Tor oder kein Tor?

Die britische Premier League wird aktiv und fordert von der Fifa die Einführung des Videobeweises. von christian helms

Für Adrian Boothroyd, den Trainer des englischen Fußball-Erstligisten Watford FC, war der Schuldige an der Niederlage seines Teams in Portsmouth schnell gefunden. »Diesen Mann muss man an den Pranger stellen und eine Woche lang mit verfaulten Tomaten bewerfen«, wetterte er ungehalten gegen den Schiedsrichter Christopher Foy, der die Partie zwei Minuten vor dem Schlusspfiff mit einem umstrittenen Strafstoß zugunsten der Gastgeber entschieden hatte.

Während Boothroyd sich bereits mit reichlich gammligem Gemüse bewaffnet über den Marktplatz von Watford schlendern sah, um dort seinen Frust am gefesselten Unpar­teiischen zu entladen, wurden in den ­Fernsehstudios fleißig die Bänder gesichtet. Es folgte das übliche Procedere: Eine Expertenrunde bemühte sämtliche Perspek­tiven, begutachtete die folgenreiche Szene in allen denkbaren Bandlaufgeschwindigkeiten und verkündete schließlich ein Ergebnis. Der Pfiff war vertretbar.

Eine Geschichte, die im Grunde nicht weiter erzählenswert wäre, trägt sie sich doch so oder ähnlich an fast jedem Spieltag jeder größeren Fußball-Liga zu. Unglücklicherweise aber brachte diese 13. Runde der Premier League eine ganze Reihe dieser strittigen Situationen hervor. Darunter leider auch einige, die von den Schiedsrichtern nicht richtig beurteilt wurden. Im Mutterland des Fußballs überlegte man anschließend fieberhaft, ob es nicht eine zeitgemäße Alternative zu den von Booth­royd vorgeschlagenen Maßnahmen gibt – und verlangt nun nach der Einführung des Videobeweises.

»Wenn wichtige Entscheidungen auf höchstem Niveau Auswirkungen auf Vereine, Trainer und Spieler haben, dann muss was getan werden«, plädier­te beispielsweise Blackburns Coach Mark Hughes für den Einsatz von Fernsehbildern. Auch sein Berufskollege Arsène Wenger, Jens Lehmanns Chef beim FC Arsenal, stimmte ein: »Wir brauchen den Videobeweis, denn jeder Fußballfan will Gerechtig­keit. Warum sollen wir uns der Technologie verwei­gern, wenn es eine Lösung gibt? Wir beleuchten ein Spielfeld bei Abendspielen ja auch nicht mehr mit Fackeln.« Die Trainer hätten doch mittlerweile auch Zugang zu den Fernsehbildern und prüften sofort, ob eine Entscheidung richtig sei oder nicht. Es sei geradezu absurd, dass ausgerechnet der Schiedsrich­ter diese Möglichkeit nicht nutzen dürfe.

Dan Johnson, Sprecher der obersten englischen Spielklasse, kündigte nun an: »Wir wollen eine Debatte darüber, an welchen Stellen Videotechnologie sinnvoll eingesetzt werden kann.« Die Premier League wird daher einen entsprechenden Antrag einreichen, Kameras künftig zumindest bei der Entscheidung »Tor oder nicht Tor« einsetzen zu dürfen, darüber hinaus aber auch als Entscheidungshilfe bei allen anderen strittigen Szenen auf dem Spielfeld. Doch ist dieses Gesuch wirklich durchdacht? Und gibt es ernsthafte Chancen dafür, dass man ihm in näherer Zukunft nachkommen wird?

»Solange ich Fifa-Präsident bin, wird es keinen Videobeweis geben«, wiederholt Sepp Blatter zu diesem Thema gern. »Das Spiel muss sein menschliches Gesicht behalten, und dazu gehören eben auch Fehler«, meint der Schweizer, »wenn der Fußball wissenschaftlich wird, verliert er seine Faszination.« Dass der Weltverband modernen Hilfsmitteln allerdings nicht grundsätzlich mit Ablehnung begegnet, zeigten bereits die Versuche mit einem Chip im Ball bei der U-17-Weltmeisterschaft im September 2005 in Peru.

Damals hatte das vom Erlanger Fraunhofer-Institut und der Firma Cairos Technologies entwickelte System, mit dem die Position des Balls auf dem Spielfeld jederzeit mittels Hochfrequenz-Signalen zentimetergenau zu bestimmen sein soll, die Erwartungen noch nicht ganz erfüllt. »Der Test war nicht schlecht, aber eben auch nicht wasserdicht. Deshalb mussten wir uns gegen die Einführung entscheiden, alles andere wäre unverantwortlich gewesen«, sagt Fifa-Kommunikationsdirektor Markus Sieg­ler.

Nun ist es allerdings nicht Sepp Blatter, der als »menschliches Gesicht des Fußballs« höchstpersönlich über dessen Regelwerk wacht, sondern das International Football Association Board. In diesem Gremium sitzen acht Mitglieder – vier von der Fifa sowie traditionell je ein Vertreter aus England, Schottland, Wales und Nordirland. Für jede noch so kleine Modifikation sind dabei mindestens sechs Stimmen erforderlich. Diese »Gralshüter der Fußballregeln« werden auf ihrer nächsten Sitzung im Januar 2007 auch den Antrag der Premier League behandeln – und ablehnen.

Sie beschäftigen sich nämlich nicht zum ers­ten Mal mit diesem Thema und haben die For­derungen nach der Einführung des Video­beweises stets vehement zurückgewiesen. We­gen der dafür notwendigen Unterbrechungen würde die Natur des Spiels verändert, lautet die wichtigste Argumentation des International Boards.

Darin besteht auch der große Unterschied zum Chip-System, an dem weiterhin gearbeitet wird und das, sobald technisch ausgereift, gute Chancen auf eine Einführung hat. Augenblicklich erhält hierbei der Schiedsrichter ein Signal, sobald der Ball die Torlinie überschritten hat – schneller, als jemals ein Assistent seine Fahne heben wird, und zuverlässiger, als jemals ein Assistent ein etwa 30 Meter entferntes Ereignis wird beurteilen können. Die »englische Lösung«, der Rückgriff aufs Fernsehbild, erfordert dagegen zwangsläufig ein mensch­liches Auge, das das vorliegende Bildmaterial noch interpretieren muss. Dazu wäre wiederum eine Unterbrechung unumgänglich. Und genau da fan­gen die Probleme an.

Das Berliner Olympiastadion, 9. Juli 2006: Nach nicht einmal sieben Minuten des WM-Endspiels schlenzt Zinédine Zidane den Ball vom Elfmeter­punkt an die Unterkante der Torlatte, von dort springt er wenige Zentimeter hinter die Torlinie, dann zurück ins Feld. So weit bekannt. Doch wäh­rend in der tatsächlichen Geschichte der aufmerk­same Schiedsrichterassistent sofort den korrekt erzielten Treffer des Franzosen anzeigte, stelle man sich vor, er hätte dies nicht getan. Stattdessen läuft das Spiel weiter, Fabio Grosso schnappt sich den Ball und schlägt diesen nach vorn zu Luca Toni, der sich nicht von den Spiegelungen auf der Glatze des französischen Torwarts irritieren lässt und rechts unten einschiebt. 1:0 für Italien.

Und nun? Sicher, zunächst wäre Zizou wahrscheinlich derart wütend geworden, dass mindestens drei Italiener, ohne auch nur ein einziges Wort über seine Schwester verloren zu haben, mit Schmerzen im Brustbereich am Mittelkreis lägen. Davon abgesehen würde aber auch der Schiedsrichter die Unterbrechung nutzen, um noch einmal zu kontrollieren, ob der Elfmeter nicht doch die Torlinie überquert hatte. Siehe da: 1:0 für Frank­reich, da alle Ereignisse nach der Fehlentscheidung nichtig sind? Oder gar 1:1, weil es unbillig wäre, ein regulär erzieltes Tor wieder abzuerkennen? Oder hätte Schiedsrichter Elizondo bereits den Konter der Italiener abpfeifen müssen, um zum Bildschirm zu eilen? Nach eigenem Ermessen oder auf Geheiß der Franzosen?

Schon der Fall »Tor oder nicht Tor« ist also nicht leicht zu lösen; ungleich komplizierter wird es, versucht man, umstrittene Abseitsstellungen, Foul- oder Handspiele mit Hilfe der Kamera aufzulösen. Dann doch lieber von Zeit zu Zeit mit einer kolossalen Fehlentscheidung leben. Das funktioniert. Den sowjetischen Linienrichter, der das WM-Finale 1966 entschied, hat in England schließlich auch niemand mit verfaulten Tomaten beworfen.