»Das ist hier kein Hotel«

Auch nach einem mehrwöchigen Streik der Flüchtlinge in der Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde Blankenburg sind die Lebensbedingungen für jeden Einzelnen eine
große Belastung. von tatjana schütz (text) und mark mühlhaus (fotos)

Von Oldenburg nach Blankenburg ist es nicht weit. Sechs Kilometer Landstra­ße, mit dem Auto dauert das nicht einmal zehn Minuten. Eine trostlose Strecke zwar, besonders im Winter. Rechts und links der Straße abgeerntete Stoppelfelder, so weit das Auge reicht. Nichts stört das winterliche Pausenbild aus Niedersachsen, bis ein paar dunkle Gestalten am Straßenrand auftauchen, die zu Fuß Richtung Oldenburg marschieren.

Ein Schild deutet in eine Seitenstraße: »Blan­kenburg«. Der Parkplatz vor dem Gelände des ehemaligen Klosters ist leer, durch das Gebüsch sind einige Häuser zu erkennen. Ein Mann kommt langsam auf den Parkplatz zu. Es ist Paul Inoni, dessen Gesicht unter der Kapuze seiner dicken schwarzen Winterjacke fast vollkommen verschwindet. Er ist einer der Bewohner Blankenburgs, die Ende des vergan­bedingungen in der Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde (ZAAB) protestierten.

Auf dem Gelände wurde im Jahr 1991 ein Aufnahmelager für Flüchtlinge eingerichtet. Als im Folgejahr wegen weitreichender Einschränkungen im Asylrecht die Bewerberzahlen zurückgingen, waren die Kapazitäten nicht mehr ausgelastet und Teile der Einrichtung wur­den zusätzlich zur Sammel- und »Ausreiseunterkunft« erklärt. Infolgedessen verbringen viele der Flüchtlinge hier häufig mehrere Jahre, obwohl sie eigentlich nach einer »verwaltungstechnisch« notwendigen Zeit von ein paar Monaten in dezentralen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden müssten. Insgesamt leben in Blankenburg 520 Menschen aus 30 Nationen.

Riesig und unüberschaubar wirkt das Gelände, auf dessen vier Hektar großer Fläche insgesamt 24 meist einstöckige Häuser verteilt sind. Die Gebäude liegen entlang einer kleinen Straße, links davon plätschert eine Fontäne auf einen Teich. Männer in grünen und blauen Arbeitsanzügen kehren Laub oder hämmern an den Häusern herum. Frauen schieben Kinderwagen auf der Straße hin und her. Inoni bleibt immer wieder stehen und wechselt ein paar Worte, bis er eines der Gebäude betritt. Die Glastüren erinnern an eine Turnhalle, der dahinter liegende Gang eher an ein Krankenhaus. Der farblose Steinboden kontrastiert mit den blauen Stahltüren.

Inoni folgt dem Flur bis zu dessen Ende und betritt das Zimmer, das er mit drei anderen Flüchtlingen bewohnt. Der Raum ist von vier in einer Reihe stehenden Betten schon fast ausgefüllt. »Das waren mal Etagen­betten, aber so schlafen wir besser«, sagt Inoni. Er zieht seine Jacke aus und setzt sich. Ein Tisch, vier Stühle, die Metallschränke sind etwas von der Wand abgerückt, so dass ein schmaler Gang entsteht. »Für die Privatsphäre«, sagt er ganz nebenbei und beginnt zu erzählen.

In seiner Heimat war Inoni für den »Nationalrat Südkameruns« tätig. Wegen seiner politischen Aktivitäten saß er zwei Mal im Gefängnis, dann half ihm der Anwalt seines Vaters, nach Europa zu kommen. »Ich habe gehofft, hier Freiheit zu finden. Aber jetzt ist alles ganz anders.« Der 24jährige kam vor zwei Jahren nach Deutsch­land. Er landete auf dem Flughafen in Berlin, sein Weg nach Blankenburg führte ihn über Eisenhüttenstadt. »Mein Kontaktmann setz­te mich am Bahnhof ab, drückte mir zehn Euro in die Hand und meinte: ›Geh zu einem Taxifahrer und sag Asyl.‹ Ein anderes deutsches Wort kannte ich nicht.« Inoni hätte seine Situation gerne besser erklärt. Der Taxi­fahrer verstand trotzdem und brachte ihn ins Aufnahme­lager Eisenhüttenstadt. Die Ankunft dort war für Inoni traumatisch. »Ich war vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Kamerun geflohen. Als ich durch das Stahltor des Lagers in Eisenhüttenstadt ging, hatte ich Angst, nie wieder herauszukommen.« Dann setzte man ihn dort allerdings schneller vor die Tür, als ihm lieb war. Nachdem man sein Herkunftsland ermittelt hatte, lernte er sein zweites deutsches Wort: »Oldenburg«. Da solle er hinfahren, die seien für ihn zuständig.

Die Verantwortlichkeit der Bundesländer legt der so genannte Königsteiner Schlüssel fest. Die Quoten für die Verteilung von Asyl­bewerbern werden jedes Jahr neu berechnet. Wenn ein Asylbewerber nicht in der für ihn zuständigen »Erstaufnahmeeinrichtung« landet, muss er sich dorthin begeben, um seinen Antrag stellen zu können. Inoni wur­de auf die 520 Kilometer lange Reise geschickt. Geld für ein »Asyl«-Taxi hatte er nicht mehr, nur Tickets für die öffentlichen Verkehrsmittel, die man ihm mit auf den Weg gegeben hatte. »Ich habe Leute auf Englisch angesprochen und sie gebeten, mir zu helfen, aber sie wandten sich einfach ab«, sagt er. Es dauerte Stunden, bis er wieder am Bahnhof ankam, wo ihn ein junges Mädchen schließ­lich in den richtigen Zug setzte. Inoni empfand die Behandlung nach seiner Ankunft in Deutschland als eine Zumutung: »Ich hatte keine Ahnung, ob ich jemals in Oldenburg ankommen würde.«

Herbert Jelit, Referent des niedersächsischen Innenministeriums und zuständig für die ZAAB Blankenburg, hält diese Praxis für unproblematisch: »Soziologisch betrachtet muss festgestellt werden, dass die Menschen, die Deutschland erreichen, nicht immer zu den unterprivilegierten ihrer Landsleute gehören. Sie haben durchaus die Kompetenz, sich hier zurechtzufinden. Deswegen ist es zumutbar, sie im Rahmen des Verteilungsverfahrens unbegleitet in ein anderes Bundesland zu schicken.«

Inoni erreichte Blankenburg erst nach zwölf Stunden. Das war vor zwei Jahren, seitdem erscheint ihm jeder Tag wie der andere und das Lager wie eine in sich geschlossene Welt. »Wir bekommen hier drei Mal täglich Essen in der Kantine, und auch für andere lebensnotwendige Dinge ist gesorgt. Aber nach all der Zeit möchte ich mal wieder selbst entscheiden, was ich esse. Hier kann ich nur herumsitzen und abwarten«, erzählt er. Der Streik im vorigen Jahr bot ihm das erste Mal die Möglichkeit, sich für seine Rechte einzusetzen und Kontakte zu Deutschen zu knüpfen. Erst beim Streik habe er gelernt, »dass nicht alle Deutschen Rassisten sind«.

Inoni empfindet die Enge des Zimmers als belastend. Er habe schon oft gefragt, ob er nicht umziehen dürfe. »Dann sagen sie, das sei hier kein Hotel, und wenn es mir hier nicht gefalle, könne ich ja zurück nach Hause gehen.« Besonders schlimm sei auch die Isolation im Lager: »Bis zum Streik hatte ich nichts mit den Leuten draußen zu tun. Wenn ich in Olden­burg sage, dass ich in der ZAAB wohne, werde ich immer noch sofort in eine Schublade gesteckt: Dieb, jedenfalls ganz sicher Krimineller.«

Zurück auf der Straße, führt der Weg zum nächsten Haus an einer Bushaltestelle vorbei. Zehn Leute stehen um den braunen Schuppen herum und warten auf die Linie 316. Bisher fuhren zwei regionale Unternehmen 14 Mal am Tag die ZAAB Blankenburg an. Ausgerech­net am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, stellte die Weser-Ems-Bus GmbH den Verkehr ein. Helmut Fokkena, seit drei Jahren Regionalleiter des Unternehmens für Oldenburg, erklärt, dass bei der Entscheidung wirtschaftliche Gründe eine Rolle gespielt hätten. Die Buslinie sei ohnehin schon eine der am wenigsten befahrenen in diesem Raum gewesen, und nun habe die Deutsche Bahn auch noch ihr Angebot erweitert, so dass mit weiteren Einbußen zu rechnen gewesen sei.

»Ein anderer wichtiger Grund war jedoch die Sicherheit unserer Mitarbeiter«, betont Fokkena. Es sei kein Tag ohne »Ärger« auf dieser Strecke vergangen, den einige Bewohner Blankenburgs ausgelöst hätten. »Unsere Fahrer wur­den bedroht, ausgeraubt, bespuckt, beschimpft und geschlagen.« Auch diese Zustände hätten die Entscheidung beeinflusst. Michael Emscher­mann, Geschäftsführer der Verkehr und Wasser GmbH, die ein Drittel der ursprünglichen Verbindungen aufrechterhalten wird, kündigte an, aus den Erfahrungen der Kollegen Konsequenzen zu ziehen: »Wir werden die Linie 316 intensiv beobachten und Begleitpersonal einsetzen. Sollte es weiterhin Probleme geben, müssen wir überlegen, ob die Linie aufrechterhalten werden kann.«

Birgit Behrensen hält diese Entwicklung für problematisch: »Durch die Einschränkung des Busverkehrs in diesen ländlichen Gebieten wird die Distanz zwischen Innen- und Außenwelt generell vergrößert.« In einer wissenschaft­lichen Studie wies sie die negativen Folgen zentraler Unterbringung auf die Gesundheit von Flüchtlingen nach. Über einen Zeitraum von zwei Jahren befragte sie unter anderem Betrof­fene in der Region. Neben der Gesundheitsversorgung wurden die Lebensbedingungen in die Analyse mit einbezogen. »Die Handlungs­möglichkeiten der Flüchtlinge in zentralen Einrichtungen sind stark eingeschränkt. Sie können sich nicht in ein normales Alltagsleben integrieren«, sagt sie. »Als Folge der eingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bauen die Menschen Fähigkeiten ab, die sie sowohl benötigen, wenn sie nach einem erfolgreichen Asylverfahren in Deutschland verbleiben, als auch wenn sie in ihre Heimatländer zurückkehren. Nicht zuletzt entstehen dadurch Kosten, welche die Aufnahmegesellschaften zu tragen haben.«

Der zuständige Referent Jelit hingegen erkennt in dem Konzept der zentralen Unterbringung keine ausgrenzenden Tendenzen: »Die Flüchtlinge in Blankenburg sind in einem für Niedersachsen typischen Umfeld untergebracht. Viele Menschen hier in der Umgebung leben auf Liegenschaften, die ohne eine direkte Nachbarschaft und Verkehrsanbindung auskommen müssen.«

Im nächsten Haus ist das Zimmer der Familie al-Saffar aus dem Irak. Raja al-Saffar, die in wenigen Tagen ihr zweites Kind erwartet, bindet sich schnell ein Kopftuch um. Wegen der Gäste. Neben der Tür stehen aufgereiht ein paar Schuhe. Ob die Schuhe ausgezogen werden sollen? Herr al-Saffar winkt energisch ab und bietet seinen Stuhl an. Links in der Ecke steht ein Doppelbett, daneben brummt leise ein Fernseher. Der zehn Monate alte Sohn krabbelt zwischen den Tischbeinen umher und scheint sich als einziger in der Umgebung so richtig wohl zu fühlen.

»Wir leben seit vier Monaten in diesem Lager. Mein Vater und mein Bruder wurden getötet. Nachdem ich selbst zwei Mal fast umgekommen wäre, sind wir geflohen«, sagt Herr al-Saffar. Der Asylantrag der Familie wurde vor ein paar Tagen abgelehnt, inzwischen hat sie Rechtsmittel gegen den Bescheid eingelegt. »Die Begründung für die Ablehnung war, dass wir an einen sicheren Ort im Irak ausweichen könnten«, sagt al-Saffar und wird immer lauter: »Sehen die Leute hier denn keine Nachrichten? Kennen Sie einen sicheren Ort im Irak?« Die Familie fühlt sich unwohl in Deutschland. »Wenn wir auf den Markt gehen, sehen uns die Leute an, als seien wir Diebe. Wir möchten doch nur wie Men­schen behandelt werden.« Besonders unverständlich erscheint es Herrn al-Saffar, dass eine seiner Meinung nach dringend erforderliche Impfung des Sohnes bisher nicht vorgenommen wur­de.

Immer wieder kritisieren die Flücht­linge die medizinische Versorgung in Blankenburg. Es heißt, es werde ausschließlich Paracetamol verabreicht, egal welcher Art die Erkrankung sei. Behrensen kennt aus ihren Befragungen die Probleme, die häufig wegen der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen entstehen. »Parace­ta­mol ist zu einem geflügelten Wort geworden. Es hilft zwar bei Schmerzen, aber die Flüchtlinge haben bei der gleich bleibenden Verordnung das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.« Neben der schwierigen psychosozialen Situation, die Ur­sache für viele Beschwerden ist, sei die Sprach­barriere beim Arztbesuch oft das Hauptproblem.

Christian Lüttgau, der Leiter der ZAAB, widerspricht den Vorwürfen: »Es ist nicht richtig, dass hier ausschließlich mit Parace­tamol behandelt wird.« Entsprechend dem Asylbewerberleistungsgesetz würden die zur Behandlung erforderlichen Leistungen gewährt. »Dies schließt nicht aus, dass in aus medizinischer Sicht geeigneten Fällen auch Paracetamol verabreicht wird. Das ist aber nicht der Regelfall.« Impfungen gehörten eindeutig zu den gesetzlichen Leistungen und würden daher den Bewohnern in Blankenburg auch angeboten und durchgeführt. Herrn al-Saffar konnte das wohl keiner erklären. Auf Nachfrage bei den zuständigen Ärzten heißt es, dass der Sohn von Herrn al-Saffar bereits umfassend geimpft sei. Lediglich für eine Behandlung habe das Kind noch nicht das erforderliche Alter von einem Jahr erreicht. Dies sei mit dem Vater besprochen worden. Wegen seiner guten Englischkenntnisse sei ein sprachliches Missverständnis auszuschließen.

Mitte Dezember tagte das erste Mal der Runde Tisch, der nach dem Streik beschlossen wurde. Auch Paul Inoni hat daran teilgenommen, damit sich in Blan­kenburg »endlich etwas verändert«. Doch daran, dass sein Asylantrag trotz des verfassungsmäßig garantierten Schutzes vor politischer Verfolgung abgelehnt wurde, kann er nichts ändern. Zu Hause wartet wegen seiner Aktivitäten das Gefängnis auf ihn. Ein Gefängnis, in dem einige seiner Freun­de bereits starben, sagt er. Auch Menschenrechtsorganisationen berichten von einer hohen Sterblichkeitsrate in Kameruner Gefängnissen, die auf die schlechten Haftbedingungen zurückzuführen ist.

Wenn die Angst zu groß wird, bleibt Inoni über Nacht in Oldenburg, um sich so der drohenden Abschiebung mög­licherweise entziehen zu können. Hat er Wünsche für die Zukunft? »Wün­schen kann ich mir im Moment gar nichts. Ich denke nur an meinen Aufenthaltsstatus hier. Ich habe keine Zukunft, deswegen denke ich auch nicht über sie nach.«

Blankenburg ist von Oldenburg weit entfernt. Sechs Kilometer Landstraße, zu Fuß dauert das eine halbe Ewigkeit.