»Die Verlierer sind die Versicherten«

Hans-Ulrich Deppe

In der vorigen Woche haben sich die SPD und die CDU/CSU auf die Gesundheitsreform geeinigt. Die wichtigste Neuerung, die mit ihr einhergeht, ist der so genannte Gesundheitsfonds. In ihn zahlen Unternehmer und Lohnabhängige ein, hinzu kommen Steuergelder. Die Höhe der Beiträge wird gesetzlich festgelegt. Aus dem Fonds werden die Kassen finanziert. Kommen sie mit dem Geld nicht aus, können sie von den Versicherten einen Zusatzbeitrag erheben, über dessen Höhe gestritten wird. Dieser Beitrag soll ein Prozent des Einkommens des Haushaltes nicht überschreiten.

Hans-Ulrich Deppe ist Professor für Medizinsoziologie am Universitäts­kli­nikum in Frankfurt am Main. Mit ihm sprach Stefan Wirner.

Was halten Sie von der Einführung des Gesundheitsfonds?

Dieser Fonds ist eine Geldsammelstelle. Hier werden die Beiträge eingesammelt, und jede Kasse erhält für den Versicherten eine Grundpauschale daraus. In den Fonds fließen auch die Steuergelder hinein, etwa für die Kinderversicherung.

Im bisherigen Modus erheben die Krankenkassen, die etwa im Ruhrgebiet andere Beitragssätze haben als in Bayern, das hängt von den Einkommen der Kassenmitglieder ab, die Beiträge. Wenn eine Krankenkasse nicht genügend Geld hat, dann muss die Selbst­verwal­tung zusammentreten und demokratisch über die neue Beitragshöhe entscheiden. Halbdemokratisch muss man sagen, weil die Unternehmer ja 50 Prozent in diesem Gremium besetzen.

Mit dem neuen Fonds soll das nicht mehr der Fall sein. Die Beitragshöhe wird gesetzlich fixiert, d.h. die Krankenkassen verlieren ihre Finanzhoheit. Es findet eine Entmachtung der Krankenkassen und ihrer Selbstverwaltung statt.

Was bedeutet das für die Kassen?

Die Krankenkassen haben sich in den letzten Jahren zu Versicherungsunternehmen gemausert. Sie werden von professionellen Betriebswirten und Managern geführt und haben nicht mehr die Funktion, die sie früher eingenommen haben, nämlich Anwälte der Versicherten zu sein. Es sind Unternehmen, die ihre Arbeit nach Gesichtspunkten der Rentabilität verrichten.

Aber ich halte sie immer noch für sozialer und demokratischer als das, was mit dem Fonds auf uns zukommt. Es findet eine Verschiebung von Gestaltungsmacht statt, von den Kassen hin zur Politik. Der Beitragssatz wird gesetzlich, d.h. politisch festgelegt. Das ist hochinteressant in einer Phase, da alles auf die Privatisierung orientiert ist. Der Staat zieht hier Entscheidungs- und Gestaltungsmacht an sich, möglicherweise um nachher Privatisierungen noch leichter durchsetzen zu können.

Warum wurde so heftig über die Reform gestritten?

Gesundheitspolitik gerät unter bestimmten Bedingungen immer wieder in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen. Wir hatten das bereits in der Debatte in der CDU vor den letzten Bundestagswahlen. Im Streit, wer Spitzenkandidat der Union werden solle, Stoiber oder Merkel, stand die Gesundheitsreform auch im Mittelpunkt der Debatte.

Wie erklären Sie sich das?

Die Union und die SPD sind mit unterschiedlichen Modellen in den Wahlkampf gezogen. Das eine war das Modell der so genannten Kopfpauschale, das seit der Herzog-Kommission in der Union gefordert wird und eher privatorientiert ist wie die Autoversicherung. Das andere war das Modell der Bürgerversicherung, das von der SPD, aber auch von der Linkspartei und den Grünen vertreten wird und eher auf Solidarität ausgerichtet ist.

Die Bürgerversicherung ist eine Veränderung innerhalb des bisherigen Systems, das noch auf Bismarck zurückgeht. Die jetzige Versicherung, die auf Arbeiter und Angestellte ausgelegt ist, sollte um Selbstständige, Beamte und zusätzliche Kapitalerträge erweitert werden.

Die Kopfpauschale stellt ein völlig anderes Modell dar. Sie hätte einen Strukturwandel des Bismarck-Modells bedeutet. Von allen Akteuren im Gesundheitswesen, von manchen Unternehmern, Gewerkschaften, von den Krankenkassen, selbst von vielen in der Union wird es abgelehnt. Die Große Koalition wollte zwei Konzepte vereinen, die nicht zusammenpassen.

Gestritten wurde ja auch über den Zusatzbeitrag. Wenn es nach der CDU gegangen wäre, hätte er mehr als ein Prozent des Einkommens des jeweiligen Versichertenhaushalts betragen können. War das ein symbolischer Streit in einem Moment, da man die solidarische Versicherung abschaffte?

Der Zusatzbeitrag wird auch als die »kleine Kopfpauschale« bezeichnet. Holland und die Schweiz haben solche Pauschalen eingeführt. In der Schweiz sind diese Beiträge enorm angestiegen. Das ist doch auch klar. Wenn die kein Geld mehr haben, dann müssen sie es sich irgendwo holen. Und das tun sie natürlich bei den Versicherten. Die Versicherten in der Schweiz klagen heute durchweg über die hohen Beitragssätze.

Es war zu erwarten, dass um den Zusatzbeitrag gefeilscht werden würde. Die CDU wollte ja mehr. Wenn der Finanzminister Peer Steinbrück in zwei Jahren sagt, er habe kein Geld mehr und über Steuern könne das Gesundheitssystem nicht finanziert werden, dann wird genau an der Stellschraube wieder gedreht und der Zusatzbeitrag gesetzlich erhöht.

Was halten Sie von einer stärkeren Steuerfinanzierung des Systems?

Gegen eine Steuerfinanzierung ist an und für sich nichts einzuwenden, denn die Versorgung von Kranken ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Aber man muss genau auf die Steuerpolitik achten. Wer wird von der Steuerpolitik begünstigt, und wer wird benachteiligt?

Im vergangenen Jahr flossen 4,2 Milli­arden aus der Tabaksteuer in die gesetzlichen Krankenversicherungen. Dieses Geld wurde für das kommende Jahr gestrichen, weil der Finanzminister gesagt hat, er müsse Hauhaltslöcher stopfen, um den Maastricht-Kriterien gerecht zu werden. Da kam man sich vorstellen, welche Gefahren das in sich birgt, wenn man von der Beitragsfinanzierung übergeht auf die Steuerfinanzierung. Wenn der Finanzminister unter einer neoliberalen Finanzpolitik sagt, wir brauchen einen schlanken Staat, wir müssen konkurrenzfähig sein, die Sozialkosten müssen gesenkt werden etc., dann müssen die Ausgaben für das Gesundheitssystem reduziert werden.

Für dieses System wird mit dem Argument geworben, dass es den Wettbewerb anrege.

Unter Wettbewerbsbedingungen wird die Risikoselektion unter den Krankenkassen extrem verschärft. Sie werden ungeheuer darauf achten, dass sie keine kostenträchtigen Risiken versichern. Solche Versicherten werden sie raushalten oder rausekeln.

Warum wurde denn die Reform überhaupt gemacht? Ist das System tatsächlich so marode, wie es dargestellt wird?

Die wesentlichen Reformen im Gesundheitswesen, die seit 1989 gemacht wurden, sind ohne Not durchgeführt worden. Es war immer die Rede von der »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen, wegen der strukturelle Änderungen nötig seien. Diese »Kostenexplosion« ist nicht nur ein ideologisches Konstrukt, sondern eine Lüge. Sie lässt sich empirisch nicht nachweisen. Sie hat aber dazu geführt, dass am Bismarck-Modell herumgedoktert wurde. Das fing ja schon unter der rot-grünen Bundesregierung an und wird jetzt verschärft fortgesetzt. Die Verlierer sind die Versicherten.

Was wird die Reform bewirken?

Die Zuzahlungen werden steigen. Der Zusatzbeitrag, der alleine von den Versicherten, also nicht paritätisch mit den Unternehmern bezahlt wird, wird in die Höhe schnellen. Einkommensschwache werden sich dann einen vollen Versicherungsschutz nicht mehr leisten können.