Der Bio-Staat

Lebenswissenschaften zwischen deutscher Kolonialität und Nationalsozialismus. Von Timm Ebner

»Der Schrecken der Doomsday-Maschine liegt in ihrer automatischen und nicht rückgängig zu machenden Beschlussfassung«, sagt Dr. Seltsam. Stanley Kubricks Satire »Dr. Strangelove or how I Learned to Love the Bomb« von 1964 greift mit der Figur des Dr. Seltsam den Gemeinplatz des »Mad Nazi Scientist« auf, eine gängige Variante der allgemeinen Wahrnehmung der Nazi-Wissenschaften. Diese »Exotisierung« ist zwar verständlich, weil die wissenschaftlichen Objektivitätsformen des Nationalsozia­lismus oberflächlich gesehen abwegig erscheinen. Allerdings entgeht dieser Perspektive die gesellschaftliche Konstellation, in der eben diese spezifische, damals noch neue Form einer biopolitischen »Symbiose« von Lebenswissenschaften und Staat entstehen konnte.

Ann Laura Stoler macht für die Niederlande, Frankreich und Großbritannien um 1900 den Übergang zu einem new racism aus. Dieser funktionierte nicht mehr primär über Biologismen, sondern eher über kulturell definierte Verhaltensmuster. Verantwortlich dafür sind die konkreten Gegensätzlich­keiten des kolonialen Alltags, die die segregationistisch-kolonialpolitischen Visionen brachen. Vor allem das Entstehen einer »gemischten« Bevölkerungsgruppe durch sexuelle Beziehungen von »weißen« Männern mit »farbigen« Frauen stellte langfristig die Grenzen einer in erster Linie biologistisch definierten »race« in Frage. Um sie in die koloniale Hierarchie einzufügen, musste den »Mischlingen« die Möglichkeit angeboten werden, die französische, holländische, britische Staatsbürgerschaft zu erlangen, die dann entlang kultureller Kriterien zu erreichen war.

In den deutschen Kolonialgebieten waren die »gemischten« Bevölkerungsgruppen vergleichsweise gering. Die Aufrechterhaltung der kolonialen Herrschaft wurde hier nicht durch kulturelle Vermischungen gefährdet. Die deutsche Politik und Kolonialverwaltung erkannte aber anhand des Beispiels der anderen Kolonialnationen, dass dies langfristig für die Stabilisierung der Kolonialherrschaft nicht ausreichen würde. Die gesamte Mikrophysik des kolonialen Alltags musste durch einen aufwändigen Apparat von Vorrichtungen zum Teil sehr unterschiedlicher Ordnungen entlang der Grenzen der »Rassen« strukturiert werden. Diese segregationistischen Investitionen erfolgten vor allem über eine Medizinisierung der kolonialen Gesellschaft.

Foucault beschreibt die in den Diskursen um die Lepra enthaltene Metaphorik als Grundprinzip der normierenden Ausschließung. Tatsächlich ermöglichten epidemisierende Diskurse der Kolonialmedizin die Installation des segregationistischen Imperativs in fast jede Alltagssituation; etwa die Neuschreibung ganzer Stadtbilder entlang einer Trennung von »Europäervierteln« und »Eingeborenendistrikten«. Die Lepra-Metaphorik konnte dabei auch ganz buchstäblich auftreten, wie 1898 in einer Rede des Reichskanzlers Bernhard Bülow zur Situation in der deutschen Kolonie in China: »Wir haben alle Ursache, uns gegen chinesische Einwanderung zu wehren, namentlich, wenn dieselbe die Gefahr des Aussatzes, wie jüngst vielfach erörtert worden ist, für Deutschland mit sich bringt.«

Doch nicht nur die Medizin experimentiert in den neuen Quarantänegesellschaften, auch die anderen Lebenswissenschaften schreiben sich in die koloniale Weltkarte ein. Eine Unzahl an »Reiseberichten«, Konferenzen, Ausstellungen, Zeitschriften und Messen prägt die koloniale Erfahrung im Gedächtnis der Metropolen.

Rassistische Konzeptionen sind bereits zu Beginn der Weimarer Republik Teil eines etablierten Konsenses, der auch im linken Lager Anhänger findet. Allerdings ist das Schicksal der Weimarer Republik noch keineswegs besiegelt. Erst das Bündnis von konservativen Kräften mit den Nationalsozialisten wird auf der Grundlage der Pattsituation der gesellschaftlichen Kämpfe der Republik ein Ende setzen (s.a. Nicos Poulantzas Rezeption der Marxschen Bonapartismus-Theorie).

Die »Rassenhygiene« installiert sich durch das networking innerhalb gesellschaftlicher Eliten als feste Größe an den Universitäten. Vor allem die semistaatlichen »Kaiser-Wilhelm-Institute« werden zu regelrechten Think Tanks der rassistischen Debatten. Bereits zu diesem Zeitpunkt initiieren sie eine Verflechtung mit biopolitischen staatlichen Gremien. Eugenischen und »rassehygienischen« Diskursen kommt hierbei eine tragende Rolle zu, bereits ab 1923 werden im Reichstag Entwürfe für ein Sterilisierungsgesetz debattiert.

Erstaunlicherweise war die Mehrzahl der Anthropologen und »Rassenforscher« nicht explizit antisemitisch. Eugen Fischer etwa geriet mit den Nazis in Konflikt, weil er zunächst der »jüdischen Rasse« keine »Minderwertigkeit« attestieren wollte. Es ist gerade so, als hätte die Anthropologie die neu gewonnene »relative Autonomie« (Louis Althusser), die ihr einen Platz in den ideologischen Staatsapparaten verschaffte, vor allem im Bezug auf den Antisemitismus eingefordert.

Allerdings war das am Ende nicht entscheidend, weil zum einen der Antisemitismus in der Restgesellschaft seit langem fest verankert war, zum anderen weil die Anthropologie die Unterscheidbarkeit einer »jüdischen Rasse« diagnostizierte; in dieser Differenzsetzung lieferte sie die Kategorien für die rassistische Intervention, vollkommen gleich, ob der jeweilige Autor Philosemit oder Antisemit war.

Einen späten Versuch der Adaption antisemitischer Alltagsdiskurse in die Anthropologie unternahm 1940 der antisemitische Anthropologe Friedrich Keiter mit seiner »Formel« vom »Juden« als »Neger mit hoher Begabung«. Die entscheidende Intervention der Lebenswissenschaften in die Rassismen der Alltagsdebatten war bereits lange vollzogen, die »rassischen Fremdkörper« waren zu »Schädlingen am Volkskörper« geworden. »Der gleiche Kampf, den Pasteur und Koch haben kämpfen müssen, muss heute von uns geführt werden. Zahllose Erkrankungen haben die Ursache in einem Bazillus: dem Juden! Wir werden gesund, wenn wir den Juden eliminieren«, sagte Adolf Hitler.

Die Durchdringung des Staats via lebenswissenschaftlicher Anordnungen erreichte im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt. Die Bevölkerung wurde in ein Netz rassistischer Ökonomien eingespannt, die nach »rassisch hochwertig« und »rassisch minderwertig« selektierten und entlang dieser Hierarchie entweder Einschließung in den »Volkskörper« in Form von wohlfahrtsstaatlichen Zuwendungen oder Ausschließung bedeuten konnten.

Mit der fortschreitenden Durchsetzung der »rasse«-politischen Paradigmen ersetzen medizinisch-biopolitische Verfahrensweisen die juristischen sukzessive und bald komplett. Werden zu Beginn noch relativ viele rassistische Verfolgungsmaßnahmen legalisiert, wie etwa in den Sterilisierungsgesetzen von 1933 oder den »Nürnberger Rassegesetzen« von 1935, so bleibt der rechtliche Nachvollzug insbesondere nach Kriegsbeginn 1939 immer häufiger aus.

Die Lebenswissenschaften wandelten sich ab 1933 insgesamt eher in Vollzugsorgane, in angewandte Wissenschaften, die keinen neuen Beitrag zur theoretischen Debatte mehr beisteuern sollten. Ihre wesentliche Aufgabe war fortan die Erfindung von Ermittlungsverfahren zur Definition der Auszuschließenden. Dabei waren sie fast immer weit davon entfernt, eine »rassenanthropologische« Untersuchung durchführen zu können, und erstellten Genealogien anhand der Eintragungen in den Kirchenbüchern und Behörden.

Von der Vernichtungspolitik im Rahmen des Holocaust profitierten insbesondere die »Kaiser-Wilhelm-Institute« auf makabre Weise, indem sie menschliches Versuchsmaterial für ihre Forschungen aus den Konzentrationslagern bezogen.

Insbesondere das Beispiel der »Rassenkunde« zeigt nach Kriegsende, wie inadäquat die Konzeption einer »Stunde Null« ist. Eugen Fischer und andere wurden keineswegs als Gehilfen der Vernichtungspolitik verurteilt, die setzten vielmehr ihre wissenschaftlichen Karrieren fort. Bis Mitte der Neunziger stellten die Ausläufer der »Rassenanthropologie« in den Lebenswissenschaften eine etablierte Forschungsmeinung dar. In vielen Bereichen, die eher praktisch denn theoretisch arbeiten, wie z.B. die Gerichtsmedizin, sind die Verfahrensweisen der »Rassenkunde« noch hochaktuell.

Für die Lebenswissenschaften waren die Kolonien die »Laboratorien der Moderne« schlechthin, zumal im Kaiserreich die deutsche Kolonialität mit der Phase der »Verstaatlichung des Biologischen« (Foucault) zusammenfällt. Auf der Grundlage der gesamtgesellschaftlichen Dynamiken hatten sie sich zu Beginn der Weimarer Republik an den Universitäten etabliert und setzten nun dazu an, sich ein politisches Anwendungsfeld zu schaffen. Mit dem »Dritten Reich« eröffneten sich hier ungeahnte Möglichkeiten.

Die Nationalsozialisten andererseits trafen auf ein vorbereitetes, zumeist eugenisches Feld staatlicher Sozialtechniken, dass sie nur zu radikalisieren und auf andere Felder auszubreiten brauchten. Die »Rassen«-Politik war dabei alles andere als eine »Doomsday-Maschine«. Vielmehr unterlagen die gesellschaftlichen Kräfte, die eine Alternative zu rassistischen Argumentationen eröffneten, 1933 in letzter Instanz, was den vermeintlich »verrückten« oder »unmoralischen« Wissenschaftlern ein ungeahntes Betätigungsfeld eröffnete.