Germanosaurus Rex

Stirbt zuerst die Familie aus und dann der Deutsche? Oder umgekehrt? Mit demografischen Schreckensbotschaften lässt sich Ideologie produzieren und Geld verdienen. von regina stötzel

Deutschland im Jahr 2300. Schier unendliche Weiten, blühende Landschaften. Die Menschen freuen sich, falls sie sich mal treffen. Berlins Einwohnerinnen und Einwohner haben es sich auf der Stralauer Halbinsel gemütlich gemacht, der Rest der ehemaligen Stadt erstrahlt in einem saftigen Grün.

»In zwölf Generationen sind wir Deutschen ausgestorben«, verkündete die Bild-Zeitung im März und ließ den »Demografieexperten« Herwig Birg (»Nichtgeborene können auch keine Kinder zeugen«) vorrechnen, dass die Zahl der Deutschen bis zum Jahr 2300 auf drei Millionen sinken werde. Wer gerät da nicht ins Träumen? »Ich habe das Gefühl, es gibt einen Wettbewerb um die dreisteste Darstellung des Problems, ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt«, sagte der Statistiker Gerd Bosbach im Mai dem Magazin Neon. Denn mit gewagten Thesen und Schreckensbotschaften lässt sich wunderbar Politik machen, Ideologie verbreiten und Geld verdienen.

Eine Überraschung enthielt der »Mikrozensus 2005«, der in der vergangenen Woche vorgestellt wurde: Fast ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands – und damit deutlich mehr als erwartet – hat einen »Migrationshintergrund«. Aus der Altersstruktur jener Gruppe zieht das Statistische Bundesamt jedoch den Schluss, dass zukünftig eine wachsende Anzahl von Personen »über keine persönliche Migrationserfahrung mehr verfügen« wird. Anders ausgedrückt: Die Zeit der Einwanderung ist vorläufig vorbei.

Die Migrationsbewegungen, die zu dem überraschenden Ergebnis geführt haben, hätte noch vor 50 Jahren kein Wissenschaftler voraussagen können, ebenso wenig die politischen Entscheidungen, mit denen der Staat die weitere Einwanderung eingeschränkt hat. Eine demografische Prognose aus dem Jahr 1900 wäre gründlich daneben gegangen, weil man Weltkriege und die industrielle Vernichtung von Menschen, Wirtschaftskrisen und Migrationsbewegungen, die Erfindung nahezu perfekter Verhütungsmittel und den »Gebärstreik« der Frauen in den meisten westlichen Ländern nicht hätte erahnen können.

Nach dem »Mikrozensus 2005« werden die Haushalte weiterhin geringfügig kleiner, und in immer weniger von ihnen leben minderjährige Kinder. Alternative Lebensformen, nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. Allerdings sind nach wie vor die meisten der Paare, die zusammenwohnen, auch verheiratet (neun von zehn), und Kinder wachsen am häufigsten in der Kleinfamilie mit Papa, Mama und mindestens einem Bruder oder einer Schwester auf.

»Unsere gegenwärtige Situation ruft ähnliche Assoziationen hervor wie das Jahr 1945: Auch heute muss sich Deutschland um den Wiederaufbau bemühen, aber die Einbruchstelle ist nun die Familie selbst«, schreibt Frank Schirrmacher in dem Buch »Minimum«, und man möchte gern sein Fieber messen. Aber der Wahn hat Konzept: Großmütter, Mütter und Töchter mit ihren »starken emotionalen Kompetenzen« sollen die familiären Trümmerfrauen geben. »Die These, Männer und Frauen seien im Prinzip gleich«, habe »uns lange in die Irre geführt«, lernt man. Auf dieser ideologischen Grundlage konnte Eva Herman in dem Magazin Cicero die rhetorische Frage stellen: »Die Emanzipation – ein Irrtum?«

In Anbetracht der ach so ernsten Lage der Nation avancierte das frühere Ministerium für »Gedöns« (Gerhard Schröder) unter der rot-grünen Regierung zu einem der wichtigsten. Renate Schmidt (SPD) erkannte, dass Familienpolitik auch Wirtschaftspolitik ist, und brachte etwa das kürzlich unter ihrer Nachfolgerin Ursula von der Leyen (CDU) beschlossene Elterngeld ins Gespräch, über das sich alle besser Verdienenden gefreut haben dürften.

Schon Norbert Blüm (CDU) wollte als Arbeitsminister der Regierung Kohl einen »demografischen Faktor« in das Sozialsystem einführen, obwohl der Staat wegen der geringer steigenden Löhne und der wachsenden Arbeitslosigkeit nicht mehr ganz so flüssig war wie zuvor. Unter den Argumenten für den Abbau des Sozialstaats unter Rot-Grün fehlte nie das der drohenden Vergreisung, obwohl sie längst stattgefunden hat. »In der Vergangenheit hat unsere Gesellschaft einen stärkeren Anstieg der über 65jährigen bewältigt, als dies in den nächsten 50 Jahren zu erwarten ist. In dieser Zeit ist der Sozialstaat in Deutschland aber nicht ab-, sondern aufgebaut worden«, heißt es in der Broschüre »Mythos Demografie« von Verdi.

Entgegen den Ergebnissen der »kleinen Volkszählung« behauptet der Spiegel, die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder ohne Geschwister aufwachsen, sei »groß«, und »in kaum einem anderen Land in Europa werden so wenig Kinder geboren wie bei uns«, als wäre die Geburtenrate nicht in fast 20 Staaten des Kontinents ähnlich oder noch niedriger.

Frank Schirrmacher verklärt einerseits völlig die Situation der so genannten Babyboomer-Jahrgänge, die mit der Gesellschaft »immer größer und erwachsener« geworden seien. Tatsächlich waren unter denjenigen, die heute etwa Mitte 40 sind und in voll gestopften Klassenzimmern und überfüllten Seminarräumen ausgebildet wurden, die ersten, die massenhaft die Erfahrung machten, auf dem Arbeitsmarkt überflüssig zu sein. Andererseits verteufelt er die »kürzeren Arbeitszeiten, längeren Urlaube, höheren Tarifabschlüsse« aus eben jener vermeintlich goldenen Zeit der Familie, die allenfalls wegen der vergleichsweise großen sozialen Sicherheiten und geringeren Arbeitsbelastung der Erwerbstätigen im Rückblick golden erscheinen könnte.

Im März beschuldigte das Fernsehmagazin Monitor die Bild-Zeitung, zum Zwecke der Werbung für eine »Volks-Rente« bzw. »Riester-Rente vom Marktführer Allianz Lebensversicherungs-AG« mit übertriebenen Zahlen gearbeitet zu haben. Das Blatt rechnete seinen Leserinnen und Lesern vor, welch klägliche »Schrumpfrente« sie zu erwarten hätten. »Bei vielen droht sogar die Gefahr der Altersarmut, wenn nicht zusätzlich privat vorgesorgt wird!« hieß es. Dem Aufruf: »Rente sich, wer kann!« folgten im vorigen Jahr 80 000 Leserinnen und Leser. Monitor fand in einer internen Vertreter­information der Allianz die Aussage: »Die Informationen zur Volksrente werden in zwei Formen aufbereitet – als Anzeige und als redaktionelle Artikel.« Norbert Blüm sprach daraufhin in der ARD-Sendung »Beckmann« von einer »Kampagne« für die vergleichsweise teure und unsichere Privatvorsorge, um gleichzeitig die staatliche Rente zu loben, als hätte er sie in seiner Zeit als Minister nicht faktisch gekürzt, sondern erfunden. Mit einem offenen Brief an den Chefredakteur Kai Diekmann legte er im Mai nach: »Ihr statistisches Material wird von einem Institut geliefert, das der Deutschen Bank nahe steht. Es strotzt aus allen Bild-Zeilen ein willfähriger Lobbyismus.« Da mochte er sogar Recht haben.

Dass auch ein konservativer Forscher wie Thomas Straubhaar vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut sagt, die demografische Entwicklung müsse kein Problem darstellen, weil die Versorgung der Rentnerinnen und Rentner in erster Linie von der Produktivität abhänge und diese weiter steigen werde, hinterlässt wenig Eindruck. Eine Studie des Finanzleisters USB kam in diesem Frühjahr zu dem Ergebnis: »Selbst bei einem höheren Transfer an die älteren Generationen wird das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter überraschend solide bleiben.«

Die rosigen Aussichten werden freilich nicht alle zu spüren bekommen. Vielleicht wissen sich die Überflüssigen der kapitalistischen Gesellschaften in ein paar Jahrzehnten keinen anderen Rat mehr, als Kinder in rauen Mengen als individuelle Altersvorsorge zu zeugen. Dann wird das nichts mit den weiten, blühenden Landschaften.