»Rassische« Gene

Über die Aktualität von Rassismus und Rassifizierung in den Genwissenschaften. Von Thomas Brückmann (AG gegen Rassismus)

»BiDil« war das erste Medikament, das »rassisch« spezifiziert zugelassen wurde. Die Mitte Juni vorigen Jahres von der US- Arzneimittelbehörde zugelassene Pille ist dem Beipackzettel zufolge speziell bei afro­amerikanischen Menschen wirksam. Die Entscheidung löste eine Debatte um »Rasse« und Genetik aus, in der sich vor allem populäre Genetiker wie Craig Venter und Francis Collins zu Wort meldeten. Venter zufolge sind Gene »farbenblind« und »Rassen« ohne genetische Basis, wohingegen Collins behauptet, »Ethnien« hätten biologische Grundlagen. Warum aber kommen Genetiker und Genetikerinnen zu Wort, wenn sich die Frage nach der Existenz von »Rassen« stellt? Mit welchen Prämissen argumentieren sie dabei?

Gegenwärtig lässt sich von drei Positionen zur »Rasse« in der Biologie und den Genwissenschaften sprechen. So bezeichnet Rainer Knußmann, ehemaliger Leiter des Humanbiologischen Instituts in Hamburg, in einer Veröffentlichung von 1996 die »geographische Differenzierung des Menschen« als »Rassenkunde« und verdeutlicht dies anhand von »Rassetafeln« aus dem Jahr 1936. In seinen sozialdarwinistischen Begründungen bleibt auch eine »jüdische Rasse« denkbar, da sich durch Verfolgung und Benachteiligung »nur solche Erblinien halten, die besonderes Durchsetzungsvermögen in unseren europäischen Gesellschaften gewährleisten«.

Neben solchen neonationalsozialistischen Auswüchsen finden sich Beispiele jüngeren Datums. So faselte der Berliner Biologieprofessor Andreas Elepfandt in seinen Veranstaltungen vor eineinhalb Jahren noch davon, dass »beim Menschen meist von acht bis elf Rassen gesprochen« werde und rassistisches Verhalten zum Teil genetisch bedingt sei.

Die zweite Position geht zwar von der Existenz menschlicher »Rassen« aus, plädiert jedoch wegen der »politischen Brisanz« für den Verzicht auf diesen Begriff. So schreibt der Biologe und Genetiker Sherwood Washburn von der Möglichkeit der Einteilung von Menschen in »Rassen«, nimmt jedoch wegen der Befürchtung des »Missbrauchs« davon Abstand.

Diesen beiden Positionen steht eine dritte entgegen, welche die Existenz von »Rassen« für widerlegt hält. Wichtigste Vertreter sind der italienische Genetiker Luca Cavalli-Sforza und der deutsche Biologe Ullrich Kattmann. Ihnen zufolge könne nicht von »Menschenrassen« gesprochen werden, da »3/4 der menschlichen Gene nicht variieren« würden und der »größte Anteil der genetischen Unterschiede zwischen Menschen nicht zwischen, sondern innerhalb der geographischen Populationen« zu finden sei.

Ist damit die Existenz von »Rassen« widerlegt? Lässt sie sich genwissenschaftlich widerlegen? Was hieße es, wenn Molekularbiologinnen und -biologen die gegenteilige Varianz »entdeckten«? Wäre damit die Existenz von »Rassen« begründet?

Postkoloniale Theoretikerinnen und Theo­retiker verzichten gänzlich auf biologistische Erklärungsmuster. Philomena Essed, Edward Said, Ruth Frankenberg und Grada Kilomba denken »Rasse« nur in Zusammenhang mit Rassismus. Sie sei Effekt von Rassifizierung und wird nicht als essenzialistische oder biologische Entität gesehen, sondern als soziale Konstruktion, die jedoch wirkmächtig ist. Frankenberg schreibt: »Es kann also keineswegs argumentiert werden, dass es zuerst ›Rassen‹ gab, die erst später in eine hierarchische Rangordnung gebracht wurden … Rasse ist daher ein zutiefst politischer Begriff und historisch ebenso belastet wie der Begriff Rassismus.«

Grada Kilomba zufolge beinhaltet der Prozess der Rassifizierung die Herstellung von Differenz, wodurch Menschen wegen ihrer »rassischen« oder ethnischen »Zugehörigkeit« unterschieden werden. Er sei mit hierarchischen Zuschreibungen verknüpft, womit das »rassisch Andere« mit Inferiorität gleichgesetzt werde, und stehe in Verbindung mit Macht und Herrschaft, deren Effekt die Privilegierung und politische/diskursive Wirkungsmacht von als weiß rassifizierten Subjekten sei.

Warum beziehen sich die Lebenswissenschaften allein auf die Genetik, wenn es um die Frage nach der Existenz von »Rasse« geht? Der »genetischen Revolution«, die seit Ereignissen wie der »Entdeckung« der DNA enorme Mengen an Wissen freisetzt, folgte die Durchsetzung molekular­biologischer Methoden in allen lebenswissenschaftlichen Bereichen. Wurde vormals bei der Frage nach »Rasse« die Anthropologie zu Rate gezogen, so ist nun die »Wahrheit« in den angeblich alles determinierenden Genen zu finden.

Die Debatte um den biologistischen »Rasse«-Begriff wurde in den Genwissenschaften vor allem im Umfeld zweier prominenter Projekte geführt: dem Human Genome Project (HGP) und dem Human Genome Diversity Project (HGDP). 1990 begann das HGP die Sequenzierung des menschlichen Gens und verkündete 2004 die »Entschlüsselung«. Damit schien der »Rasse« die Grundlage entzogen, denn bei zwei auf der Welt zufällig ausgewählten Individuen stimme die DNA zu 99,9 Prozent überein.

Doch diese Zahl täuscht darüber hinweg, dass die Genetikerinnen und Genetiker weiter an ethnisch zuschreibbaren »genetischen Unterschieden« forschen, denn 0,1 Prozent sind immerhin drei Millionen Punkte auf dem Genom. So entwickelte sich vor allem in den USA eine »ethnische Medizin«, die das Herzmedikamt BiDil entwickelte oder eine einheitliche Kategorisierung nach »Ethnie« und »Rasse« für klinische Versuche empfahl. Dass diese zeitliche Nähe zur Arbeit des HGP nicht widersprüchlich ist, verdeutlicht ein Beispiel aus dem Jahr 2004. Auf dem jährlichen Weltkongress der Human Genome Organisation forderte Abdallah Daar, Vorsitzender der Ethikabteilung der Organisation, die Wiedereinführung des »Konzeptes der Rasse«, um eine für »Subpopulationen« maßgeschneiderte Medizin zu ermöglichen.

Das HGDP wurde zur Erforschung genetischer Unterschiede zwischen »Völkern« gegründet. Cavalli-Sforza, Leiter des Projekts, erstellte eine Liste von etwa 700 »bedrohten Völkern«, die möglichst schnell kartografiert werden müssten, da sie »auszusterben drohen«. Das Anfang der neunziger Jahre ins Leben gerufene Projekt arbeitet mit einem der biologistischen »Rasse«-Auffassung entsprechenden Begriff. Die »ausgewählten Völker« heißen im HGDP-Sprech »Isolates of Historic Interest«, eine Formulierung, die dem Reinheitsbegriff nationalsozialistischer »Rasse«-Theorien sehr nahe kommt.

Allerdings erlebte Cavalli-Sforza einen Sinneswandel und behauptete in seinem 1994 veröffentlichten Werk »Verschieden und doch gleich«, der »Rasse«-Begriff sei genwissenschaftlich widerlegt. Gleichzeitig bemerkt er, dass Rassismus wohl weiter existieren wird, und macht grandiose Vorschläge wie etwa den, »die Zuwanderung von Fremden (nach Europa) durch strenge Kontrollen zu verlangsamen und eine Zeit lang vielleicht ganz zu stoppen«, da »wir die Demut haben müssen einzuräumen, dass wir jenen Grad an gesellschaftlicher Reife« noch nicht erreicht hätten.

Damit zeigt er sich kreativ darin, der rassistischen Abschottungspolitik Europas neue Argumente zu liefern. Das von ihm ini­tiierte HGDP existiert bis zum heutigen Tag, steht in Zusammenhang mit dubiosen Patentierungsversuchen »indigener DNA« und liefert Forschungsdaten für Biowaffen, die nur eine bestimmte »Ethnie« angreifen sollen.

Die Betrachtung der Debatten um diese zwei Projekte deutet an, dass neben den expliziten Verwendungen des »Rasse«-Begriffs andere Wendungen auftauchen: »Ethnie«, »Metapopulation«, »Volk« oder »Gemeinschaft«. Wird mit diesen weniger biologistisch gedacht? Für die Diskussion dieser Frage sei ein Beispiel aus dem näheren Umkreis herangezogen: Die genetische Landkarte am Institut für Forensik der Berliner Charité. Das Projekt beinhaltet die Sammlung von 38 000 Gendaten aus aller Welt, die nach »Herkunft« und »kontinentaler Zugehörigkeit« erfasst sind. Die Vision des Leiters Lutz Roewer wurde 2002 versuchsweise getestet, als mittels DNA-Analyse eines Täters die Herkunft mit »großer Wahrscheinlichkeit« zu bestimmen sein sollte: »Southern Europe«. Er sei »absolut dafür, dass man möglichst viel über so einen Täter herausbekommt«.

Hier wird eine neue Tendenz innerhalb der Lebenswissenschaften deutlich. Arbeiteten Rassifizierungen bisher hauptsächlich mit dem äußeren Erscheinungsbild, so werden nun den Genen »rassische« Eigenschaften zugeschrieben, in völliger Abwesenheit eines Individuums.

Diese Entwicklung scheint auch die rechte Zeitschrift Nation und Europa erkannt zu haben, die das Projekt als »moderne Rassenkunde Europas« bezeichnet, an der »Heinrich Himmler … seine helle Freude gehabt« hätte.

Bleibt die Frage, wie eine kritische Position zu den Genwissenschaften zu formulieren ist. Ist es möglich, hier ein sozialkons-truktivistisches Verständnis von »Rasse« zu etablieren, welches medizinische Auswirkungen von Rassismus reflektieren könnte? Diese Frage muss vorerst verneint werden, denn das Grundmotiv der Genetik ist die Untersuchung der Korrelation zwischen Geno- und Phänotyp, eine Auffassung, in der gesellschaftliche Mechanismen äußerst selten auftauchen. Somit kann dafür plädiert werden, die Frage nach »Rasse« statt den lebenswissenschaftlichen Disziplinen doch lieber der Postcolonial Theory zu überlassen.