Migration und Kämpfe

Perspektiven des Rassismus. Von Manuela Bojadzijev für den Kongress »Ungleichheit als Projekt«

Europa integriert: Antidiskriminierungsprogramme, neue Initiativen für Einwanderungsgesetze, Sprachkurse, Staatsbürgerschaftstests. Ähnlich dem Hartz IV-Motto »Fördern und Fordern« mischen die Maßnahmen in Sachen Einwanderung Motivation und Zwang, um mit der konstanten Neuzusammensetzung der Migration in und nach Europa umzugehen. Integration ist der Bannspruch, die Unstimmigkeiten zwischen jenen, die dazugehören sollen, und jenen, die ihre Teilnahme erlauben wollen, in einen gesellschaftlichen Konsens zu transformieren.

In Deutschland hat sich im Gegensatz zu den neunziger Jahren der damals aggressive Diskurs – und ich spreche hier nicht von der Politik, wie sie sich in Gesetzesvorschriften und Abschieberegelungen niederschlägt und exekutiert wird – allgemein in eine moderate Debatte übersetzt. Stereo­type vorsichtig umgehend, sensibel erörternd, stellt sich der Diskurs über die Migranten gepflegt dar: Nicht alle Türken sind Muslime, nicht alle Muslime fundamentalistisch, nicht alle Ausländer denken sexistisch, nicht jedes Kopftuch signalisiert Unterdrückung, nicht alle Rütli-Schüler sind destruktiv, nicht jeder Russe ist bei der Mafia, nicht alle Schwar­zen sind Drogen­dealer, nicht alle Ausländer nehmen die Arbeitsplätze weg, kurzum: Die Dinge mit den Migranten sind komplex.

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Wie sollen wir Rassismus in einer Situation begreifen, in der der Integrationskonsens diktiert, dass Rassismus ein Residuum und im Verschwinden begriffen ist? Welches Verständnis von Rassismus entwickeln wir in einem Moment, in dem Integration verspricht, mit den überbleibenden Spannungen und Widersprüchen der Einwanderungsgesellschaft in Europa umzugehen?

Manche Stimmen zweifeln an dem apostrophierten Konsens. Sie fragen sich, ob eine Gesellschaft tatsächlich nach ihrer Fähigkeit bestimmt werden kann, gouvernementale, ökonomische und soziale Maßnahmen so im Gleichgewicht zu halten, dass Einwanderungsprozesse zu managen und zu regulieren wären. Und ob Integration die Migranten tatsächlich Schritt für Schritt in die »demokratische Teilhabe« führt. Zu Recht verweisen sie auf die Asymmetrien, die immer wieder durch Integration als staatlichem Imperativ reproduziert werden.

Diese Kritik im Blick, möchte ich eine andere Perspektive einnehmen. Was wäre, wenn wir, anstatt mit dem Finger auf die Probleme fehlender Partizipation und mangelnder Repräsentation zu deuten, was durchaus nicht zu Unrecht geschieht, die Debatten um Integration als eine Form verstehen, in unangemessener Weise über Ausbeutung und Rassismus zu sprechen? Kann diese Unangemessenheit nicht Ausgangspunkt sein, um über das gegenwärtige Verhältnis von Kapitalismus und Rassismus in Europa nachzudenken? Braucht der gegenwärtige Kapitalismus Rassismus?

Die Mängel der Integrationsdebatte verweisen geradewegs auf die heikle Annahme, es gebe eine funktionale Verbindung von Kapitalismus und Rassismus. Selbstverständlich gibt es kein Subjekt Kapitalismus, das den Rassismus braucht, nicht mal der Staat braucht den Rassismus. Und bei Rassismus können wir auch nicht von einer Ideologie sprechen, sondern sollten eher von ideologischen Rassekonstruktionen ausgehen. Wie bilden sich heute diese ideo­logischen Rassekonstruktionen an der Schnittstelle, an der sich Ökonomie und Staat verbinden und an der sie zugleich konkurrieren? Welche Formen politischer Subjektivität gehen daraus hervor?

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Wenn es nicht möglich ist, Rassismus als das Resultat einer Zweckmäßigkeit (Kapitalismus braucht Rassismus) verstehen zu wollen, wie erklären wir dann die Herausbildung immer neuer historischer Konjunkturen des Rassismus? Zunächst lässt sich zumindest sicher behaupten, dass Kapitalismus niemals ohne Arbeitskraftmobilität ausgekommen ist.

Das tritt heute durch die globalen Migrationsbewegungen, die millionenfache Freisetzung von Arbeitskräften, so deutlich hervor wie nie zuvor. Über Ausbeutung zu sprechen und nicht die Frage nach der Veränderung von Grenzen und der Bürgerrechte aufzuwerfen, ergibt kaum noch Sinn. Das Migrationsregime spielt eine Schlüsselrolle darin, die lebendige Arbeit dem Kapital in ihrer Gesamtheit zu unterwerfen. Wollen wir die Frage der (Klassen-)Kämpfe erneut aufgreifen, bedeutet es zugleich zu begreifen, dass die politischen Subjektivitäten weit über die national- und sozialstaatlichen Rahmen hinausgehen und zugleich viel kleiner, weniger umfassend sind und sich immer wieder neu zusammensetzen, anders als das im Konzept von Klasse bisher gedacht war.

Die (Klassen-)Kämpfe der Zukunft, wenn wir sie so noch nennen wollen, müssen darum auch andere Orte entdecken (nicht nur die Fabrik), unbekannte Allianzen erschließen (nicht »das gemeinsame Interesse«), neue Zeitlichkeiten erfinden (nicht die teleologische Zeit), neue Verbindungen (der Kommunikation) schaffen und andere Repräsentationsformen (d.h. neue Institutionen) suchen. Viele Konzepte des Antirassismus und des Feminismus – selbst noch in ihrer Kritik – und zahlreiche andere Ansätze, die glauben, das Konzept des Klassenkampfs überwunden zu haben, setzen sich selten mit den internen Problemen marxistischer Theoriebildung auseinander und treten bis heute das Erbe seiner Mängel an.

Migration scheint die Möglichkeit zu bieten, über diese Engpässe und Aspekte diskutieren zu können. Die Kontrolle über Mobilität und Flexibilität auf verschiedenen Ebenen kommt hier klar zum Vorschein. Im Migrationsregime stoßen Arbeit und Kapital aufeinander. Die derzeit zu beobachtenden widersprüchlichen Versuche, Migrationsbewegungen zu befördern und zu verhindern, bringen nur eine der konstitutiven Gewalten zum Ausdruck, die diesen Zusammenstoß kennzeichnen.

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Zunächst können wir versuchen, Rassismus der Definition nach auf die kapitalistische Gesellschaftsform zu begrenzen. Wollen wir einen Rassismusbegriff vermeiden, der bei der Beschreibung verschiedener Existenzformen des Rassismus stehen bleibt, der also Antiislamismus, Antisemitismus, postkolonialen Rassismus, Neorassismus, Antiziganismus, biologisch argumentierenden Rassismus etc. unterscheidet, definiert und ihren Kontinuitäten nahe legt (oder schlimmer: diese Existenzformen unter Zuhilfenahme eines Opferschemas hierarchisiert), müssten wir in der jetzigen Situation ein Verständnis der Gleichzeitigkeit und Allgegenwart verschiedener ideologischer Rassenformationen erarbeiten.

Die aktuelle Konjunktur würde dann als eine Form, oder besser: als eine herrschende Form zu beschreiben sein, die die ideologischen Rassekonstruktionen im Ganzen bestimmt.

Zweifellos befinden wir uns in einer Situation des Übergangs. Bis heute ließe sich die aktuelle Konjunktur des Rassismus in Europa unter Rückgriff auf die Überlegungen Etienne Balibars als »europäischer Rassismus«, als Neorassismus beschreiben. In seinem etwa 15 Jahre alten Aufsatz »Es gibt keinen Staat in Europa« argumentiert er, dass dieser Rassismus sich sowohl durch das koloniale als auch durch das antisemitische Schema zusammensetzt, die sich im Antiislamismus verbinden. Meines Erachtens enthält dieses Argument, zusätzlich zu seiner konzeptuellen Nützlichkeit, eine Kritik zweier Mängel, die im Zusammenhang gegenwärtiger Rassismusanalysen häufig anzutreffen sind.

Das Konzept des Neorassismus kritisiert zum einen eine Vorstellung von Kontinuität, welche den Rassismus, anstatt ihn in seiner aktuellen Konjunktur zu konzeptualisieren, in direkter Kontinuität zu entweder seiner kolonialen oder nationalsozialistischen Herkunft verortet. Zum anderen bietet das Konzept des Neorassismus eine Kritik einfacher Analogien, die Begriffe aus einer Situation in einer andere überträgt. Wie weit reichen Konzepte, die Rassismus in Deutschland mit Begriffen und Traditionen erklären, die in einem britischen oder US-amerikanischen Kontext entstanden sind?

Tatsächlich spricht Balibar von »nationalen Situationen«, in denen sich bestimmte Verbindungen von Migration und Rassismus ausbilden und artikulieren. Zur gleichen Zeit unterstützt und beschleunigt der »Aufbau Europas« die Annäherung dieser unterschiedlichen Formen.

15 Jahre nachdem Balibar das Konzept des Neorassismus in eben jenem europäischen Kontext vorgestellt hat, können wir das Auftauchen und die Herausbildung einer transnationalen Situation beobachten, nicht nur in der aktuellen Formation des Antiislamismus oder des Neorassismus. Keine Diskussion über das Kopftuch, die nur in einem Land geführt wird; keine Aufstände in Vororten, die nicht ihre skandalisierenden Vergleiche von Ghettos in anderen Ländern nach sich ziehen; keine Pisa-Studie, die nicht einen Kompetenzvergleich nach sich zieht; keine erfolgreiche Fußballnationalmannschaft, die nicht die Frage der nationalen Zugehörigkeit großzügiger auslegt; keine Ideen von neuen Einwanderungsgesetzen, die nicht europäische Dimensionen heraufbeschwört. Aber auch keine Versuche, migrationspolitische und antirassistische Initiativen auf europäischem Niveau auf die Beine zu stellen, die nicht mit Übersetzungsschwie­rigkeiten kämpfen; Übersetzungsschwierigkeiten nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern eben auch hinsichtlich der Begrifflichkeiten und der Traditionen und Erfahrungen der Kämpfe der Migration, der Kämpfe um soziale und politische Bürgerrechte.

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Eine Erforschung der spezifischen historischen Konjunkturen des Neorassismus, sozialer Herrschaft und Kontrolle in kapitalistischen Gesellschaftsformationen stellt einen Anfang dar. Aber ich möchte das Argument einen Schritt weiter führen. Der Umstand, wie Rassismus sich gegenwärtig in Europa konstituiert, benötigt eine eigenständige Untersuchung.

Wenn wir davon absehen, eine gegebene Haltung gegenüber Migranten in europäischen Gesellschaften zu behaupten, und auch nicht voraussetzen wollen, dass das System der Arbeitsmigration den Rassismus erst produziert hat, dann müssen wir den Fokus unserer Analysen auf die Bedingungen der Konstitution des Neorassismus in den Spuren der Kämpfe der Migration überall in Europa richten. Das erst schafft die Voraussetzung dafür, eine relationale Theorie des Rassismus zu entwickeln.

Ein relationales Verständnis von Rassismus nimmt die Kämpfe gegen Rassismus als Ausgangspunkt und nicht die Subjekte, die durch den Rassismus konstruiert werden. Aus diesem Grund spreche ich nicht nur von den Kämpfen der Migrantinnen und Migranten, sondern auch von den Kämpfen der Migration. Eine Historiographie dieser Kämpfe muss die Subjektivierungen in Betracht ziehen – und zwar in doppeltem Sinne: zum einen im Sinne der Rekonstruktion der Beharrlichkeit der Migrantinnen und Migranten, die sich in sozialen Auseinandersetzungen zu Subjekten konstituieren. Zum anderen muss eine Historiographie migrantischer Kämpfe die Geschichte ihrer rassistischen Unterdrückung berücksichtigen. Nur wenn wir dieser doppelten Verbindung im Prozess der Subjektivierung nachgehen, können wir von den mächtigen Effekten lernen, die aus der Geschichte der Kämpfe der Migration hervorgehen.

Rassismus hat niemals immer die gleiche Gruppe von Leuten auf die gleiche Weise ausgegrenzt und unterdrückt. Mit dem Fokus auf den Kämpfen können wie einer Vorstellung von Migration entgegenarbeiten, die Migranten allein als Opfer oder Objekte von Rassismus oder Einwanderungsgesetzen denkt. Zugleich zwingt uns ein Insistieren auf Migration als sozialer Bewegung, Individuen nicht zu Helden sozialer Kämpfe zu stilisieren oder Kämpfen überhaupt eine emphatische Bedeutung zuzusprechen. Eine relationale Theorie des Rassismus zielt darauf zu zeigen, auf welche Weise Rassismus durch Kämpfe gezwungen ist, sich zu reorganisieren.

Was ich hier vorschlage, ist – um es klar zu sagen – ein Wechsel in der Analyse des Rassismus: dass wir die Veränderungen in der Organisation und Entwicklung des Rassismus durch den Fokus auf die Perspektive des Widerstands und der Kämpfe der Migration verstehen lernen. Rassismus ist kein feststehendes ideologisches Muster, sondern ändert seinen Charakter: seine Argumente, seine Objekte, seine Erscheinung, seine Ziele, seine Organisationsformen. Insofern können wir nur Konjunkturen des Rassismus in der Geschichte untersuchen.

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Um auf die aktuelle Konjunktur des Rassismus zurückzukommen – wie können wir diese heute erkennen? Weit davon entfernt, nur auf kulturellen Grundlagen zu arbeiten, wechselt Rassismus zwischen biologischen und kulturellen Erklärungsmustern, Zuschreibungen und Stigmatisierungen. Superiorität und Inferiorität, Einschließung und Ausschluss korrelieren mit kulturellen Normierungen und werden dann biologisiert – und umgekehrt.

In diesem Sinne ist jeder historische Rassismus eine projektive Konzeption, die versucht, soziale Unterschiede, Hierarchien und Herrschaft zu erklären. Diese »Erklärungen« sind sowohl in alltäglichen Praktiken wie in staatlichen Regulationsformen der Bevölkerung eingeschrieben. Im Fall des Antiislamismus wird das koloniale und das antisemitische Schema perfekt kombiniert: Hier werden Vorstellungen von rassistischer Superiorität von kultureller und religiöser Rivalität überlagert.

Natürlich ist der Antiislamismus kein neues Phänomen. Seit dem 11. September 2001 ist das Kopftuch ein sichtbares Zeichen in der Diskussion um Einwanderung und Terrorismus für die Verbindungen von beidem geworden. Sowohl im Antiislamismus wie im Antisemitismus hat die Verknüpfung von Religion und Bürgerrechten dazu beigetragen, die Linie zwischen Einschließung und Ausschluss zu ziehen.

Aber Rassismus existiert nicht ohne seinen Gegenpart, also die Kämpfe gegen ihn. Dies zu behaupten, soll keineswegs die Grausamkeit des Rassismus herunterspielen, sondern dazu beitragen zu verstehen, wie Rassismus sich im Verlauf der Geschichte verändert, und die Art und Weise zu erkennen, in der politische Subjektivitäten sich im Kampf gegen Rassismus konstituieren.

Auf die Formen des Widerstands zu fokussieren, bedeutet nicht, eine Symmetrie oder Balance zwischen den Praktiken der Beherrschten und der Herrschenden zu behaupten. Die Kräfte begegnen sich nicht auf der derselben Ebene oder bilden ein einziges System der Interaktion aus.

Aber es bedeutet zu betonen, dass die Resultate von Konflikten nicht vorherbestimmt sind. Und nur in diesen sozialen Auseinandersetzungen, in denen sich neue Formen von Kooperation und Kommunikation herausbilden, werden neue Formen des Lebens erprobt, die sich immer wieder neu bewähren müssen. Hier stellen sich die Fragen der Integration ganz anders.