegung« ist zu hoch gegriffen. Am 25. Mai werden wir das Manifest in London öffentlich vorstellen. Weitere Treffen werden folgen, vielleicht veranstalten wir eine Konferenz. Aber wir gehen Schritt für Schritt vor. Wir haben viele Unterschriften aus anderen europäischen Ländern erhalten, besonders aus Italien und Spanien. Das Manifest wurde ins Italienische, Französische und Schwedische übersetzt. Vielleicht bilden sich auch anderswo Gruppen, die Aktivitäten entfalten.

Sind Ihnen ähnliche Einstellungen aus Deutschland bekannt, etwa zum Irak-Krieg?

Was war denn Enzensbergers Standpunkt dazu? War er nicht auch dafür? Kennen Sie denn niemanden in der deutschen Linken, der für den Irak-Krieg war?

Sind Ihnen die Antideutschen ein ­Begriff?

Haben die etwas mit diesen pro-israe­lischen Demonstrationen zu tun, von denen in manchen Blogs Fotos zu sehen sind? Von denen habe ich bereits gehört.

http://eustonmanifesto.org